Ketogene Diät unter dem Regenbogen

Im Herbst 1995 kam ein damals 3 1/2 jähriger Junge aus Norddeutschland zu uns. Er hatte trotz Phenobarbital, ACTH und hochdosiertem Valproat zuletzt bis 10-20 BNS-artige Anfälle täglich. Die Epilepsie hatte sich seit einem Jahr zunehmend entwickelt, er begann Entwicklungsrückschritte zu machen. Die Mutter hatte bemerkt, daß die Anfälle immer aufhörten, wenn er im Rahmen von Infekten keine Nahrung zu sich nahm und hatte von der ketogenen Diät in den Medien gehört (damals lief von Amerika aus gerade die Kampagne der 1994 gegründeten Charliefoundation an, siehe www.charliefoundation.org ). Sie suchte nun eine Klinik, die bereit war, mit ihr diesen damals in Deutschland unter Neuropädiatern weitgehend verpönten Weg zu gehen. Unser (unterdessen pensionierter) erster leitender Kinderarzt, Herr Dr. Mittelstraß hatte in seiner Studienzeit von der ketogenen Diät gehört; die in der Nachkriegszeit in Amerika noch aktuell, zwischenzeitlich aber in Vergessenheit geraten bzw. in die Ecke abstruser Alternativtherapien gedrängt worden war, seit es potente Antikonvulsiva wie Carbamazepin oder Valproat gab.

 

Außenansicht Filderklinik

Außenansicht der Filderklinik

Was ist ketogene Diät?

Diese Frage bekommt man meistens mit „extrem fettreich“ beantwortet. Dies trifft es aber nur unpräzise und gibt zu vielen Mißverständnissen Anlaß. Den Kern der Sache trifft man in Wirklichkeit folgendermaßen: Ketogene Diät ist kontrolliertes „hungern“ ohne zu verhungern, und was der Körper dabei an Fett abbauen würde, bekommt er mit der Nahrung zugeführt. Oder anders ausgedrückt: Ketogene Diät ist eine extrem kohlenhydratarme, eiweißbedarfsbilanzierte und kalorienbedarfsbilanzierte Kost. Da Kohlenhydrate fehlen (wodurch der Körper ja in eine Art Hungerstoffwechsel kommt), müssen die fehlenden Kalorien als Fett zugeführt werden, aber nur gerade soviel, daß man nicht übermäßig zunimmt. Ketogene Diät ist also das Gegenteil von einer „Fettmast“. Die Mahlzeiten sind recht klein und sie sind individuell grammgenau berechnet. Und ketogene Diät hilft unter anderem bei sonst therapieschwieriger Epilepsie. Vorher sollten mindestens zwei Antikonvulsiva fachkundig ausdosiert worden sein. Man sagt, daß ca. 10% der behandelten Patienten die Chance auf längere Zeiten mit Anfallsfreiheit haben, daß darüber hinaus weitere 10% nur noch ein zehntel der Anfälle erleiden und weitere 20-30% nur noch halb so viele Anfälle haben. In Einzelfällen können sich Anfälle verschlechtern (wie bei jedem anderen Antikonvulsivum auch). Die Diät ist relativ nebenwirkungsarm wenn sie fachgerecht durchgeführt und überwacht wird, aber sie ist aufwendig in den Alltag zu integrieren. Sie wird in der Regel 3 Monate bis zwei Jahre durchgeführt.

 

Heilpädagogin Elfriede Kroker beim Brötchenbacken mit einem kleinen Patienten

Heilpädagogin Elfriede Kroker beim Brötchenbacken mit einem kleinen Patienten

Der Krankheitszustand unseres ersten Patienten wurde sofort nach Einleiten dieser Diät weitestgehend gebessert und hatte seit langem eine erste anfallsfreie Woche. Das EEG war gebessert. Die Diät ließ sich über ein Jahr gut durchführen, der Junge kam dann noch mal zu einer Kontrolle, die Entwicklung war besser geworden, die Anfälle blieben gemindert. Später war die Mutter unbekannt verzogen, wir wissen daher nicht, wie lange sie die ketogene Diät fortführen konnte und wie seine Geschichte weiterging.

Bei uns ging die Geschichte jedenfalls folgendermaßen weiter: Wir waren verblüfft, sahen wir doch mit eigenen Augen eine deutliche Besserung der Anfälle "nur" durch eine Änderung der Ernährung, also im Prinzip mit Hilfe körpereigener Ressourcen, die durch diese Änderung geweckt werden. Dies führte dazu, daß in den folgenden drei Jahren hier 17 Patienten aus ganz Deutschland eingestellt wurden. Wir sahen immer wieder mal verblüffende Effekte teilweise schon kurz nach Beginn der Diät. Die Weiterbetreuung und das Follow-up war aber nicht organisiert und so gab es immer wieder Durchführungsprobleme, die die Diät dann langfristig oft wieder scheitern ließen. Die langfristigen Erfolge, wie es die Amerikaner vor allem am John's Hopkins Hospital mit ihren in dieser Zeit erschienenen prospektiven Studien vormachten, konnten wir so nicht nachmachen. Eine Kooperation oder ein Erfahrungsaustausch mit anderen Klinikern in Deutschland gab es noch nicht. Als es zu Fluktuationen in der Ärzteschaft unserer Abteilung kam, ruhten unsere Aktivitäten bezüglich der ketogenen Diät für zwei Jahre.

 

Filderklinik von oben

Filderklinik von oben

Dann hatten wir im Sommer 2000 über Monate einen echten Problempatienten bei uns auf der Station: Einen 10-monatigen Säugling aus Italien mit Ohtahara-Syndrom Seit Geburt schlief er unter der sedierenden Wirkung seiner reichlichen Medikamente oder er krampfte vor allem tonisch mit teilweise heftigen Zyanoseattacken. Die Bildgebung und Stoffwechseldiagnostik war unergiebig gewesen. Im EEG hatte er ausgeprägte Suppression-Burst-Muster. Er brauchte eine Magensonde, weil er nicht schlucken konnte, und hatte insgesamt 13 Antikonvulsiva erfolglos gehabt, 8 davon in verschiedenen Kombinationen bei uns ohne jeden Effekt, so daß wir verzweifelt zu einer ketogenen Diät rieten und diese einleiteten. Unter ketogener Diät verschwanden um die 90% der Anfälle relativ rasch und wir erlebten ihn erstmals wach und anfallsfrei. Der kleine Patient wurde für die Eltern wieder pflegbar, wenn er auch schwerbehindert blieb. Die näheren Umstände des weiteren Verlaufes sind uns nicht bekannt. Die Eltern kamen nicht mehr zu einer Kontrolle zu uns, schrieben aber in lockeren Abständen mit Photos und telephonierten gelegentlich.

 

Dr. Madeleyn, Leiter der Kinderabteitlung und epileptolgischen Ambulanz

Dr. Madeleyn, Leiter der Kinderabteitlung und epileptolgischen Ambulanz

Zeitgleich machte Dr. Klepper aus Essen eine Umfrage unter deutschen Kinderabteilungen, wie die Erfahrungen mit der ketogenen Diät seien und brachte eine Arbeitsgruppe zusammen, die im folgenden eine deutsche Leitlinie zu dieser Therapieform entwickelte (www.neuropaediatrie.com). Hierzu wurden bei uns die bis dahin behandelten Patienten ausgewertet und soweit möglich gezielt wieder kontaktiert. In dieser Rückschau lernten wir, daß wir die Weiterbetreuung nach Einstellung kontinuierlicher gestalten, und auf ein besseres Monitoring der Einstellung achten müssen. Ferner mußten die Vorgespräche besser strukturiert werden, so daß wir nur bei gut informierten und dennoch motivierten Eltern anfingen. Insgesamt hielten wir uns im Wesentlichen an die bestehende Leitlinie mit einer ganz wichtigen Ausnahme: Die Budgetierung im Krankenhauswesen erlaubte uns lange keinerlei Stellenausweitung und so haben wir erst seit dem 1.7. eine für die ketogene Diät zuständige Diätassistentin als jüngstes Mitglied unseres Teams. Vorher übernahm die Aufgaben der Diätassistentin (Schulung, Rezepte rechnen und kochen) der zuständige Stationsarzt in Arbeitsteilung vor allem mit dem Pfleger Herrn Gerber (der fast alle der 50 Patienten kennt). Viel Praktisches haben wir hierzu von unseren Eltern gelernt, die wir als die wichtigsten Mitglieder im "Ketoteam" betrachten und die wir fit machen wollen für eine möglichst eigenständige, kreative Durchführung dieser Therapie. Wir entwickelten hierzu auch mit Hilfe von engagierten Eltern ein kleines Excel-98-Diätrechenprogramm weiter, welches von der Webseite der Stanford-University herunterladbar war.

Unterdessen sind insgesamt ca. 50 Säuglinge und Kinder bei uns mit ketogener Diät behandelt worden, zur Zeit haben wir ca. 10 in kontinuierlicher Betreuung. Paralell dazu ist vor allem durch die gründliche Überzeugungsarbeit von Herrn Dr. Baumeister aus München und Herrn Dr. Klepper aus Essen die ketogene Diät zur Epilepsiebehandlung auch in Deutschland wieder salonfähig geworden, mehr als 13 Kliniken (Stand Januar 2005) wenden sie unterdessen an. Herr Baumeister hat neben einigen Artikeln in kinderärztlichen Fachzeitschriften ein hervorragendes Lehrbuch geschrieben (FAM Baumeister: "Ketogene Diät - Ernährung als Therapiestrategie", SPS-Verlagsgesellschaft, Heilbronn 2004, ISBN 3-936145-19-9, ca. 25 Euro). Es gibt mit dem Ketocal von SHS Heilbronn eine standardisierte Trink- und Sondenfertignahrung, die insbesondere die Einführungsphase erleichtern kann. Es gibt seit 04/05 ein Elternbuch im Trias-Verlag erschienen von Dr. Petra Platte und Prof. Christoph Korenke aus Oldenburg mit vielen guten Tips und Rezepten.

Man muß also nicht mehr wie vor 10 Jahren für diese Therapieform quer durch Deutschland fahren, bis man jemanden trifft, der sie nicht nur vom Hörensagen kennt, sondern sich sogar wohlwollend dafür interessiert und sie beginnt umzusetzen.

 

Filderklinik von oben

Eltern-Kind-Zimmer

Warum bieten wir diese spezialisierte Therapieform als kleine Kinderabteilung (insgesamt 33 Betten und 8 Ärzte für 4 Stationen und Ambulanzen) in einem anthroposophischen Gemeinschaftskrankenhaus der Grundversorgung dennoch weiter an?

  1. Wir haben mit unserer Station Regenbogen eine kleine aber feine Station, die sich sehr gut dafür eignet: Sie ist primär als Eltern-Kind-Station für chronisch kranke Kinder mit den Schwerpunkten Epileptologie, Behindertenbetreuung und Psychosomatik des Kleinkindesalters konzipiert. Es gibt 6 Eltern-Kind-Zimmer. Es arbeitet ein kleines Team aus neuropädiatrisch erfahrenen Pflegenden teilweise mit Erzieherausbildung und Heilpädagoginnen ergänzt durch Kunsttherapeuten und Physiotherapie. Eine kleine Küche für die Eltern mit jederzeit zugänglichem Computer ist direkt auf Station vorhanden (und zwar die alte Milchküche, die vor drei Jahren nach der WHO-Zertifizierung der Filderklinik zum stillfreundlichen Krankenhaus ihre Funktion verloren hatte...), die Eltern lernen hier das Kochen direkt und praktisch wie zu Hause. Sie leben in einem nach heilpädagogischen Gesichtspunkten gegliederten rhythmischen Tagesablauf, dessen Ruhe, Familiarität und Angebot die meisten Eltern und Kinder schätzen. An diagnostischen Möglichkeiten gibt es alles, was man braucht. Die hinzugekommene Diätassistentin war begeistert.
  2. Ketogene Diät ist die bisher einzige, nachgewiesenermaßen wirksame Therapieform bei Epilepsie, die ausschließlich mit körpereigenen Ressourcen, nämlich den Möglichkeiten des Hungerstoffwechsels arbeitet. Dies macht sie für eine anthroposophische Kinderabteilung, die sich für ganzheitlich orientierte, natürliche Methoden in der Medizin stark macht, interessant.

Was streben wir für die Zukunft an? Wir suchen jemanden, der uns hilft, ein internetbasiertes Datenbankprogramm (eine Mischung aus Rezeptbuch und Rezeptberechnungsprogramm) als gemeinsame Plattform für Eltern und Ärzte verschiedener Kliniken zu erstellen, was die Vernetzung ungemein fördern würde und viele Synergieeffekte in sich bergen würde. Eine Konzeption hierzu läge schriftlich ausgearbeitet in Rohfassung vor. Im Krankenhausbetrieb träumen wir alle von generell etwas mehr Zeit, um die gemachten Erfahrungen wissenschaftlich aufarbeiten und verbessern zu können. Und wir hoffen generell, daß wir hilfsbedürftige chronisch kranke Kinder auch in Zukunft so behandeln können, daß ihnen geholfen ist. Auch in der Filderklinik erleben wir, daß dieses berufliche Privileg immer mehr gefährdet ist, da gesellschaftlich ein durch eine Flut von Regelungen verdeckt rationierendes Gesundheitssystem gewollt und umgesetzt wird, welches zunehmend Prioritäten setzt, die eine unbeeinträchtigte Arzt-Patientenbeziehung auf vielen Ebenen schleichend erschweren.

 Dr. Till Reckert, Stationsarzt Station RegenbogenWer sich näher für die ketogene Diät interessiert, kann unter t.reckert(at)filderklinik.de mailen, wer sich für die Filderklinik im allgemeinen interessiert, möge z.B. unter www.filderklinik.de nachschauen.

Till Reckert, Stationsarzt




 

 



Dr. Till Reckert, Stationsarzt Station Regenbogen