Interview

Prof. Dr. Holger Lerche, Ärztlicher Direktor der Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt Epileptologie am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung

Prof. Dr. Holger Lerche ist seit 2009 Ärztlicher Direktor der Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt Epileptologie am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen. Unter seiner Leitung wird von dort aus der Forschungsverbund Treat-ION koordiniert.

 

Warum er sich für die Neurologie und speziell für die Genetik entschieden hat, wo die Entwicklung in diesem Bereich hinführt, welche Schwerpunkte die Epileptologie in Tübingen hat – diese und weitere Fragen hat er uns in nachstehendem Interview beantwortet.

 

Warum haben Sie sich für die Neurologie entschieden und speziell für die (Er)Forschung von seltenen Erkrankungen?

Das Nervensystem, seine Funktion und damit verbundene Erkrankungen haben mich von Beginn meines Studiums an immer am meisten interessiert. In meiner Doktorarbeit habe ich mich zum ersten Mal mit seltenen genetischen neurologischen Erkrankungen beschäftigt. Faszinierend war für mich, dass man die Mechanismen dieser Erkrankungen durch Kenntnis des Gendefektes sehr genau erforschen konnte. Dies hängt damit zusammen, dass man die Funktion von Ionenkanälen (s. Artikel zu Treat-ION) und deren genetische Veränderungen sehr gut im Labor untersuchen kann. Schon damals ergaben sich darüber in manchen Fällen auch gezielte Therapiemöglichkeiten. Das haben wir über die letzten Jahrzehnte weiterverfolgt. Nun gibt es durch die Entwicklung spezifischer Medikamente, die auf einzelne Ionenkanäle wirken, und die Gentherapie ganz neue Möglichkeiten, diese Erkrankungen zu behandeln.

 

Wohin führt Ihrer Meinung nach die Entwicklung in der Gendiagnostik? Was ist mittel- bzw. langfristig zu erwarten?

Die Gendiagnostik ist bei den schwerwiegenden seltenen Erkrankungen im Kindesalter mittlerweile fest etabliert und wird in aller Regel sehr frühzeitig nach Auftreten der ersten Krankheitszeichen eingeleitet. Dadurch wird im positiven Fall eine sehr viel genauere, Ursachen-basierte Diagnose gestellt, als dies allein mit klinischen Mitteln möglich wäre. Dabei ersetzt die Genetik aber natürlich nicht eine genaue Erhebung der Krankengeschichte und Untersuchung des Patienten, sondern ergänzt diese. Auch im Erwachsenenalter sollte bei schwerwiegenden Epilepsien mit Entwicklungsstörungen oder anderen Symptomen, bei denen die Ursache nicht anderweitig geklärt werden kann (z. B. durch eine Kernspintomografie), eine genetische Diagnostik erfolgen.

 

Ziele der Gendiagnostik sind neben der genauen Diagnosestellung (und damit Vermeidung weiterer, für den Patienten anstrengender und teurer Untersuchungen) die Abschätzung der Prognose (Wie entwickelt sich die Erkrankung weiter?), die Möglichkeit der genetischen Beratung (Wo kommt der Gendefekt her, ist er neu bei dem Patienten entstanden oder vererbt? Wie ist das Risiko, dass Eltern weitere Kinder mit diesem Gendefekt bekommen? Wie ist das Risiko von nahen Verwandten, ebenfalls den Gendefekt zu haben? Wie wird dieser weitervererbt?) und dann als wichtigste Konsequenz – sofern möglich – natürlich die gezielte Behandlung.

 

Aktuell spielt die Gendiagnostik bei den häufigen Epilepsien noch keine klinische Rolle. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir, dass bei diesen – sofern sie genetisch und nicht z. B. durch einen Schlaganfall oder einen Hirntumor bedingt sind – in der Regel mehrere kleinere Gendefekte zusammenkommen müssen, damit ein Mensch an einer Epilepsie erkrankt. Wir hoffen, dass wir auch dort in der Zukunft über klinische Merkmale und die Kenntnis der Vielzahl an kleineren Gendefekten eine Vorhersage darüber treffen können, welche Medikamente am besten wirken und welchen Verlauf die Erkrankung wahrscheinlich nehmen wird. Das ist aktuell noch nicht möglich, aber wir arbeiten daran. In jedem Fall gehe ich davon aus, dass die Gendiagnostik, wie die Kernspintomografie oder das EEG, zukünftig einen ganz wichtigen Platz in der Diagnostik der meisten Epilepsien einnehmen wird.

Bildquelle: BMF Fotografie

Woher stammen die Patienten der Epileptologie in Tübingen bzw. wie groß ist Ihr »Einzugsgebiet«? Welche Schwerpunkte gibt es?

Die meisten Patienten kommen aus der Umgebung von Tübingen bzw. aus Baden-Württemberg. Das gilt v. a. für die häufigen Epilepsien. Bei den seltenen genetischen Epilepsiesyndromen, insbesondere bei denen, die durch Gendefekte entstehen, die Ionenkanäle oder Transporter betreffen, kommen die Patienten aus ganz Deutschland und auch aus dem Ausland. Hier bieten wir gerne eine Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärzten vor Ort an oder auch Telefon- oder Videotermine, zumindest im Verlauf. Anfragen zu spezifischen Behandlungen bei Ionenkanalveränderungen bekommen wir mehrmals wöchentlich aus der ganzen Welt von Kinder- und Erwachsenen-Neurologen, Genetikern und Patienten selbst. Auch hier gehen wir differenziert vor und versuchen, eine Behandlung vor Ort zu unterstützen. Zu den molekularen Therapieboards siehe begleitenden Artikel zu Treat-ION. Die therapeutische Beratung wird auch durch das Treat-ION Projekt teilweise gefördert.

 

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Für die Zukunft wünsche ich mir mehr Behandlungsmöglichkeiten und eine schnellere Entwicklung derselben. Da die meisten Gendefekte eine sehr spezifische Behandlung erfordern, die auch häufig innerhalb von Mutationsträgern in demselben Gen unterschiedlich sein kann, müssen wir irgendwann zu dem Punkt kommen, dass wir nicht mehr jede Therapie neu entwickeln müssen, sondern therapeutische Prinzipien von Krankheit zu Krankheit übertragen können. Bei zugelassenen Medikamenten ist das zum Teil schon so. Natürlich darf darunter nicht die Sicherheit der Therapien leiden. Bis dahin ist es noch ein langer Weg.

 

Zu guter Letzt: Gibt es etwas, was Sie Ihren Patienten und Angehörigen noch sagen bzw. mit auf den Weg geben möchten?

Bei schwierig zu behandelnden Epilepsien, insbesondere wenn Entwicklungsstörungen oder andere Symptome hinzukommen, die auf eine genetische Ursache hindeuten, sollten Spezialisten aufgesucht werden, die sich mit Gendiagnostik auskennen und eine solche ggf. einleiten. Bei Kenntnis eines Gendefektes sollte dann über eine spezifische Behandlung nachgedacht werden. Auch hier sollten Spezialisten hinzugezogen werden, die über die entsprechenden Gendefekte gut Bescheid wissen. Auch wir kennen nicht alle möglichen Therapieansätze und fragen häufig andere Kollegen, die sich speziell mit bestimmten Gendefekten beschäftigt haben.

 

Große Hoffnungen liegen natürlich auf der Gentherapie, durch die zum einen Gendefekten entgegengewirkt oder diese korrigiert werden sollen, die aber auch als Therapie bei den häufigen Epilepsien auf dem Vormarsch ist (es gibt erste laufende klinische Studien), einfach um auf eine andere Art als durch Medikamente die Übererregbarkeit bestimmter Hirnregionen einzudämmen. Fragen Sie also nach, welche neuen Behandlungsmöglichkeiten sich bei bisher therapieresistenten Fällen ergeben können!

 

Interview zusammengefasst von

Doris Wittig-Moßner