Kann das „Nichts“ heilen?

Wissenschaftler entdecken, wie Placebos im Körper wirken und dass auch die Worte des Arztes für die Genesung sehr wichtig sind

Kann eine einfache Zuckerpille Schmerzen lindern oder allergische Reaktionen mildern? Durchaus, behaupten Wissenschaftler und bezeichnen Tabletten, Säfte und Infusionen ohne medizinische Inhaltsstoffe als Placebos. Neu sind Placebo-Effekte nicht. Doch in den vergangenen Monaten entdeckten Forscher, wie und warum dieses „Nichts“ eine heilende Wirkung entfalten kann.

Placebo heißt das Zauberwort. Aus dem Lateinischen übersetzt bedeutet es so viel wie „Ich werde gefallen“. Im Mittelalter wurden Lügner und Schmeichler mit diesem Ausdruck bedacht. Erstmals verwendeten Ärzte den Begriff im 18. Jahrhundert, wenn sie Patienten mit Scheinmedikamenten wie Pfefferminzwasser behandelten, nur damit die ständigen Jammerer zufrieden waren.

Doch das Wort Placebo hat bei Patienten meist einen negativen Beigeschmack. Es klingt nach Abrakadabra und Hokuspokus. Denn, verflixt nochmal, wie kann denn etwas wirken, was gar keinen Wirkstoff enthält?
„Entweder durch eine positive Erwartung des Patienten oder durch einen Lernprozess, bei dem sich der Körper beispielsweise an eine schmerzlindernde Wirkung aus der Vergangenheit erinnert“, erklärt Professor Manfred Schedlowski. Der Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie und Verhaltens-Immunbiologie an der Uni Essen hat diese Behauptungen in mehreren Studien untermauert. Doch was fangen Forscher mit solchen Erkenntnissen an? Warum gibt man nicht gleich die richtige Arznei, deren Wirkung doch erwiesen ist?

Von einer Placebo-Therapie könnten vor allem Menschen profitieren, die lebenslang teure Medikamente mit vielen Nebenwirkungen bekommen, weil sie an Autoimmunerkrankungen wie Neurodermitis, Multiple Sklerose oder Rheuma leiden oder nach einer Organtransplantation eine Abstoßung des fremden Gewebes fürchten müssen. Denn eine Placebo-Behandlung ist eventuell genauso wirksam, dabei deutlich billiger und vermeidet oft schlimme Begleiterscheinungen. Allerdings nur, wenn die Betroffenen nicht wissen, wann sie das Schein-Medikament bekommen.

Der Körper lernt aus der Vergangenheit und hilft sich selbst durch Erinnerung. Um diese These zu belegen, starteten Professor Schedlowski und sein Team einen Versuch. Sie gaben 30 gesunden Probanden eine giftgrüne Erdbeermilch mit einem Geschmack nach Mottenkugeln. Ein ekelhaftes Gebräu, das einen ganz neuen Reiz bieten sollte. Mit diesem Getränk schluckten die Versuchsteilnehmer an vier Tagen hintereinander das Medikament Cyclosporin, das das Immunsystem herunterfährt, was beispielsweise nach Transplantationen notwendig ist.
Im Körper der Probanden ließ sich diese Wirkung nachweisen. Nach einer einwöchigen Pause nahmen sie erneut die grüne Milch mit einer Kapsel ein, ohne allerdings zu wissen, dass es sich nur um ein Placebo handelte. Die messbare Wirkung im Körper war die gleiche.

Professor Schedlowski spricht von einem Lernprozess des Körpers, von einer klassischen Konditionierung wie bei den Pawlowschen Hunden, die schon einspeichelten, wenn sie nur die Schritte ihres Besitzers hörten, obwohl noch gar kein Futter in Sicht war. Das Gehirn erinnert sich an vergleichbare Situationen. Und dieser Lernprozess setzt eine biochemische Reaktion in Gang, die messbar ist. Körpereigene Opiate werden ausgeschüttet und Symptome wie Schmerzen gelindert. Heilen können Placebos allerdings nicht, schon gar nicht die Ursache einer schweren Erkrankung wie beispielsweise Krebs.
Doch darf die Medizin ihre Patienten belügen und betrügen, indem sie ihnen wirkungsloses Zuckerzeug unterjubelt? „Nein. Ein tolles Medikament zu versprechen und tatsächlich ein Scheinpräparat zu geben, ist ethisch nicht vertretbar und steht im Gegensatz zur ärztlichen Pflicht“, stellt Schedlowski klar. Denkbar sei, einen Patienten über diese Lernprozesse aufzuklären und anzukündigen, dass man ab und zu ein Placebo gebe, wenn er einverstanden sei. Er dürfe nur nicht wissen, wann er es erhalte.

In vielen Fällen, sagt Wissenschaftler Schedlowski, wirken auch die aufmunternden Worte des Arztes wie ein Placebo. Und das bestätigen weitere Versuche, bei denen gesunden Freiwilligen ein Schmerzreiz gesetzt wurde. Anschließend spritzte ein Arzt einer Gruppe der Probanden ein Schmerzmittel und erklärte ausführlich die Wirkung. Die zweite Gruppe erhielt die gleiche Dosis des Medikaments ohne Gespräch über ein computergesteuertes Gerät verabreicht.
„Bei der zweiten Gruppe wirkte das Medikament fast gar nicht“, sagt Schedlowski und erklärt: „Das bedeutet umgekehrt, dass das Arzt-Gespräch für die Genesung des Patienten eine immense Rolle spielt. Und dieser Effekt wird in unserem medizinischen System bei einer Vier-Minuten-Medizin im Sprechzimmer viel zu wenig berücksichtigt.“

Erfahrene Ärzte wissen längst um diesen Placebo-Effekt von beruhigenden oder aufmunternden Worten. Sie haben starken Einfluss auf die Erwartung des Patienten an seine Medikamente. Und diese Erwartung bestimmt, ob ein Medikament oder Placebo wirkt oder nicht.
Wissenschaftler haben diesen Zusammenhang bewiesen: Mittels Kernspin-Untersuchung fanden sie heraus, dass unser oberstes Kontrollzentrum im Gehirn – der sogenannte präfrontale Cortex – stärker aktiviert ist, wenn die Patienten eine positive Erwartungshaltung haben, also an ihre Genesung glauben.

Diese neuen Erkenntnisse könnten die Methoden zur Erprobung neuer Medikamente allerdings in Frage stellen. Denn bisher werden Arzneien vor ihrer Zulassung bei sogenannten Doppelblindstudien getestet. Dabei erhält eine Gruppe von gesunden Freiwilligen das neue Medikament. Eine zweite Gruppe bekommt ein Placebo. Weder Arzt noch Studienteilnehmer wissen, wer die Zuckerpillen schluckt. Doch welche Folgen hat es, wenn ein Proband in der Medikamenten-Gruppe davon ausgeht, dass er nur ein Scheinpräparat bekommt? Verhindern dann schon seine negativen Erwartungen, dass der Wirkstoff richtig wirkt?

Experten sprechen in solchen Fällen vom Nocebo-Effekt, dem bösen Bruder des Placebos, der aufgrund negativer Erwartungen zuschlägt. Er kann Krankheiten verschlimmern oder eine Genesung verhindern, weil er Stresshormone ausschüttet, dadurch das Immunsystem herunterfährt und Krankheitserreger eindringen lässt.

Auch die Worte des Arztes können Schmerzen zufügen und Heilung verhindern. Dann nämlich, wenn sie Angst und Stress auslösen. Dieses Phänomen kennt Dr. Winfried Rief nur zu gut. Der Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Uni Marburg hat 130 Rückenschmerz-Patienten nach ihren Erfahrungen mit unbedachten Bemerkungen ihrer Ärzte befragt.
Da fielen Sätze wie „Eine falsche Bewegung und Sie sitzen im Rollstuhl“. Und solche Aussagen können fatale Folgen haben: „Der Patient wird sich nun übermäßig schonen, und seine Rückenleiden werden sich festigen“, sagt Rief und weist darauf hin, dass regelmäßige Bewegung bei Rückenbeschwerden am besten helfe. Professor Schedlowski kennt Tumor-Patienten, denen der Arzt sagte: „Die Medikamente verzögern nur ihr Sterben“. Doch Menschen, denen jegliche Zuversicht geraubt wird, geraten unter extremen Stress, der wiederum schädliche Körperfunktionen in Gang setzt.

Psychologen der Uni Jena stellten fest, dass Sätze wie „Achtung, jetzt piekst es gleich“ oder Worte wie „quälend“, „zermürbend“ oder „plagend“ als verbale Reize wirken und das Schmerzgedächtnis aktivieren können. Dass wir schmerzhafte Erfahrungen abspeichern, ist biologisch durchaus sinnvoll, da es unser Leben schützt. Doch die Forscher haben Erkenntnisse, dass allein Gespräche über körperliche Leiden die tatsächlich empfundenen Schmerzen verstärken.

Als Nocebo wirkt häufig auch der Beipackzettel von Medikamenten, der nicht nur vor leichten Beschwerden, sondern auch vor Magendurchbrüchen und Schockzuständen warnt, die laut Schedlowski, häufig viel unwahrscheinlicher sind, „als vom Blitz getroffen zu werden“. Doch die Pharmakonzerne sichern sich ab. Die Patienten erstarren in Angst, brechen möglicherweise die Therapie ab. Und manchmal kann allein die Furcht vor Nebenwirkungen sogar echte Symptome auslösen.

Birgit Heinrich,
© Nürnberger Nachrichten

Anmerkung der Redaktion:
Wir bedanken uns ganz herzlich für die Genehmigung zum Abdruck des Artikels bei den Nürnberger Nachrichten!