Antiepileptische Therapie - Teil 1

Epilepsien und zerebrale  Anfälle sind Manifestationen sehr unterschiedlicher Krankheitszustände des Gehirnes, sie zählen zu den häufigsten chronischen Erkrankungen des ZNS . Die Prävalenz (= Zahl der Erkrankten in einer Population zum Zeitpunkt der Untersuchung) für Epilepsien beträgt weltweit zwischen 3 und 6/1000. Die Inzidenz (= Zahl der Personen bei denen eine Epilepsie innerhalb eines Jahres neu auftritt) für Epilepsien beträgt 30-50/100.000.
Epilepsien und Epilepsiesyndrome können sich in jedem Alter manifestieren. Die Hälfte beginnt bereits vor dem 10. Lebensjahr und 2/3 vor dem 20. Lebensjahr. Der epileptische Anfall – meistens als Fieberkrampf – ist der häufigste Notfall im Kindesalter und einer der häufigsten Gründe für eine akute Notfalleinweisung eines Kindes in eine Kinderklinik. Im Gegensatz zum einzelnen epileptischen Anfall, auch als Gelegenheitsanfall klassifiziert z. B. im Rahmen akuter zerebraler Erkrankungen oder hochfieberhafter Infekte, liegt eine Epilepsie vor, wenn wiederholt ohne Auslöser epileptische Anfälle auftreten. Dabei handelt es sich um ein klar umrissenes Krankheitsbild oder epileptisches Syndrom, das durch Ätiologie , charakteristische Anfälle mit einem richtungsweisenden EEG-Befund, typischem Verlauf und eine mehr oder weniger gut einschätzbare Prognose gekennzeichnet ist.


Bei seltenen Anfällen mit geringem Wiederholungsrisiko oder der Möglichkeit, positiven Einfluss auf die Anfallsfrequenz z. B. durch eine regelmäßige Lebensführung (Meiden anfallsauslösender Umstände wie Schlafentzug, Genussdrogen, etc.) zu nehmen, kann versucht werden, auf die Aufnahme einer antiepileptischen Behandlung zu verzichten. Eine derartige Entscheidung muss immer mit den Eltern und dem Patienten in Abhängigkeit des Lebensalters gestellt werden, da in besonderen Lebenssituationen (z. B. Beginn einer Ausbildung, Erwerb des Führerscheines) auch bereits nach dem ersten Anfall die Entscheidung zur Aufnahme einer Langzeitbehandlung fallen kann, um das Risiko eines weiteren Anfalls und damit die Lebensqualität negativ zu beeinflussen.


Neben der medikamentösen Therapie ist eine umfassende Aufklärung und Beratung aller Beteiligten – Patient, Eltern, Betreuer – über sämtliche Aspekte der Epilepsie und deren Behandlung unbedingt notwendig. Dazu zählt auch die Notwendigkeit, bei richtiger Einordnung zu einem Epilepsiesyndrom dieses zu benennen und auch einen weniger günstigen Verlauf deutlich zu machen, um falschen Erwartungen vorzubeugen. Offenheit bewirkt eine gute Compliance!!


Neuropsychologische Untersuchungen können dazu beitragen, ein Leistungsprofil des Patienten zu erstellen, um z. B. eine schulische Überforderung und mögliche negative Medikamentenwirkungen frühzeitig zu erkennen und ggf. entsprechend gegenzusteuern. Die Beteiligten sollten angehalten werden, einen genauen Anfallskalender zu führen, der die ärztliche Betreuung erleichtern kann.


Epilepsie-Patienten sollen und können ein normales Leben führen, dazu bedarf es häufig der besonderen Aufklärung der Eltern, um ein „Überbehüten“ des Kindes und damit verbundene unnötige Restriktionen zu vermeiden. Dieser Prozess der Einsicht ist für Eltern oft schwierig, gerade nach Stellung der Diagnose „Epilepsie“. Denn trotz aufklärender Maßnahmen, trotz der Häufigkeit epileptischer Anfälle im Kindesalter – 60-50 % der Epilepsien manifestieren sich im Kindesalter – und trotz der mittlerweile guten Heilungschancen, bestehen immer noch viele Vorurteile in der Bevölkerung gegenüber der Krankheit „Epilepsie“, so dass schon daher die Patienten häufig in eine Außenseiterrolle gedrängt werden mit all ihren negativen Folgen.


Behandlungsziele einer Epilepsie im Kindesalter:

 

  • Anfallsfreiheit durch eine medikamentöse antiepileptische Behandlung ohne bzw. mit nur geringen Nebenwirkungen
  • eine unbeeinträchtigte Entwicklung des Kindes entsprechend seinen Fähigkeiten und seiner Begabung mit ungestörter schulischer Laufbahn
  • Lebensbedingungen, die dem jeweiligen Kind gerecht werden

Akuttherapie des epileptischen Anfalles
Ein Großteil der epileptischen Anfälle sistiert spontan innerhalb von 2-3 Minuten. Anfälle, die länger als 5 Minuten andauern, bergen ein hohes Risiko, nicht mehr spontan zu enden und sollten tunlichst medikamentös unterbrochen werden.


In Deutschland stehen zur Akutunterbrechung – auch außerhalb der Klinik – mit nicht intravenös zu verabreichenden Medikamenten rektales Diazepam und bukkales Midazolam (in die Wangentasche) zur Verfügung (Ende 2014 wieder verfügbar laut Info des Herstellers).


Sowohl rektal als auch bukkal erfolgt eine schnelle Resorption der einzelnen Substanzen. Als Einzeldosen für die rektale Behandlung mit flüssigem Diazepam gelten für Kinder 0,5 mg/kg KG (Körpergewicht), für Jugendliche und Erwachsene 10-30 mg als Einzeldosis. Für bukkales Midazolam in flüssiger Form gelten 2,5 mg für das Säuglingsalter, 5 mg für Kleinkinder, 7,5 mg für 10-14-jährige und 10 mg für Jugendliche ab dem 15. Lebensjahr. Zugelassen ist bukkales Midazolam für Säuglinge ab 3 Monaten. Schwerwiegende Nebenwirkungen – wie Atemdepression – sind außerordentlich selten. Gerade die bukkale Applikation ist sozial sehr gut verträglich und wird von Betreuern und Lehrern der Kinder sehr gut akzeptiert. Falls der Anfall nach 5-10 Minuten nicht sistiert, kann die gleiche Dosis der gewählten Substanz erneut verabreicht werden. Für Jugendliche älter als 18 Jahre ist bukkales Midazolam nicht zugelassen, trotzdem sehr gut wirksam.


Bukkales Lorazepam kommt als Standardtherapie für die akute Anfalls- und Statusunterbrechung nicht in Betracht. Die Resorption von bukkal verabreichtem Lorazepam erfolgt vorwiegend nicht über die Mundschleimhaut, sondern mit dem Speichel im Gastrointestinaltrakt und somit verzögertem Wirkungseinsatz erst nach 138 Minuten. Jugendliche berichten zudem häufig über einen langen „Hang-over-Effekt“.


Tabelle 1: Anfallsunterbrechung durch rektale und bukkale Applikation

Diazepam rektal

(Diazepam®)

Midazolam buccal

(Buccolam®)

Säuglinge < 4 Monate

5 mg

Säuglinge 3 - 6 Mon.

2, 5 mg

Kleinkinder > 15 kg KG

10 mg

6 Monate - 1 Jahr

2, 5 mg

Schulkinder

10-20 mg

1 - < 5 Jahre

5 mg

Erwachsene

20-30 mg

5 - < 10 Jahre

7,5 mg

 

 

10 - < 18 Jahre

10 mg

 

Wenn ein länger anhaltender (über 5 Minuten) tonisch-klonischer Anfall sich zu einem konvulsiven Status epilepticus ausdehnt, besteht Lebensgefahr. Ausschlaggebend sind eine konsequente Therapie und die Beachtung eines Zeitplans mit rechtzeitigem Einsatz einer Barbituratnarkose und Neurointensivtherapie, um die Entwicklung eines malignen Hirnödems und bleibende Hirnschäden zu vermeiden. Am sichersten ist ein epileptischer Anfall durch die intravenöse Gabe von antikonvulsiv wirksamen Substanzen zu unterbrechen. Auch hier beginnt die Therapie mit Benzodiazepinen, wobei Lorazepam oder Clonazepam der Vorzug vor Diazepam zu geben ist, da ihre Plasma-Verweildauer und Wirkdauer länger anhält. Eine mehrfach wiederholte Gabe von Benzodiazepinen ist aber nicht nur wegen der zu befürchtenden Atemdepression zu unterlassen, sondern auch wegen des zu erwartenden Wirkungsverlustes.


Mit Benzodiazepinen i. v. (intravenös) kann der epileptische Anfall noch schneller unterbrochen werden (Diazepam, Lorazepam, Clonazepam) als rektal oder bukkal, erfordert aber eine ärztliche Betreuung und ist meistens mit einem Klinikaufenthalt verbunden: Benzodiazepine passieren aufgrund ihrer fettlöslichen Eigenschaften schnell die Bluthirnschranke mit kurzer Wirkung von bis zu 30 Minuten. Zur Vermeidung einer Atemdepressionen muss eine langsame intravenöse Gabe erfolgen: Diazepam 1 mg/Min., Clonazepam 0,1 mg/Min., Lorazepam 1 mg/Min (siehe Tabelle 2).


Tabelle 2: intravenöse Dosierung zur Unterbrechung eines epileptischen Anfalls

 

Diazepam i.v.

Lorazepam i.v.

Clonazepam i.v.

Säuglinge

0,3-0,5 mg/kg KG

 

0,01-0,07 mg/kg KG

Kleinkinder

0,2-0,4 mg/kg KG

0,1. mg/kg KG

0,01-0,05 mg/kg KG

Schulkinder

0,2-0,3 mg/kg KG

0,1. mg/kg KG - 4 mg

0,01-0,03 mg/kg KG

Jugendliche

0,2-0,3 mg/kg KG

0,1. mg/kg KG - 4 mg

0,01-0,03 mg/kg KG

 

Als weitere intravenös zu verabreichende Medikamente stehen Valproat, Levetiracetam und Lacosamid zur Verfügung; trotz fehlender Zulassung werden diese Substanzen im Status epilepticus angewandt.


Entscheidend ist die rechtzeitige und ausreichend hohe Dosierung der anfallsunterbrechenden Medikation, da es bereits nach kurzer Zeit des epileptischen Anfalls zu einer Veränderung gabaerger Rezeptoren an der Nervenzelle kommt und Benzodiazepine dann weniger gut wirksam sind.

 

Kontakt:

Prof. Dr. Gerhard Kurlemann
Dr. Barbara Fiedler
Universitätsklinikum Münster, Klinik für Kinder und Jugendmedizin
Allgemeine Kinderheilkunde, Bereich Neuropädiatrie
Albert-Schweitzer Campus I, Gebäude A1
Gerhard.Kurlemann(at)ukmuenster.de
Tel.: 0251 8347762
www.klinikum.uni-muenster.de

 

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