Ist Stress schädlich für Menschen mit Epilepsie?

Dr. Bernd Huber
Epilepsiezentrum Bethel – SB Behindertenhilfe

In Beratungsgesprächen mit Anfallskranken spielt immer wieder das Thema Anfallsauslöser eine wichtige Rolle. Menschen mit Epilepsie, und gerade solche, die nicht oder noch nicht anfallsfrei sind, haben verständlicherweise ein großes Interesse daran Anfälle zu vermeiden. Neben der medizinischen Behandlung durch Medikamente (manchmal auch einer chirurgischen Therapie), die die Anfälle unterdrücken sollen, spielt die Vermeidung von Anfallsauslösern eine wichtige Rolle. Anfallsauslöser sind Umstände oder Verhaltensweisen, die bei einer an Epilepsie erkrankten Person Anfälle hervorrufen können. Die klassischen Anfallsauslöser, auf die in der Fachliteratur immer wieder hingewiesen wird, sind Schlafentzug bzw. Verschiebungen im Schlaf-Wach-Rhythmus sowie übermäßiger Alkoholgenuss.

Interessanterweise unterscheidet sich die Einschätzung von Patienten, welche Faktoren bei ihnen Anfälle auslösen können, deutlich von der Meinung der Fachleute.

In einer im Jahr 2000 in der Zeitschrift Epilepsia veröffentlichten Untersuchung wurden 400 Epilepsiepatienten, sowohl Kinder als auch Erwachsene, nach ihrer Erfahrung mit Anfallsauslösern befragt. Dies wurde in der Form eines standardisierten Interviews durchgeführt: Sie bekamen eine Liste möglicher Anfallsauslöser vorgelegt und sollten ankreuzen, welche sie nach ihrer eigenen Erfahrung für wichtig hielten. 62 % der Befragten gaben an, mindestens einen Anfallsauslöser zu haben. Männer konnten häufiger Anfallsauslöser benennen als Frauen. In der Rangliste der genannten Auslöser standen nun keineswegs Schlafentzug oder Alkohol an erster Stelle, sondern vielmehr Stress. Was immer auch Stress sein mag; wir kommen später noch darauf, dass man unter diesem Begriff sehr Unterschiedliches verstehen kann.


Nicht alle Patienten waren aber gleich stressanfällig. Es gab interessante Unterschiede zwischen verschiedenen Patientengruppen. Patienten mit einer Temporallappenepilepsie (also mit einer Epilepsie, bei der die Anfälle von einem Schläfenlappen ausgehen) gaben am häufigsten Stress als Anfallsauslöser an. Ältere Patienten waren häufiger betroffen als junge Leute, Frauen häufiger als Männer. In der Tabelle findet sich die Häufigkeit der Angaben für bestimmte Teilgruppen, nämlich für Patienten mit idiopathischer generalisierter Epilepsie (einer Gruppe zumeist häufig vorkommender, im allgemeinen gut behandelbare Epilepsien), mit Temporallappenepilepsie und außerdem für Frauen über 12 Jahre (diese Teilgruppe wurde besonders im Hinblick auf die Rolle der Menstruation gesondert untersucht).

 

Tabelle: Anfallsauslöser bei verschiedenen Patientengruppen (Untersuchung von Frucht, Epilepsia 2000)

Zwei Aspekte sollten bei der Lektüre dieser interessanten Arbeit nicht vergessen werden: Die gewählte Methode der Befragung anhand einer Fragebogenliste erfasst recht gut die persönliche Sichtweise der Betroffenen. Allerdings erfolgt keine Überprüfung der gemachten Angaben. Es ist durchaus denkbar, dass manche Betroffene fest davon überzeugt sind, bestimmte Umstände lösten bei ihnen Anfälle aus, dass diese Überzeugung aber einer exakten Überprüfung (z.B. mit Video-EEG) nicht standhält. Das menschliche Kausalitätsbedürfnis (das Bedürfnis, eine Ursache zu finden) führt eben manchmal dazu, dass auch dort Ursachen „gefunden“ werden, wo es gar keine gibt. Zudem enthält die Liste unterschiedlich Kategorien von Anfallsauslösern. Zum einen enthält sie sog. obligate Auslöser; das sind Anfallsauslöser, ohne die der Anfall nicht aufgetreten wäre. Daneben gibt es Auslöser, die eigentlich eher Modulatoren des Auftretens der Anfälle sind, d.h. also Faktoren, die vor allem bestimmen, wann ein Anfall auftritt. Nur wem es gelingt, obligate Auslöser zu vermeiden, kann seine Anfallshäufigkeit vermindern.

Viele Patienten sind also überzeugt, dass Stress ein wichtiger, vielleicht sogar der wichtigste Anfallsauslöser ist. Gibt es wissenschaftliche Untersuchungen, die sich mit dieser Frage befasst haben? Vier sehr unterschiedliche Untersuchungen haben spezielle Stressoren daraufhin untersucht, ob sie bei den Betroffenen zum vermehrten Auftreten von Anfällen geführt haben.

1995 waren Teile der Niederlande, insbesondere die Provinz Gelderland, von einem schweren Hochwasser betroffen. Eine viertel Million Einwohner mussten evakuiert werden. Eine Arbeitsgruppe um Swinkels ging der Frage nach, ob der mit Hochwasser und Evakuierung zweifellos verbundene Stress zu einer Änderung der Anfallsfrequenz führte. Von 117 Patienten aus der betroffenen Region waren 30 bereit, an der Untersuchung teilzunehmen und hatten vor, während und nach der Hochwasserperiode einen Anfallskalender geführt. Die Patienten wurden nach ihrer Selbsteinschätzung gefragt, ob sich in dieser Zeit die Anfallshäufigkeit geändert hatte.

 

Die Selbsteinschätzung wurde mit den Eintragungen in den Anfallskalendern verglichen. Zudem wurden die betroffenen Personen befragt, ob sie das Hochwasser und die Evakuierung als stressig empfunden hatten. Auf diese Weise wollte man unterscheiden zwischen subjektivem Stress (Stress, den die Betroffenen subjektiv empfunden hatten) und objektivem Stress (von dessen Vorhandensein ging man in der gegebenen Situation aus).


Die Ergebnisse: 9 der 30 Patienten hatten eine Änderung der Anfallsfrequenz in der Hochwasserzeit. Davon hatten 8 Personen mehr Anfälle, 1 Person hatte weniger Anfälle. Die subjektive Einschätzung der Befragten hinsichtlich ihrer eigenen Anfallsfrequenz stimmte gut überein mit den Aufzeichnungen in den Anfallskalendern. D.h. die Serlbsteinschätzung hinsichtlich der Anfallsfrequenz war im Allgemeinen realistisch. Wie hatte sich nun der Stress ausgewirkt? Von den 9 Patienten mit veränderter Anfallshäufigkeit hatten 3 subjektiven Stress. Von den 21 Patienten ohne Änderung der Anfallshäufigkeit hatten 8 subjektiven Stress. Daraus konnte man entnehmen, dass der gefühlte Stress kaum Einfluss auf die Anfälle hatte.


Die Autoren kamen zu der Schlussfolgerung, dass nur bei einer Minderheit ein mit Stress einhergehendes Ereignis zu einer Veränderung (meist Zunahme) der Anfallsfrequenz führt. Dabei gab es kaum einen Zusammenhang zwischen dem gefühlten Stress und der Änderung der Anfallsfrequenz.

 

Leider konnte die Untersuchung nicht klären, ob bei der Minderheit, der der Stress etwas ausmacht, der Stress selbst die Änderung der Anfallsfrequenz bedingt, oder ob er sich erst auf dem Umweg über Schlafmangel, möglicherweise vergessene Tabletteneinnahme oder andere Begleitumstände auswirkt.

Mit einem ganz anderen Stressereignis befasste sich die Arbeitsgruppe von Neufeld. Man erinnert sich, dass während des ersten Irakkriegs im Jahr 1991 irakische Scud-Raketen auf Israel abgefeuert wurden. Während bei dem Hochwasser in den Niederlanden jeder Einzelne das auslösende Ereignis konkret vor Augen hatte und von der Evakuierung persönlich betroffen war, war die Bedrohung durch die Scudraketen sehr unbestimmter Art. Zwar wurde eine große Zahl von Raketen abgefeuert, die Treffsicherheit war jedoch sehr gering. Das konkrete Risiko für die israelische Bevölkerung war also nicht groß, dennoch hing es wie ein Damoklesschwert über jedem Einzelnen. Die Forscher befragten 100 Patienten, ob sich ihre Anfallhäufigkeit in dem fraglichen Zeitraum verändert hatte. Leider wurden bei dieser Studie keine schriftlichen Aufzeichnungen zugrunde gelegt. 8 Patienten gaben an, eine Anfallsvermehrung gehabt zu haben. 4 davon hatten die vermehrten Anfälle in direktem Zusammenhang mit Raketenalarm. Die
anderen 4 hatten ihre Anfälle nicht direkt während des Alarms, sondern nur innerhalb der Periode der Bedrohung. Bei diesen 4 waren wahrscheinlich der gestörte Schlaf und die in der Unruhe vergessene Einnahme der Medikamente verantwortlich für die Anfallszunahme. Die Autoren kommen zu der Schlussfolgerung, dass ein bedeutender und sogar lebensbedrohlicher Stressfaktor wie der Raketenbeschuss nur bei einer Minderheit der Betroffenen Anfälle auslöst.

Die dritte Untersuchung (Autoren: Klein und Mitarbeiter) steht in engem Zusammenhang mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. In die Untersuchung einbezogen waren 66 erwachsene Epilepsiepatienten der Georgetown University in Washington, die während des Anschlags auf das Pentagon sich weniger als 3 Meilen vom Ort des Geschehens befanden. Den Patienten wurde ein Fragebogen über emotionalen Stress vorgelegt. 42 % fühlten sich durch die Terrorattacke gestresst. 6 Personen waren persönlich betroffen, z. B. dadurch dass sich Angehörige zum Zeitpunkt des Anschlags in dem Gebäude befanden. 8 Patienten (12 %) hatten eine Anfallszunahme um mehr als 50 %. Dagegen hatten 29 % derer, die sich unter starkem emotionalem Stress fühlten, eine Anfallszunahme. Von den 6 persönlich betroffenen Personen hatten 3 (also 50 %) eine Anfallszunahme. Aus dieser Verteilung geht hervor, dass der Stress der Terrorattacke sich nur bei einem kleinen Teil anfallsfördernd auswirkte. Das Ausmaß des Stresses spielte offensichtlich die entscheidende Rolle. Je stärker die Betroffenen sich gestresst fühlten oder sogar direkt betroffen waren, desto größer war die Auswirkung des Stresses.

Bei den bisher erwähnten Studien waren die Stressereignisse jeweils bedeutende äußere Ereignisse. Unter Stress kann man aber auch etwas ganz Anderes verstehen, den täglichen Kleinkrieg, die vielen kleinen Missgeschicke etc. Mit dieser Art von Stress befasste sich eine Untersuchung von Temkin. 12 Patienten führten Tagebuch sowohl über ihre Anfälle als auch über besondere Ereignisse in ihrem Leben und über das Maß ihrer eigenen Angespanntheit. Dabei wurde unterschieden zwischen sog. hassle (Ärger, Schwierigkeiten) und uplifts (eher positiven Aufregungen). Tatsächlich fand man einen signifikanten Zusammenhang, Anfälle traten vermehrt an Tagen mit hohem Stresslevel auf. Nun konnte man sich die Frage stellen, ob tatsächlich die Anfälle auf den Stress zurückzuführen waren, oder ob möglicherweise der Zusammenhang umgekehrt war, ob sich die Betroffenen aufgrund der Anfälle gestresst fühlten. Man fand jedoch auch einen Zusammenhang mit dem Stressniveau am Vorabend von Anfällen. Es war also tatsächlich davon auszugehen, dass erst der Stress kam und dann die Anfälle und nicht etwa umgekehrt. Die konkreten Gründe für den Stress waren sehr vielfältig und von Person zu Person verschieden. Das einzige von mehreren Personen berichtete Stressereignis war Schulbesuch bzw. Arbeit. Ob Arbeit möglicherweise doch nicht so gesund ist …

Insgesamt lässt sich aus den zitierten Untersuchungen ableiten, dass das Thema Stress und Epilepsie noch längst nicht abschließend erforscht ist. Stress ist ein dehnbarer Begriff, Weltereignisse können ebenso stressen wie Alltagskram, ein und dasselbe Ereignis wird von jedem und jeder anders empfunden und verarbeitet. Stressforscher unterscheiden zudem zwischen zwei grundverschiedenen Stress-Ausprägungen. Die eine ist der sog. Eustress, gesunder Stress, der hilft, sich zu konzentrieren, Kräfte zu mobilisieren und mehr zu leisten. Das Gegenstück dazu ist Distress, ungesunder Stress, der eher hemmt und die Leistungsfähigkeit lähmt. Eustress wirkt möglicherweise sogar anfallshemmend aufgrund der damit verbundenen Vigilanzsteigerung – bei Vielen führt ja Schläfrigkeit eher zu vermehrter Anfallsneigung, während starke Konzentration und ein hoher Wachheitsgrad Anfälle unwahrscheinlicher macht.

Insgesamt ist das Thema Stress für viele Anfallskranke ein wichtiges Thema. Es sollte als Anfallsauslöser jedoch nicht überbewertet werden, eine messbare Anfallszunahme lässt sich doch nur bei einer Minderheit der Patienten nachweisen. Auf keinen Fall sollten Epilepsiepatienten sich aus Angst vor stressbedingten Anfällen schonen. Anspannung und Anstrengung im richtigen Maß können Menschen mit Epilepsie genauso gut verkraften wie alle anderen auch.  

Literatur:
Frucht, M. M., M. Quigg, et al. (2000). "Distribution of seizure precipitants among epilepsy syndromes." Epilepsia 41(12): 1534-9.
Swinkels, W. A., M. Engelsman, et al. (1998). "Influence of an evacuation in February 1995 in The Netherlands on the seizure frequency in patients with epilepsy: a controlled study." Epilepsia 39(11): 1203-7.
Neufeld, M. Y., M. Sadeh, et al. (1994). "Stress and epilepsy: the Gulf war experience." Seizure 3(2): 135-9.
Klein, P. and L. van Passel (2005). "Effect of stress related to the 9/11/2001 terror attack on seizures in patients with epilepsy." Neurology 64(10): 1815-6.
Temkin, N. R. and G. R. Davis (1984). "Stress as a risk factor for seizures among adults with epilepsy." Epilepsia 25(4): 450-6.


Foto: Bernd Huber
Autor: Dr. Bernd Huber (Foto Nadja Huber)