Anfallsüberwachung
– Ja oder Nein?

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Dr. Johannes Krämer vom SPZ Ulm (Sozialpädiatrisches Zentrum) betreut die betroffenen Kinder der Familie Linder (siehe Artikel  »Ich stehe nur noch auf, wenn es klingelt«). Er beantwortet uns einige Fragen zum Thema Anfallsüberwachung und Gesundheitstechnologien.

 

Welche Formen der Epilepsie halten Sie für notwendig in Bezug auf Überwachung?

Im Prinzip alle. Man muss differenzieren, welche Information man durch die Überwachung gewinnen will: Komplikationen durch prolongierte Anfälle verhindern oder Detektion von nächtlichen Anfällen, die man sonst verpasst hätte.

 

Bei Kindern geht insgesamt sehr viel Information über die tatsächliche Anfallshäufigkeit verloren. Beispielsweise bei Absencen verpassen wir vermutlich das meiste. In der Regel erhalten wir Informationen von den Eltern, die ca. 5 bis 8 Stunden überschauen können, in denen sie persönlich für die Betreuung ihrer Kinder zuständig sind. Gerade das, was in der Schule, im Kindergarten, bei der Tagesmutter oder eben nachts passiert, entgeht uns nahezu vollständig.

 

Also: Alle Patienten mit nächtlichen Anfällen, gerade jene die nicht gut einstellbar sind – und das können auch meistens unkompliziert verlaufende Epilepsien, wie etwa eine Rolando-Epilepsie sein. Es kann auch eine nächtliche Überwachung für Patienten sinnvoll sein, die keine antikonvulsive Dauermedikation erhalten. Ich bin überzeigt, dass gerade in der Nacht viel Information verloren geht, wenn nicht überwacht bzw. durch die herkömmlichen Methoden überwacht wird.

 

Entsprechend halte ich jede Anfallsform, die mit vorhandenen Sensoren detektierbar ist, für würdig, aufgezeichnet zu werden. Diese Einstellung liegt wahrscheinlich nicht nur an meiner persönlichen Affinität zu modernen Konzepten in der Medizin, sondern größtenteils an den Vorteilen und Informationen, die uns moderne Gesundheitstechnologien für die Therapiesteuerung liefern. Wenn ich als Arzt mit dem Einverständnis der Patienten z. B. Zugriff auf das Internetportal des Anfallsüberwachungs-Geräts haben kann, dann ist das schon ein sehr großer Vorteil für mich und ich habe deutlich mehr Informationen über die tatsächliche Anfallshäufigkeit meiner Patienten gleich auf einen Blick. Wenn ich diese Daten nicht habe, kann das schon sehr mühsam sein. Wir wissen, dass sich Patienten und deren Eltern nicht an alle Anfälle erinnern und dass sie viele Anfälle verpassen. Die richtige Wahl der Medikamente und die richtige Einstellung ist dann deutlich schwieriger.

 

Nach welchen Gesichtspunkten haben Sie das Anfallsüberwachungsgerät für die Kinder der Familie Linder ausgewählt?

Bei Kindern, die speziell zu nächtlichen myoklonischen Anfälle neigen, sind viele der herkömmlichen Überwachungssysteme und Detektoren zu schwach, da sie häufig bei Myoklonien nicht alarmieren. Die Familie hat verschiedene Geräte versucht, bei denen aber die Anfälle nicht aufgezeichnet wurden oder wenn die Anfälle durch z. B. Überwachung mit einem Babyphone gehört wurden, war die Familie oft zu spät bei den Kindern. Das hat viel Stress und Frustration erzeugt und kann auch viele gesundheitliche Komplikationen zur Folge haben. Außerdem wurden viele Anfälle verpasst. Deshalb haben wir uns in diesem Fall für NightWatch entschieden.

 

Wie lief die Beantragung über die Krankenkasse?

Wir fingen mit einem Gerät an und als sich die Überwachung innerhalb kürzester Zeit als für die Familie entlastend und effektiv erwies, stellten wir für die anderen Kinder einen Antrag. Bei allen wurde ich von der Krankenkasse bzw. vom MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen) zu einer individuellen Stellungnahme aufgefordert.

 

Was halten Sie generell vom Thema Gesundheitstechnologien?

Viel von den Dingen könnten wir uns erleichtern, wenn wir uns im Gesundheitswesen mehr auf digitale Technologien einlassen würden. Typische Beispiele aus meinem Alltag sind etwa Übermittlung von Laborwerten oder das Führen von Anfalls- oder Migränetagebüchern. Es würde uns allen viel Zeit und Mühe sparen. Die Medizin neigt dazu, nicht auf jede Innovation aufzuspringen, insbesondere in Deutschland. Das ist in den USA anders. Telemedizin hat dort bereits eine große Bedeutung, weil die Wege oft weit sind (Stadt/Land). In Corona-Zeiten haben wir teilweise aus der Not heraus digitale Sprechstunden eingeführt. Einen Teil werden wir hoffentlich beibehalten, weil es sich bewährt hat und uns allen Zeit spart. Es verbessert die Effizienz und verkürzt Wege.

 

Digitale Gesundheitstechnologien helfen, dass wir eine verbesserte Datenlage/datenbasiertes Arbeiten haben. Das hilft sehr bei der Therapiesteuerung und bei der Entscheidungsfindung.

 

Interview zusammengefasst von

Doris Wittig-Moßner