Die Aufgaben des Neurologen im Netzwerk Epilepsie und Arbeit

Neben vielen anderen gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen können unkontrollierte epileptische Anfälle auch das Arbeitsleben gefährden. Häufig sind Ausbildungs- oder Arbeitsplatz bedroht, den Patienten droht Arbeitslosigkeit oder vorzeitige Berentung.

Das Netzwerk Epilepsie und Arbeit stellt sich die Aufgabe, bei bedrohten Ausbildungs- oder Arbeitsplätzen von Epilepsiepatienten durch eine realitätsnahe Beurteilung der Arbeitsplatz-Sicherheit zu einer tragfähigen Einschätzung der Arbeitsplatz-Eignung zu kommen.

In diesem Zusammenhang ist die fachneurologische Fall-Beurteilung ein wesentlicher Baustein. Ist im konkreten Fall das Epilepsie-Syndrom zutreffend erfasst worden? Wir wissen, dass die Ursache einer Epilepsie die Behandlungsprognose wesentlich mitbestimmt: Eine idiopathische (genetisch bedingte) Epilepsie ist in aller Regel einfacher zu behandeln als eine erworbene Epilepsie, z. B. nach Hirn-Infarkt oder Schädel-Hirn-Trauma. Noch schwieriger wird es bei Patienten mit umschriebenen Fehlbildungen der Hirnrinde (fokale kortikale Dysplasien) oder einer Hippokampus-Sklerose sein, mit Medikamenten Anfallsfreiheit zu erreichen.

Hat der Patient die Medikation bisher vielleicht unregelmäßig eingenommen, weil ihm z. B. das Risiko des Arbeitsplatzverlustes nicht bewusst war? Ist die verabreichte Medikation für die individuelle Erkrankung geeignet und ausreichend dosiert? Nicht alle Medikamente sind für alle Epilepsie-Syndrome gleichermaßen gut geeignet. Mehrere Untersuchungen haben z. B. gezeigt, dass bis zu 30% der Patienten mit idiopathischen generalisierten Epilepsie-Syndromen mit Medikamenten behandelt werden (oder wurden), die für diese Epilepsie-Formen ungeeignet sind und sogar zu einer Verschlechterung der Anfallssituation beitragen können. Sind ggf. Kombinationen von Medikamenten sinnvoll gewählt? Manche Medikamenten-Kombinationen „behindern“ sich gegenseitig in der Entfaltung ihrer Wirkung; bei anderen Kombinationen wurden verstärkende Effekte gefunden.
Kommen operative Verfahren (Vagusnerv-Stimulator, epilepsiechirurgische Behandlung) in Betracht, wenn eine ausreichende medikamentöse Anfallskontrolle unwahrscheinlich ist? Bestehen neben den epileptischen Anfällen zusätzliche Störungen (z. B. Körperbehinderungen, etwa eine Hemiparese, oder eine kognitive Beeinträchtigung), die in der Einschätzung beachtet werden müssen?

Auch wenn Anfallsfreiheit nicht erreichbar ist, muss ein Arbeitsplatz nicht verloren gehen. Häufig bestehen epileptische Anfälle aus einer stereotypen Abfolge von verschiedenen Anfallsformen, die nicht alle gleichermaßen das Bewusstsein und die Handlungsfähigkeit stören müssen. Bei vielen Patienten beginnen die Anfälle mit Auren, also Anfällen, die durch ausschließlich subjektiv wahrnehmbare Symptome gekennzeichnet sind: Der Patient „spürt etwas“, bleibt aber bei Bewusstsein, kann reagieren, hat (noch) keine unangemessenen Bewegungen, fällt nicht hin. Bei den Patienten, bei denen regelmäßig Auren mit ausreichender Dauer auftreten, können diese als Warnung genutzt werden, die Patienten können die Arbeit unterbrechen oder sich in Sicherheit bringen, bevor sich die Anfallsaktivität an der Hirnrinde ausweitet und andere, für die Arbeitssituation problematischere Symptome auftreten. Bei anderen Patienten kann sich die tageszeitliche Bindung der Anfälle (z. B. ausschließlich nächtliche Anfälle?) positiv auswirken. Einige Patienten kennen anfallsauslösende Risikofaktoren (z. B. Alkoholkonsum, Schlafentzug, Flackerlicht), die vermieden werden können. Daneben haben nicht alle Anfallsformen für alle Berufsgruppen die gleichen Risiken (siehe Abb. 1), daher werden verschiedene Anfallsformen nach berufsgenossenschaftlichen Richtlinien (BGI 585) in Bezug auf das Gefährdungspotential der einzelnen Berufe unterschiedlich eingeschätzt.

Falls es trotz aller Überlegungen und Maßnahmen weiterhin zu epileptischen Anfällen kommt, die aufgrund von Störungen des Bewusstseins und der Haltungskontrolle oder im Anfall auftretenden automatisierten und unangemessenen Handlungen zu Gefahren führen können, sollte geprüft werden, ob z. B. durch einfache Modifikationen des Arbeitsplatzes das Verletzungsrisiko reduziert werden kann. So könnten z. B. an einem Förderband-Arbeitsplatz durch Verkleidung von Antriebsrollen und Anbringung von Leitblechen eine anfallsbedingte Einziehung der Kleidung oder Körperteilen des Arbeitnehmers verhindert werden. Zur Mitbeurteilung der konkret vorliegenden Risiken können Arbeitsplatz-Begehungen mit Einbeziehung der Entscheidungsbeteiligten, z. B. der Betriebsärzte und Mitarbeiter von Integrations-Fachdiensten, sinnvoll sein.

Abb. 1: Einteilung und Zuordnung der Anfalls-Symptome in Gruppen mit unterschiedlichem Gefährdungs-Risiko (nach BGI 585).

In der täglichen Praxis wird häufig deutlich, dass die meisten drohenden Kündigungsfälle nicht auf einer realistisch objektivierbaren Gefahr, sondern vielmehr auf einem Mangel an adäquater Information beruhen. Häufig ist das Epilepsie-Syndrom nicht gut charakterisiert und die im individuellen Fall auftretenden Anfallsformen nicht differenziert beschrieben. Gelegentlich sind den Beteiligten die berufsgenossenschaftlichen Richtlinien für den zur Klärung stehenden Arbeitsplatz nicht bekannt. In anderen Fällen befürchten Arbeitgeber haftungsrechtliche Risiken, wenn ein Mitarbeiter einen epileptischen Anfall am Arbeitsplatz erleidet und sich hierbei verletzt. Da Epilepsie-Patienten mit einem erhöhten alltäglichen Gefahrenrisiko leben müssen, sind diese Befürchtungen unbegründet, wenn der Anfall und die Verletzung in einer der häuslichen Umgebung vergleichbaren Situation aufgetreten wäre. Nur wenn der Arbeitgeber den epilepsiekranken Mitarbeiter grob fahrlässig gefährdet, in dem z. B. Fallhöhen, Umgang mit Strom, offenem Feuer, nicht ausreichend abgeschirmten gefährlichen Maschinen nicht entsprechend der Richtlinien der BGI 585 beachtet wurden und zu einer Gefährdung führen können, die über das alltägliche Risiko hinausgeht, oder wenn bei Patienten mit bekannter Anfalls-Provokation durch Schlafentzug Schichtdienst eingefordert wurde, kann der Arbeitgeber für die Folgen haftbar gemacht werden.

In der Praxis reichte es in den letzten Jahren in vielen Fällen aus, mit einem fachärztlich-neurologischen Attest den Arbeitgeber mit diesem Konzept des alltäglichen Gefährdungsrisikos von Epilepsie-Patienten vertraut zu machen, um Arbeitsplätze zu erhalten, die offensichtlich mehr durch unrealistische Sorgen der Arbeitgeber als durch tatsächlich begründbare Probleme der Arbeitnehmer gefährdet waren.

Es liegt auf der Hand, dass insbesondere in schwierigen Fällen nur mit einer effektiven Zusammenarbeit vieler Spezialisten die Gefährdung des einzelnen konkreten Falls realistisch erfasst werden kann: Die Charakterisierung des Epilepsie-Syndroms und der Anfallsformen sowie die Prognose-Beurteilung ist hierbei die Aufgabe eines Epilepsie-erfahrenen Neurologen.

Dr. med. Stephan Arnold
Facharzt für Neurologie, München

Kontakt:
NEA: Das Netzwerk Epilepsie und Arbeit
Projektleitung Peter Brodisch
Seidlstraße 4
80335 München
Tel. 089 - 53 88 66 30
E-Mail: epilepsie-arbeit(at)im-muenchen.de
Internet: www.epilepsie-arbeit.de