Dissoziative Anfälle

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Auch bekannt als »psychogene nicht-epileptische« oder »funktionelle« Anfälle

Dissoziative Anfälle stellen eine wichtige Differentialdiagnose zu epileptischen Anfällen dar. Das äußere Erscheinungsbild kann epileptischen Anfällen zum Verwechseln ähnlich sein, weshalb häufig eine Untersuchung mittels Video-EEG in einem Epilepsiezentrum nötig ist, um eine klare Diagnose zu treffen. Hinzu kommt, dass Menschen mit Epilepsie zusätzlich auch an dissoziativen Anfällen leiden können und umgekehrt.

 

Dissoziation als grundlegendes Störungsprinzip wurde im 19. Jahrhundert von dem französischen Philosophen und Mediziner Pierre Janet prominent erforscht und vorgestellt. Dissoziation kann demnach als unwillkürliche Unterbrechung bzw. Abspaltung verschiedener psychoformer (also seelischer) und somatoformer (also körperlicher) Funktionen definiert werden. Diese Funktionen können die Kontrolle über Körperbewegungen betreffen (wie beim dissoziativen Anfall), aber auch Empfindungen, die Wahrnehmung der Umwelt, Gefühle, Gedanken und Erinnerungen bis hin zu verändertem Erleben der Identität.


Dissoziative und epileptische Anfälle – ähnlich, aber ganz verschieden

So ähnlich sie äußerlich auch erscheinen, so unterschiedlich sind die Gründe und Mechanismen für das Auftreten von epileptischen und dissoziativen Anfällen. Während bei Epilepsie der Blick von außen (mittels Magnetresonanztomografie, MRT und Elektroenzephalografie, EEG) eine strukturelle Veränderung des Gehirns und/oder ein typisches Erregungsmuster der Nervenzellen zeigt, führt bei dissoziativen Anfällen eher der Blick nach innen zum Ziel. Denn Dissoziation kann als biologisches Überlebens- und Bewältigungssystem von Grenzsituationen und Gefahren angesehen werden, das im Rahmen der Evolution angelegt wurde.

 

Ein gestörtes Dissoziationssystem reagiert auch schon auf verhältnismäßig geringe Belastungen im Alltag. Die individuelle Lebensgeschichte spielt hierbei meist eine maßgebliche Rolle. Besonders deutlich und nachhaltig reagiert das Dissoziationssystem auf plötzliche oder anhaltende Bedrohungen, z. B. zwischenmenschliche Gewalt, Naturkatastrophen und andere schwerwiegende Notlagen, die weder durch Flucht noch durch Kampf bewältigt werden können. In diesem Fall kann eine »Schockstarre« einsetzen, die mit Bezug zur Evolution auch als »Totstellreflex« gedeutet wird. Das Lösen dieses »eingefrorenen« Zustands geht auch bei Tieren manchmal mit unwillkürlichen Körperzuckungen einher.


Selbsterkenntnis – ein notwendiger Prozess

Im Hinblick auf das Dissoziationssystem werden in der Regel bereits in der Kindheit die Grundsteine für das weitere Leben gelegt: Fehlt es während der verletzlichen Zeit des Aufwachsens an Fürsorge durch wichtige Bezugspersonen, sind Kinder ihrem Umfeld schutzlos ausgeliefert und empfinden dies zurecht als existentielle Bedrohung. Auch hier kann es bereits zu dissoziativen Zuständen kommen, die langfristig als unbewusste Bewältigungsmuster erhalten bleiben. Aktuelle dissoziative Phänomene mit früheren Stationen der Lebensgeschichte in Zusammenhang zu bringen, fällt Betroffenen nicht immer leicht und erfordert in der Regel einen geduldigen Prozess der Selbsterkenntnis, der häufig erst im Rahmen einer zielgerichteten Psychotherapie möglich wird.

 

Traumata können auch nach Jahrzehnten zu Dissoziation führen

Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung kommt es zum Wiedererleben traumatischer Situationen und zur körperlichen Aktualisierung der durchlebten Bedrohung im Sinne einer erhöhten inneren Erregung. In diesem Zustand stellt die Unterscheidung zwischen vergangener und aktueller Bedrohung häufig eine Herausforderung dar, weshalb Betroffene Situationen vermeiden, die diese Reaktion auslösen können. In ähnlicher Weise kann es auch Jahre und Jahrzehnte nach traumatischen Erlebnissen noch zum Zustand einer posttraumatischen Dissoziation kommen, in der der Körper mit der Abspaltung bzw. Unterbrechung körperlicher Funktionen reagiert, wodurch es unter anderem zu dissoziativen Anfällen kommen kann. Obwohl im »Hier und Jetzt« keine Bedrohung besteht, sind erneut Kontrolle über Körperbewegungen und ggf. Bewusstsein oder Erinnerungsvermögen betroffen. Vergleichbar einer zu scharf eingestellten Alarmanlage (über-)reagiert das Dissoziationssystem mit einer körperlichen Schutzreaktion, die nun jedoch zu unerwünschten und zunächst nicht kontrollierbaren Symptomen führt.

 

Eine erfolgreiche Therapie dissoziativer Anfälle setzt voraus, dass neben der körperlichen auch die psychische Gesamtbelastung in den Blick genommen wird. Hierzu zählt zunächst die Erfassung weiterer dissoziativer Symptome, und zwar sowohl auf psychischer Ebene (z. B. ein Fremdheitsgefühl gegenüber der Umwelt) als auch im Hinblick auf somatoforme/körperliche Symptome (z. B. die zeitweise fehlende Möglichkeit zu Sprechen).

Eine gute Therapiebeziehung ist Voraussetzung für eine gelingende Behandlung 

Da sich dissoziative Symptomkomplexe im Zeitverlauf stark verändern können, ist die vollständige Bearbeitung der Krankengeschichte sehr wichtig. Hier sollte dann auch der spezifischen Rolle belastender Lebensereignisse für die aktuelle Befindlichkeit nachgegangen werden. Wenn vorübergehende Beeinträchtigungen des aktiven Erinnerungsvermögens (im Sinne einer »dissoziativen Amnesie«) den Zugang erschweren, kann die Therapie auch mit Fotos und Erinnerungsstücken arbeiten. Eine gelingende Therapie setzt insbesondere an dieser Stelle eine gute Therapiebeziehung voraus, in der die Vermittlung von Sicherheit und persönlicher Anerkennung maßgeblich ist, gerade wenn zusätzlich direkte stressbezogene Störungen wie eine Posttraumatische Belastungsstörung, eine Anpassungsstörung oder eine andauernde Trauerreaktion vorliegen.

Viele Betroffene von dissoziativen Anfällen leiden zudem an depressiver Stimmung und Antriebsarmut, aber auch an Schlafstörungen, Ängsten und Panikattacken. Als Reaktionen auf das bestehende Leid können zudem schädliche Bewältigungsstrategien wie Selbstverletzungen und Suchtverhalten hinzutreten, die – sofern vorhanden – im Blick behalten werden müssen.

Individuell abgestimmter Behandlungsplan mit verschiedenen Komponenten

 

Nach Sortierung aller vorliegenden Symptome sollte ein individueller Behandlungsplan erstellt werden. Den Zusammenhang und die Interaktion der eigenen Symptome zu verstehen, kann bereits ein erster Schritt zum Wiedergewinn der Kontrolle über das eigene Erleben und Verhalten sein. Wichtige Therapiebausteine stellen Fertigkeiten (»Skills«) zur Regulation aufschießender Gefühls- bzw. dissoziativer Zustände dar sowie Imaginations- und Entspannungstechniken. Auch physiotherapeutische Methoden können helfen, die Verortung von erfahrenen Belastungen im Körpergedächtnis aufzuspüren. Eine Behandlung mit Psychopharmaka kann zu einer Verbesserung des Schlafverhaltens und einer Stabilisierung von Stimmung und Erregungsniveau beitragen.

 

Im Fokus der psychotherapeutischen Behandlung sollte die aktive und kontrollierte Bearbeitung stressbezogener Erlebnisse und der damit einhergehenden Emotionen stehen. Durch die Bearbeitung der belastenden Lebenssituationen ist eine neue Sicht auf die Ereignisse und ihre Rolle im Lebensverlauf anzustreben. Aus Angst kann zum Beispiel Wut auf erlittene Ungerechtigkeit und aus Scham kann Stolz auf durchgestandenes Leid werden. Nicht zuletzt führt ein ressourcenorientierter Blick zur Erkenntnis persönlicher Stärken und Steigerung des Selbstwertgefühls. Vor diesem Hintergrund schlägt die »Alarmanlage« seltener an und die dissoziativen Symptome gehen zurück. Um verbliebene Stressfaktoren im »Hier und Jetzt« zu behandeln sind manchmal noch Änderungen der Lebensumstände (Wohnung, Arbeitsplatz, Soziale Kontakte) sinnvoll, die im Rahmen einer Sozialberatung unterstützt werden können.

Auch wenn das Störungsbild der dissoziativen Anfälle nicht immer leicht zu diagnostizieren ist und häufig auf einer komplexen bio-psychosozialen Problematik beruht, ist der Erfolg einer auch von Betroffenenseite aktiv gestalteten Therapie greifbar. Elementar wichtig sind hierfür der wertschätzende und ressourcenbasierte therapeutische Umgang sowie eine transparente und interdisziplinäre Zusammenarbeit.

 

Max Christian Pensel und Catrin Schöne

Kontakt:

Dr. med. Max Christian Pensel, M. A.
Assistenzarzt Psychiatrie und
Psychotherapie

Facharzt Neurologie/
Zertifikat Epileptologie

 

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Universitätsklinikum Bonn AöR

Venusberg-Campus 1

53127 Bonn

max.pensel(at)ukbonn.de

 

Catrin Schöne

Psychologin Abteilung für
Neuropsychologie

 

Hephata Klinik

Schimmelpfengstraße 6

34613 Schwalmstadt-Treysa

catrin.schoene(at)schoenetherapie.de

Standorte der Treat-ION Partner. blau: Förderperiode 1 und 2, schwarz: Phase 1, grün: Phase 2. Übersicht der beteiligten Forschungseinrichtungen und Kliniken unter treat-ion.de
Bildquelle: Treat-ION (Bearbeitung Christina Vossler-Wolf)

Das Treat-ION-Register

In Treat-ION wurde zudem ein Register entwickelt, in dem alle verfügbaren Informationen zur Ausprägung der Krankheit (Symptomatik) und den erfolgten Untersuchungen (Diagnostik) sowie zu Behandlungsmöglichkeiten gesammelt werden. Mit dieser Grundlage wird es zukünftig einfacher möglich sein, passende Kohorten für Studien zu bilden. Das Register umfasste zunächst Epilepsie-Patienten und ist mittlerweile um Krankheitsbilder mit Ataxien, Schmerz und Migräne ergänzt. In einer internationalen Kooperation werden Patientendaten von behandelnden Ärzten in das Register eingetragen. Seit Kurzem steht auch für Patienten ein Formular zur Verfügung, mit dem sie sich selbst registrieren können. Diese Eintragungen werden dann mit den Patienten und Ärzten, die das Register führen, sowie nach Möglichkeit auch mit den behandelnden Ärzten gemeinsam eingeordnet und in eine endgültige Eintragung überführt.

 

Christina Vossler-Wolf

Links:

DASNE: dasne.de

Channelopathy Meeting: treat-ion.de/events/

 

ERN-RND: ern-rnd.eu

EpiCare: epi-care.eu

Solve-RD: solve-rd.eu

Patienteneintrag Register: treat-ion.de/register/die-datenbank/

 

Kontakt:

Dr. Christina Vossler-Wolf
Projektmanagement

Zentrum für Seltene Erkrankungen Tübingen

Calwerstr. 7

72076 Tübingen

07071 29 72333

christina.vossler-wolf(at)med.uni-tuebingen.de