Dravet Syndrom

Prof. Dr. med. Ulrich Brandl
Prof. Dr. med. Ulrich Brandl, Universitätsklinikum

Das Dravet-Syndrom ist ein 1978 erstmals von Charlotte Dravet als „Schwere myoklonische Epilepsie des Kleinkindesalters, SMEI“ beschriebenes Krankheitsbild mit (oft fieberinduzierten) großen Anfällen, Myoklonien und einer Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung der Kinder. Da das Wissen um Mechanismus, Genetik und Behandlung dieser Erkrankung in den letzten Jahren mehr zugenommen hat als bei den meisten anderen Epilepsieformen, ist diese trotz des relativ seltenen Auftretens (1 Erkrankungsfall auf 30.000-40.000 Kinder) ein aktuell viel diskutiertes Thema.

Die typischen Symptome sind altersabhängig, der Beginn der Erkrankung liegt meistens im ersten Lebensjahr:

1. Lebensjahr:

Die Erkrankung beginnt meistens um 5-7 Monate herum mit heftigen - vorwiegend klonischen - Anfällen mit (häufiger) oder ohne (seltener) Fieber. Im Gegensatz zu den harmlosen und häufigen Fierkrämpfen dauern diese Anfälle oft besonders lange (meistens mehr als 20 Minuten) und sind oft nur mit Medikamenten zu stoppen. Der erste Anfall kann nach einer Impfung auftreten - das ist häufig auch der erste Anlass im Leben eines Kindes, Fieber zu bekommen. Dann treten auch große Anfälle ohne Fieber auf. Die Anfälle können auch halb- und wechselseitig sein („alternierendes Hemi-Grand mal“). Bis zum Auftreten der Anfälle ist die Entwicklung der Kinder normal.

2.-5. Lebensjahr:

Im Kleinkindesalter treten meistens myoklonische Anfälle mit einzelnen oder wiederholten Zuckungen an beiden Körperhälften hinzu. Es können auch Absencen auftreten. Manche Kinder haben stundenlange - bis mehrere Tage dauernde Dämmerzustände. Das Problem großer Anfälle, besonders bei Fieber, aber auch durch andere Auslöser (s. u.) bleibt, ein Status epilepticus kann noch auftreten. Vereinzelt kommen auch Herdanfälle und Anfälle mit starken vegetativen Symptomen (Blutdruckanstieg, rotes Gesicht) vor. Auch ein Verlauf mit ausschließlichem Auftreten großer Anfälle („frühkindliche Grand mal Epilepsie“) ist möglich. Meistens zeigt sich in diesem Alter bereits ein Entwicklungsrückstand, oft kombiniert mit einem sehr überaktiven Verhalten.

6.-10. Lebensjahr:

Die Erkrankung stabilisiert, die Anzahl der Anfälle geht zurück, häufig verschwinden die myoklonischen Anfälle ganz. Eine Auslösung von Anfällen bei Anstieg der Körpertemperatur bzw. Aufregung besteht meistens weiter. Im Verhalten werden die meisten Kinder ruhiger, der geistige Entwicklungsrückstand wird deutlicher.

Jugend- bis Erwachsenenalter:

Die Häufigkeit der Anfälle nimmt meistens weiter ab, es besteht aber eine lebenslange Behandlungsbedürftigkeit. Bei etwa 10 % der Patienten scheinen die Anfälle ganz aufzuhören, wobei man berücksichtigen muss, dass heute erwachsene Patienten als Kind nicht nach heutigen Standards behandelt wurden. Oft kommt es im Jugendalter zu einer Verschlechterung der Gehfähigkeit durch Entwicklung eines „Kauergangs“. Dieser entsteht durch eine Mischung spastischer und ataktischer (= Störung des Gleichgewichts) Bewegungsstörungen.

Anfallsauslöser

Eine Besonderheit des Dravet-Syndroms ist, dass, wie bereits erwähnt, viele Anfälle durch bestimmte Situationen ausgelöst werden können. Kinder, bei denen Anfälle durch Lichtreize ausgelöst werden, sind teilweise intensitätsabhängig (Lichtblitze, Flackern), teilweise musterabhängig. Das sind besonders Streifenmuster mit vielen Wiederholungen, wie Jalousien oder auch Rolltreppen. Anstiege der Körpertemperatur betreffen nicht nur Fieber, sondern auch körperliche Anstrengung oder Aufregung. Das können auch positive Aufregungen, wie ein Kindergeburtstag oder ein Besuch der Tante sein. Die Reaktion auf solche Auslöser ist bei verschiedenen Kindern unterschiedlich ausgeprägt und nimmt mit dem Alter langsam ab. Natürlich kommen auch Anfälle ohne erkennbare Auslöser vor.

Entwicklung

 

Die geistige Entwicklung der Kinder ist variabel, meistens deutlich beeinträchtigt, kann aber auch im unteren Normbereich verlaufen. Die Entwicklungsstörung lässt sich nicht durch die Anfälle erklären, daher sollte man als Eltern nicht bei jedem Anfall eine nachhaltige ungünstige Beeinflussung der Entwicklung befürchten. Es gibt allerdings Hinweise, dass sehr lang dauernde Anfälle (Status epilepticus, über 30 Minuten Dauer) einen nachteiligen Effekt haben und daher konsequent behandelt (oder besser verhindert) werden sollten.

Ursachen der Erkrankung

In rund drei Viertel der Patienten finden sich Mutationen (oder andere Veränderungen) im SCN1A-Gen. Dieses Gen wird zum Aufbau von Natriumkanälen an bestimmten Typen von hemmenden Interneuronen benötigt - Nervenzellen, die die Aktivität bestimmter Hirnanteile sinnvoll begrenzen und Anfälle verhindern können. Die von diesem Gen codierten Natriumkanäle sind für die schnelle Weiterleitung von Signalen innerhalb dieser Nervenzellen wichtig, bei der Erkrankung ist ihre Funktion vermindert bzw. sie werden durch weniger effektive Natriumkanäle ersetzt. 

Bei dem verbleibenden Viertel aller Patienten sind in Einzelfällen Mutationen an anderen Genen beschrieben worden, die ebenfalls die Funktion hemmender Interneuronen betreffen. Aufgrund der Ähnlichkeit der Symptome ist anzunehmen, dass auch bei Patienten, die keine der bekannten Mutationen aufweisen, eine Funktionsstörung der Interneuronen vorliegt.

Alter und Auftreten von Symptomen

Diagnosestellung

Die Diagnosestellung erfolgt aus der klinischen Anfallssituation und dem Alter der Patienten beim Auftreten der Erkrankung. Es ist praktisch unmöglich, die Diagnose bereits nach dem ersten Anfall zu stellen, zu diesem Zeitpunkt fehlen noch die meisten entscheidenden Informationen. Das EEG ist anfangs normal, später ist es oft verlangsamt, bei Myoklonien oder Fotosensibilität treten auch „Spitzenpotentiale“ auf, es gibt aber kein typisches EEG-Merkmal, aus dem man die Diagnose direkt ableiten könnte. Das MRT ist ebenfalls nicht richtungsweisend. Eine molekulargenetische Untersuchung kann zur Bestätigung herangezogen werden, ein negativer Befund schließt aber die Erkrankung nicht aus.

Bei Mädchen ist ein von der Symptomatik sehr ähnliches Krankheitsbild beschrieben, das durch eine Mutation des PCDH19 Gens hervorgerufen wird. Diese Mutation ruft bei Jungen keine Erkrankung hervor. Eine Untersuchung wird bei Mädchen mit negativem SCN1A-Befund inzwischen empfohlen.

Ist das Dravet-Syndrom vererbbar?

Die Erkrankung kommt in über 90% der Fälle durch eine spontane Neumutation zustande. Das bedeutet, dass gesunde Eltern diese Erkrankung nicht vererben können, die Mutation ist als zufällig anzusehen und hat nur eine sehr geringe Wiederholungswahrscheinlichkeit. Anders sieht die Situation aus, wenn ein Elternteil selbst an einem Dravet-Syndrom erkrankt ist, dann steigt die Wahrscheinlichkeit der Vererbung auf 50%. Neben dem Dravet-Syndrom gibt es auch harmlosere Mutationen im SCN1A-Gen, die zu Fieberkrämpfen und weiteren Anfällen mit guter Prognose führen können, diese werden viel häufiger weiter vererbt. Auf jeden Fall ist bei einer genetischen Diagnostik eine gute, fachkundige Beratung wichtig.

Behandlung

Die Behandlung der Erkrankung gestaltet sich schwierig, da nur wenige Antiepileptika die Anfälle beim Dravet-Syndrom bessern können. Wichtig war die Erkenntnis, dass viele Antiepileptika, die hauptsächlich oder ausschließlich durch Hemmung von Natriumkanälen wirken, beim Dravet-Syndrom eine Verschlechterung auslösen können. Bewährt haben sich Antiepileptika, die die hemmende Effektivität der Interneuronen verstärken, wie Valproinsäure, Clobazam, Brom, Topiramat oder das neuere Stiripentol. Meistens wird eine Kombinationstherapie von 2-3 Medikamenten benötigt. Wichtig ist, sich nicht von jedem Anfall in eine Dosissteigerung hineintreiben zu lassen, eine völlige Anfallsfreiheit ist ohnehin kaum erreichbar und oft steigert man damit nur die Nebenwirkungen. Stellt sich die medikamentöse Therapie als sehr problematisch dar, kann auch eine ketogene Diät versucht werden.


Ebenfalls wichtig ist eine konsequente Behandlung eines Status epilepticus, wobei auch hier oft ein individuell zugeschnittenes Konzept notwendig ist. Ein Medikament zur Erstbehandlung und einen Notfallausweis mit dem für den Patienten bewährten akuten Behandlungskonzept sollte man - insbesondere auf Reisen - immer dabei haben.

Bei Kindern, die sehr empfindlich auf Steigerungen der Körpertemperatur reagieren, sollte man (bei Infekten) großzügig mit Fiebermitteln reagieren. Bei körperlichen Anstrengungen ist ggf. eine Kühlweste hilfreich.

Dravet-Syndrom und Lebenserwartung

Das Dravet-Syndrom ist im Kindes- und Jugendalter mit einer erhöhten Sterblichkeit verbunden. In einer 2005 von Dravet et al. veröffentlichten Studie verstarben rund 17% der Kinder und Jugendlichen, am häufigsten an einem Status epilepticus, an zweiter Stelle stand der plötzliche unerwartete Tod (SUDEP). In neueren Publikationen tritt wegen verbesserter Behandlungsmöglichkeiten des Status epilepticus der SUDEP an die erste Stelle und die Gesamtsterblichkeit ist als geringer einzuschätzen. Bis heute gibt es keine Erklärung, wie diese plötzlichen Todesfälle zustande kommen, noch irgendwelche sinnvollen Empfehlungen, diesen vorzubeugen. Über die durchschnittliche Lebenserwartung bei Erwachsenen gibt es keine Daten, da früher diese Diagnose gar nicht gestellt werden konnte.

Ausblicke

 Da sich durch eine gentechnische Implantation eines Mutierten SCN1A-Gen auch bei der Maus ein ähnliches Krankheitsbild auslösen lässt, steht eine Möglichkeit zur tierexperimentellen Erforschung des Krankheitsbildes und seiner Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung, wie bei kaum einer anderen, natürlich vorkommenden Epilepsieform. Weltweit arbeiten Forschergruppen mit solchen Tiermodellen. Daher ist zu erwarten, dass auch ganz neue Behandlungsmethoden für diese Erkrankung entwickelt werden können, die viel spezifischer und effektiver in das Krankheitsgeschehen eingreifen können als die zur Verfügung stehenden Antiepileptika.

Prof. Dr. med. Ulrich Brandl


Anschrift des Autors:
Prof. Dr. med. Ulrich Brandl
Universitätsklinikum Jena
Abteilung für Neuropädiatrie
07740 Jena