Hemisphärotomie? Die Chance für unser Kind!
Unsere 2,5-jährige Tochter Rosa hatte ihren ersten Anfall im Alter von wenigen Lebenstagen. Sie hat eine strukturelle Epilepsie – zu Beginn mit BNS-Anfällen, später kamen tonisch-klonische Anfälle dazu bzw. fokale Anfälle, die sich generalisiert haben. In der schlimmsten Phase hatte sie 20-30 fokale und generalisierte Anfälle täglich.
Im Säuglingsalter führten wir zunächst eine Kortison-Stoßtherapie durch und sie wurde auf Vigabatrin eingestellt. Später gab es Behandlungsversuche mit Levetiracetam, Lacosamid, Oxcarbazepin, Perampanel, Frisium und Niztrazepam. Im Dezember 2023 ließen wir dann eine Hemisphärotomie (= Abtrennung der fehlgebildeten Hemisphäre) durchführen.
Kein Medikament hilft – eine Abtrennung der Gehirnhälfte kommt in Frage
Von der potenziellen Möglichkeit einer solche OP wurde uns tatsächlich bereits kurz nach dem Tag der Diagnose erzählt, möglicherweise war es sogar schon Teil des Diagnosegesprächs, aber damals standen wir (zu) sehr unter Schock. Wir erinnern uns, dass die Hemisphärotomie recht bald als mögliche Therapie benannt wurde, die Konsequenzen der OP (Entstehung einer Hemiparese = Halbseitenlähmung, dazu später mehr), aber auch stark betont wurden.
Da Rosa zum Zeitpunkt der Diagnose erst sechs Wochen alt war (operiert wird, soweit wir wissen, lieber erst ab einem Jahr, früher ist aber auch möglich), rückte diese Behandlungsmöglichkeit zunächst hinter den Versuch, sie medikamentös einzustellen.
Als unsere Tochter dann alt bzw. schwer genug für einen solchen Eingriff war, waren wir leider gerade bei Ärzten in Behandlung mit einer zögerlichen Einstellung zum Thema OP. Zum Glück wechselten wir – auch aus anderen Gründen – zu einem Kinderneurologen, der derselben Meinung war wie wir: Die Möglichkeit einer OP ist ein Privileg und sollte auf jeden Fall geprüft werden.
Bei einer Hemisphärotomie wird die betroffene Gehirnhälfte – in Rosas Fall links – vom Rest des Gehirns abgetrennt und hat somit keine Funktion mehr. Außerdem wurden einige kleine Teile des Gehirns bei Rosa entfernt, z. B. der Hippocampus. Früher entnahm man die gesamte Gehirnhälfte (= Hemisphärektomie). Soweit wir wissen, wird jedoch heutzutage die Gehirnhälfte meistens im Kopf gelassen, da so weniger Komplikationen entstehen. Rosas entnommenes Gewebe wurde untersucht und der Forschung gespendet.
Eine OP-Methode, die nicht ohne körperliche Folgen bleibt
Eine Hemisphärotomie kann dann Sinn machen, wenn es eine strukturelle Auffälligkeit im Gehirn gibt, die zu einer schwer oder nicht medikamentös einstellbaren Epilepsie führt und sich eben nur auf einer Hälfte des Gehirns befindet. Rosas Chance auf Anfallsfreiheit durch Medikamente lag bei unter 10 Prozent – insgesamt 8 Medikamente blieben bei ihr ohne Erfolg. Sie hatte in den Monaten vor der OP 20-30 große Anfälle am Tag. Es war für uns und die Ärzte absolut keine Option, diese Situation so zu belassen. Eine Hemisphärotomie hat allerdings gewisse körperliche Folgen, was vielen Eltern die Entscheidung schwierig macht.
Im September 2023 wurde bei Rosa in der Epilepsieklinik Mara Bethel in Bielefeld eine detaillierte Diagnostik gemacht, und als Endergebnis nach einer interdisziplinären Konferenz die Hemisphärotomie vorgeschlagen. Für uns war die Entscheidung zur OP vom ersten Moment an glasklar, wir haben uns ehrlich gesagt sogar riesig gefreut, dass sie diese Chance wirklich bekommt.
Die Zeit vor der OP ist gefühlt endlos
Von der Entscheidung bis zum Tag der OP vergingen drei Monate. Wir hatten das Gefühl, Rosa wurde aufgrund ihrer schweren gesundheitlichen Situation sehr schnell ein Termin ermöglicht. Für uns waren die drei Monate allerdings gefühlt drei Monate zu viel. Rosas Zustand konnte – trotz eines weiteren Krankenhausaufenthaltes – nicht stabilisiert werden. Zum Teil mussten wir sie in dieser Zeit zu zweit als Eltern zuhause pflegen, da die Anfälle einen normalen Alltag unmöglich machten. Auch eine Eingewöhnung in die KiTa mussten wir abbrechen. Wir sehnten am Ende den Tag der OP sehr herbei und hatten Angst, dass beispielsweise eine Erkältung o. Ä. diese verzögern könnte. Im Nachhinein ist es für uns schwer nachvollziehbar, wie wir diese schwierige Zeit überstehen konnten.
Die OP dauerte ca. 6 Stunden – mit Vor- und Nachbereitung bedeutete das aber, dass wir ca. 12 Stunden von Rosa getrennt waren. Wir wurden drei Tage vor der OP für die Vorbereitungen stationär aufgenommen und waren nach der OP noch für 11 Tage im Krankenhaus – davon 4 Tage auf der Kinderintensivstation.
Die negativen Auswirkungen einer Hemisphärotomie sind ein sehr komplexes Thema, die OP ist deshalb auch umstritten. Bei der Abtrennung einer Gehirnhälfte entsteht unabdingbar eine Hemiparese (= Halbseitenlähmung) im Körper. D. h. die der abgetrennten Gehirnhälfte gegenüberliegende Körperhälfte ist nach dem Eingriff gelähmt sowie das Gesichtsfeld im Sehen eingeschränkt (= Hemianopsie). Direkt nach der OP war die gesamte Körperhälfte gelähmt, auch das Gesicht.
Stück für Stück kommen dann etliche Funktionen zurück – andere, wie die Feinmotorik der Hand, aber nie wieder. Rosa wird mit hoher Wahrscheinlichkeit laufen und ihre gelähmte Hand zur Unterstützung einsetzen können. Die Gesichtslähmung ist zwei Monate nach der OP schon kaum mehr zu sehen. Die Einschränkung des Gesichtsfeldes führt dazu, dass Rosa keinen Führerschein machen können wird. Je jünger die Patienten bei der OP sind, desto besser erholt sich der Körper. Rosa hat dementsprechend gute Chancen, da sie bei der OP erst 23 Monate alt war. Vielen Eltern fällt die Entscheidung wohl schwer, in Rosas Fall war es für uns allerdings klar. Denn im Umkehrschluss könnte man auch sagen: Zu entscheiden, dass unsere Tochter weiterhin so viele Anfälle erleiden muss ohne den Versuch der OP – das kam für uns nicht in Frage.
Seit der OP anfallsfrei mit guten Fortschritten
Rosa ist seit der OP anfallsfrei und blüht förmlich auf. Sie hat innerhalb weniger Wochen wieder gelernt, frei zu sitzen und anstatt zu krabbeln, rutscht sie auf dem Hintern durch die Gegend. Wenn wir darüber erzählen, bekommen wir Gänsehaut. Wir sind sehr glücklich über das Ergebnis.
Vor zwei Monaten konnte Rosa in ihre KiTa eingewöhnt werden und kann nun endlich mit anderen Kindern lernen und spielen. Seitdem macht sie auch kognitiv in ihrem eigenen Tempo tolle Fortschritte. Auch unser Familienalltag kann nun ganz anders ablaufen: Leute trauen sich, auf Rosa aufzupassen, wir müssen sie nicht jede Sekunde im Blick haben und können Schritt für Schritt unser Leben neugestalten.
Trotz erfolgreicher OP ist nicht alles gut
Ehrlicherweise ist natürlich aber nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen. Unser Kind ist mit zweieinhalb Jahren noch weit davon entfernt, zu laufen. Auch stehen kann sie noch nicht wieder, konnte es aber vor der OP. Das stellt uns oft vor große Herausforderungen. Zudem hat Rosa durch die OP einen Großteil ihres Wortschatzes verloren. Jetzt, nach ca. 6 Monaten, ist der Wortschatz aber wieder größer als zuvor. Alles in allem ist uns durch die OP viel Erleichterung geschenkt worden und ein ganz neues Leben möglich – das werden wir auch jedes Jahr am Datum der OP feiern.
Die zuvor eingenommenen anfallssuppressiven Medikamente werden nach der OP extrem langsam ausgeschlichen – das kann bis zu zwei Jahre dauern. Da unsere Tochter so viele Medikamente nehmen musste und wir starke Nebenwirkungen sahen, haben wir uns als Eltern für ein schnelleres Ausschleichen stark gemacht. Drei von fünf Medikamenten hat Rosa bereits hinter sich gelassen. Auch darüber sind wir sehr froh. Sie kann nun vormittags spielen oder zu den Therapien gehen, anstatt vor Erschöpfung zuhause zu schlafen. Nachts schläft sie dafür viel besser. Für jedes abgesetzte Medikament machen wir ein Foto mit dem Datum des letzten Tages und feiern ein wenig. Beim ersten Medikament gab es Schokoladentorte, beim zweiten Pommes. Wir denken, Rosa gefällt das auch :-)
Reha-Maßnahme – sehr individuell abgestimmt auf den Einzelfall
Drei Wochen nach der OP waren wir für ca. 6 Wochen in der Therapieklinik St. Mauritius in Meerbusch. Wie lange die Reha dauert, das ist immens unterschiedlich und nicht zuletzt Geschmackssache der Eltern und auch der Kinder. Wir würden sagen: Mindestens drei Wochen, aber einige Familien bleiben auch Monate. Bei Rosa war nach 6 Wochen eine deutliche Therapiemüdigkeit und Heimweh zu erkennen – also Zeit, nach Hause zu gehen.
Auch die Ziele der Reha sind sehr unterschiedlich bzw. geht es eher um einen fortlaufenden Prozess als um festgesteckte Ziele. Im Vorhinein hatten wir mal die grobe Vorstellung, Rosa würde laufend die Reha verlassen. Darüber können wir im Nachhinein nur schmunzeln, denn das wird noch dauern – was auch vollkommen in Ordnung ist.
Der Erfahrungsaustausch mit anderen ist immens wichtig
Kontakt zu anderen Familien haben wir sowohl über die Klinik in Bethel als auch über den epilepsie bundes-elternverband e. v. und unsere regionale Epilepsieberatungsstelle bekommen. Das war sehr einfach, wir haben sogar mehr Kontakte erhalten, als wir bewältigen konnten. Die gegenseitige Hilfsbereitschaft in der »Blase« finden wir immer wieder besonders und wunderschön. Der Austausch mit den Eltern hat unglaublich gutgetan und ehrlich gesagt war es die beste Vorbereitung auf die OP – denn darauf kann einen kein Ärzte-Team alleine vorbereiten. Es hätte uns sonst auch an vielen ganz praktischen Informationen gefehlt: Darf man auf der Intensivstation beim Kind schlafen? Wird sie nach der OP essen und trinken können? Wie kann man die Wartezeit während der OP überstehen? Wie transportiert man ein halbseitig gelähmtes Kind?
Im privaten Umfeld haben wir ebenso sehr liebe Unterstützung gefunden, für die wir unendlich dankbar sind: Uns wurde zugehört, beim Haushalt geholfen, unser Hund gesittet und vieles mehr. Ehrlich gesagt hätten wir uns aber mehr professionelle Hilfe gewünscht. Sowohl um die schwierige Zeit vor der OP zu überstehen, also auch mit den neuen Herausforderungen nach der OP umzugehen bzw. mit den traumatischen Erlebnissen, die man in so einer Zeit macht. Deshalb sind wir extrem froh darüber, dass es in der St. Mauritius-Klinik eine tolle Elternbegleitung inklusive psychologischer Beratung gibt. So professionell begleitet wie dort haben wir uns noch nie gefühlt. Es ist wirklich schade, dass pflegende Eltern jenseits von medizinischer Beratung zum Kind oft völlig alleine gelassen werden.
Trotz der schweren Zeit bleiben auch positive Erfahrungen
Können wir dieser schwierigen Zeit auch etwas Gutes abgewinnen? Das ist eine schwierige Frage, die wir wirklich nur für uns und nicht anstelle von Rosa beantworten können. Positiv ist natürlich in erster Linie, dass die OP ein Erfolg war und es unserer Tochter in unseren Augen nun deutlich besser geht. Das ermöglicht uns nun ein ganz anderes Leben, wir sind sehr gespannt darauf. Auch positiv an schweren Krisen ist ja immer, dass man merkt, was im Leben wichtig ist und wer aus dem Umfeld zu einem hält und bleibt. Das war manchmal hart, aber größtenteils sehr schön. Auch sehr wohltuend waren und sind die Bekanntschaften mit anderen betroffenen Eltern. Das ist immer ein ganz besonderes Gemeinschaftsgefühl und eine große Erleichterung, endlich Menschen zu treffen, die die eigene Lebenssituation verstehen. Auch bei den Kindern untereinander hat man das in der Reha bemerkt – hier war endlich mal jedes Kind »normal«.
Was wir anderen Eltern in der gleichen Situation noch sagen möchten
Wir können anbieten, dass wir jederzeit bereit sind, Kontakt aufzunehmen zu betroffenen Familien, um sich gegenseitig zu informieren oder von unseren Erfahrungen zu berichten. Der Austausch mit anderen betroffenen Familien ist auch unser Tipp Nummer Eins.
Im Herbst erschien von einer Mama aus einer unserer Elterngruppen ein Buch, welches die Geschichte der Hemisphärotomie ihrer Tochter beschreibt (»Liebe Leni, du bist ein Wunder: Warum meine Tochter mit einem halben Gehirn lebt« von Vanessa Lock). So ein Buch hätten wir damals wirklich gerne gelesen.
Ansonsten hat sich für uns beide entlang des schweren Weges, den wir hinter uns haben, ein Leitsatz gebildet, der für uns extrem ausschlaggebend und hilfreich ist: Was zählt ist, dass Rosa glücklich ist. Und dazu muss sie weder »normal« noch gesund sein. Wir hoffen, dass sie das immer spüren wird, während sie bei uns aufwächst.
Miriam und Fritz
Buchtipp
Liebe Leni, du bist ein Wunder: Warum meine Tochter mit einem halben Gehirn lebt
Vanessa Lock
ISBN:
978-3960963943
224 Seiten
19,90 €
Nur sechs Tage nach der Geburt ihrer Tochter Leni merken Vanessa und Markus, dass etwas nicht stimmt. Sie alarmieren den Notarzt. Es folgt eine beunruhigende Odyssee aus Krankenhausaufenthalten, Untersuchungen und schlaflosen Nächten – und dem Ausblick auf Operationen, die schwerwiegende Konsequenzen für Leni haben. Durch Höhen und Tiefen halten die Eltern zusammen, stützen sich auf Ärzte und den Fortschritt der Medizin. Ein Mutmacher-Buch über Hoffnung, Resilienz und den Wert der Familie.