Lieferengpässe

bei der Versorgung von Epilepsie-Patienten mit Antiepileptika

 

Die öffentliche Diskussion reflektiert in den letzten Monaten vermehrt Probleme der kontinuierlichen Versorgung von Patienten mit Medikamenten. Dies betrifft ein weites Spektrum von Präparaten und Erkrankungen, insbesondere auch Menschen mit chronischen neurologischen Erkrankungen, die für eine adäquate Behandlung häufig komplexer Therapieschemata bedürfen. Sowohl niedergelassene Apotheker als auch Krankenhausapotheken verwenden zunehmende Ressourcen auf den Versuch, die betroffenen Patienten trotz Lieferengpässen mit den erforderlichen Medikamenten zu versorgen; zunehmend kann dies für Zeiträume von Wochen bis zu mehreren Monaten nicht mehr gewährleistet werden.

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Die rechtliche Situation zur kontinuierlichen Sicherstellung der Patientenversorgung ist unbefriedigend. Während niedergelassene Ärzte, Apotheker und Krankenhäuser zur Sicherstellung einer Patientenversorgung zu jeder Tages- und Nachtzeit gesetzlich verpflichtet sind, sind Hersteller von Medikamenten als freie Unternehmen eingestuft, die mit der Zulassung ihrer Präparate zwar zu deren Angebot berechtigt, zu einer kontinuierlichen Lieferung ihrer Produkte hingegen nicht verpflichtet werden können, insbesondere auch nicht vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).

 

In den europäischen Richtlinien der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA ist zwar festgelegt:

 

„MAHs (marketing organization holders), and their distributors, within the limits of their responsibilities, should ensure appropriate and continued supplies to pharmacies and persons authorized or entitled to supply medi-cinal products so that the needs of patients in the Member State in question are met.“ (Art. 81, Direktive 2001/83/EC)

 

[Deutsche Fassung:

„Der Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels und die Großhändler, die dieses in einem Mitgliedstaat tatsächlich in Verkehr gebrachte Arzneimittel vertreiben, stellen im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit eine angemessene und kontinuierliche Bereitstellung des Arzneimittels für Apotheken und zur Abgabe von Arzneimitteln zugelassene Personen sicher, damit der Bedarf der Patienten in dem betreffenden Mitgliedstaat gedeckt ist.“]

 

Dies ist jedoch eine Sollbestimmung und hat keine rechtlich bindende Kraft. De facto wird die Verantwortung der Arzneimittelhersteller darauf reduziert, Versorgungsengpässe anzuzeigen:

 

„… If the product ceases to be placed on the market of a Member State, either temporarily or permanently, the marketing authorization holder shall notify the competent authority of that Member State. Such notification shall, other than in exceptional circumstances, made no less than two months before the interruption in the placing on the market of that product.“ (Art. 23a, Direktive 2001/83/EC und Art. 27a, Direktive 2001/82/EC)

 

[Deutsche Fassung:

„…Wenn das Inverkehrbringen des Arzneimittels in einem Mitgliedstaat vorübergehend oder endgültig eingestellt wird, meldet der Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen dies der zuständigen Behörde dieses Mitglied-staates. Diese Meldung erfolgt spätestens zwei Monate vor der Einstellung des Inverkehrbringens des Arzneimittels, es sei denn, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.“]

 

Diese zeitnahe Information soll einer Triagierung (= Einschätzung) und der Koordination von Maßnahmen zur Milderung eines Engpasses in der Patientenversorgung dienen.

 

Entsprechend definiert das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) seine Rolle bei Lieferengpässen auf seiner Webpage explizit auch negativ und verweist darauf, dass kein Unternehmen zur Produktion oder zum Angebot zugelassener Arzneimittel verpflichtet werden kann:

 

  • Das BfArM kann Unternehmen weder zur Produktion von Arzneimitteln, Wirkstoffen oder Ähnlichem verpflichten, noch dazu, Arzneimittel in den Verkehr zu bringen.
  • Das BfArM hat keine Informationen darüber, welche Mengen der betroffenen Arzneimittel sich noch auf dem Markt befinden.
  • Das BfArM darf keine individuelle medizinische Beratung leisten oder Empfehlungen zur Therapie geben, etwa, wenn Patienten wegen eines Engpasses auf ein anderes Arzneimittel eingestellt werden müssen. Hierfür sind viele Faktoren von Bedeutung, die nur im persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient angemessen berücksichtigt werden können.
  • Das BfArM agiert weder als Arzneimittelvermittler zwischen verschiedenen Zulassungsinhabern noch zwischen potenziellen Herstellern und Zulassungsinhabern.
  • Ein Schwerpunkt der Arbeit des BfArM ist die Zulassung von Fertigarzneimitteln auf der Grundlage des Arzneimittelgesetzes. Das BfArM stellt weder Arzneimittel her noch kann es sie zur Verfügung stellen.
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Die Lösung des Versorgungsproblems obliegt vielmehr dem jeweils behandelnden Arzt.

 

Vom BfArM werden lediglich Informationen über gemeldete Lieferengpässe zusammengestellt. Bei diesen Meldungen handelt es sich

 

a) um eine Selbstverpflichtung der pharmazeutischen Unternehmen,

b) nur sogenannte versorgungsrelevante Medikamente betreffende Meldungen.

 

Diese versorgungsrelevanten Medikamente sind in einer Liste hinterlegt, die ganz offenbar nicht hinreichend der heutigen Realität der Patientenversorgung entspricht. So beinhaltet sie lediglich vier Antiepileptika (Phenobarbital, Phenytoin, Vigabatrin und Lacosamid) und damit nicht einmal alle sogenannten Standardantiepileptika der WHO (Weltgesundheitsorganisation), die zur Minimalversorgung von Dritte-Welt-Ländern vorgesehen sind; die Auswahl des nur noch bei epileptischen Spasmen indizierten Vigabatrin und von Lacosamid als einzigem modernen Antiepileptikum erscheint wenig sinnvoll und arbiträr.

 

Entsprechend dieser Liste lassen sich bei Abfragen der Webpage Lieferengpässe mit den Medikamenten Valproat, Cloba-zam und Lamotrigin nicht auffinden.

 

Die Notwendigkeit zu einer Verbesserung der Sicherstellung der Versorgung von Patienten wurde sowohl auf europäischer als auch auf deutscher Ebene bereits seit Jahren gesehen. Auf EU-Ebene führte dies zur Leitlinie „Guidance on detection and notification of shortages of medicinal products for Marketing Authorization Holders (MAHs) in the Union (EEA)“.

Abb. 1: Lieferengpässe von Antiepileptika 2019

Als Maßnahme wurde in Deutschland 2016 ein Jour fixe ins Leben gerufen, zu dem ein weites Spektrum von Stake-holdern eingeladen wird (u. a. Vertreter der Arzneimittelkommissionen der deutschen Apotheker und der deutschen Ärzteschaft). Die Zahl und Schwere der Lieferengpässe nahmen dennoch weiter zu. Bei Antiepileptika betraf dies 2019 Lamotrigin, Valproat, Phenytoin, Zonisamid und Clobazam in verschiedenen Präparaten und Dosierungen (siehe Abb. 1).

 

Bei der Beurteilung der Relevanz von Lieferengpässen sind bei Patienten mit komplexen chronischen neurologischen Erkrankungen allgemein und bei Epilepsien speziell besondere Aspekte einzubeziehen. Bei akuten und Neuerkrankungen existieren in vielen Fällen unterschiedliche Therapieoptionen, die nahezu gleichwertig sind. Hierfür kann es daher sinnvoll sein, eine Untergruppe der sogenannten versorgungsrelevanten Medikamente zu identifizieren, deren Verfügbarkeit für Behandlungen der ersten Wahl zentral ist.

 

Bei komplex behandelten chronischen neurologischen Erkrankungen kann hingegen das Fehlen eines der individuell eingesetzten Medikamente bereits zu einer relevanten Gefährdung der Gesundheit von Patienten führen. Dies gilt für in ihrer Erkrankung fortgeschrittene Parkinson-Patienten mit einer individuell optimierten Kombinationsbehandlung, die wirksam vor langen Off-Phasen schützt, ebenso wie für Epilepsie-Patienten, bei denen eine individuell etablierte bestmögliche Kombinationsbehandlung nicht mehr aufrechterhalten werden kann.

 

Antiepileptika zählen generell zu denjenigen Medikamenten, bei denen bereits ein Präparatewechsel auch mit dem gleichen Wirkstoff zu einem erhöhten Risiko von Anfallsrezidiven führt. Wesentlich höher ist das Risiko, wenn ein Wirkstoff zeitweise unzureichend verfügbar ist, wie in der Versorgungsrealität im Jahr 2019 beim Ausfall von Clobazam (Frisium®). In Einzelfällen kam es hierdurch zu relevanten Patientengefährdungen, etwa der Entwicklung eines Status epilepticus bei einem in Kleinwachau angebundenen Patienten, der sieben Jahre lang anfallsfrei mit einer Kombination von Clobazam und Stiripentol eingestellt war, und zu einem mutmaßlichen SUDEP-Fall (SUDEP:„sudden unexpected death in epilepsy“) bei einem in Frankfurt angebundenen Patienten wenige Tage nach einem Wechsel von Clobazam auf Diazepam.

 

Mögliche Maßnahmen

 

Vom am BfArM angesiedelten Jour fixe wurde eine Verlautbarung publiziert, gemäß derer belastbare Abnahmeprognosen für Medikamente mit verbindlichen Zusagen zur Produktion und Bevorratung verbunden werden sollen. Zudem wurde vorgeschlagen, die Transparenz über Produktionsbedingungen und Lagerkapazitäten zu erhöhen und die gewährleistete Lieferfähigkeit in die Preisgestaltung einfließen zu lassen. Auch von politischen Fraktionen werden aktuell u. a. Vorgaben für die Bevorratung von Medikamenten diskutiert.

 

Die Deutsche Gesellschaft für Epileptologie (DGfE) regte an, die pharmazeutische Industrie hinsichtlich der Verpflichtung zur Sicherstellung einer kontinuierlichen Versorgung mit anderen Anbietern von Gesundheitsdienstleistungen gleichzustellen. Dies beinhaltet insbesondere die Verpflichtung zu einer umfangreicheren Bevorratung versorgungsrelevanter Medikamente, v. a. wenn Präparate nur durch einen Hersteller angeboten oder nur an einem Produktionsort hergestellt werden.

Andreas Schulze-Bonhage

 

Kontakt:

Prof. Dr. Andreas Schulze-Bonhage

Epilepsiezentrum Universitätsklinikum Freiburg

Neurozentrum

Breisacher Str. 64

79106 Freiburg

Tel.: 0761 27053660

andreas.schulze-bonhage(at)uniklinik-freiburg.de

www.uniklinik-freiburg.de

Wir bedanken uns ganz herzlich beim © Springer Medizin Verlag GmbH, Teil von Springer Nature 2020, für die kostenlose Abdruckgenehmigung des in der DGNeurologie 2020 erschienenen Artikels (https://doi.org/10.1007/s42451-020-00168-8).