Mein Weg mit Epilepsie

© privat

In loser Reihenfolge stellen wir immer wieder Betroffene vor, die uns ihren ganz eigenen Weg mit der Erkrankung schildern und zeigen, wie sie ihr Leben mit Epilepsie bewältigen.

 

Hier die Geschichte von Florian B., Anfang 30, der derzeit als Lehrkraft an einer Berufsschule Deutsch für Migranten unterrichtet.

Diagnose:

Als Kind und Jugendlicher hatte ich alle zwei Wochen fokale Anfälle und ca. alle zwei Monate Grand mal-Anfälle. Aktuell habe ich nur noch 1-2x im Monat einen kleinen Anfall, bei dem mein Arm ein wenig zuckt. Ich spüre zunächst eine sensible Aura im linken Handgelenk. Die Aura hat sich je nachdem, welche Medikamente ich im Lauf meiner Behandlungsgeschichte eingenommen habe, immer wieder anders angefühlt und auch das Gefühl bei den Anfällen selbst war teilweise etwas unterschiedlich.

 

Meinem Partner fällt so ein kleiner Anfall kaum auf, da er mich nur ohne größere Anfälle kennt und diese der Vergangenheit angehören.

 

Wann hatten Sie Ihren ersten Anfall?

Ich hatte meinen ersten Anfall mit ca. 6 Jahren. Zunächst dachten meine Eltern, ich würde Spaß machen und meinen Arm mit Absicht komisch bewegen. Als ich das jedoch verneinte, sind sie mit mir zum Arzt gegangen. Ich selbst wusste als Kind natürlich überhaupt nicht, was mit mir geschieht. Ich hatte nur den Eindruck, dass etwas nicht passt und komisch ist. Das Gefühl, dass die Anfälle »nicht stimmen«, ist mir eigentlich bis heute geblieben – auch bei den jetzigen sehr kleinen Anfällen. Es fühlt sich nie gut an – immer bleiben ein wenig Besorgnis, Unsicherheit, Selbstzweifel.

 

Es ist eine Krankheit, bei der man viel auf sich selbst zurückgeworfen wird, da einem fast niemand helfen kann, außer die spezialisierten Ärzte und die Medikamente. Schlimm fand ich es, als ich den ersten Grand mal-Anfall hatte und die Sanitäter zu uns kamen. Ich lag im Bett und war das Zentrum der Aufmerksamkeit, meine Eltern waren überfordert, ich wurde ins Krankenhaus gebracht, alles war in Aufruhr. Auch später fand ich es unangenehm, wenn ich umfiel oder stürzte und andere Menschen dabei zusahen. Das war für mich eigentlich schlimmer als die Verletzungen, die ich mir dabei holte, die Hilfslosigkeit und das Ausgeliefertsein, das »Nichts-Machen-Können«. Zum Glück fanden meine Anfälle lange meistens morgens und abends statt, sodass ich tagsüber einen normalen Ablauf hatte und verschont blieb.

 

Wie wird die Epilepsie behandelt?

Die Epilepsie war von 2009 bis 2019 mit einigen Unterbrechungen relativ hartnäckig und man könnte sagen medikamentenresistent. Wir haben jahrelang viel probiert, verschiedene Ärzte und Zentren konsultiert. Kurzzeitig wurde auch überlegt, ob man meine Läsion operieren könnte, aber das war zu riskant. Ich hätte das Gefühl in meinem linken Arm verlieren können, da der Herd sehr nah am Bewegungsapparat liegt. Zurzeit nehme ich Apydan extent und Topiramat.

© privat

Wie war das in der Schulzeit? Haben die Anfälle Sie in irgendeiner Form eingeschränkt?

Meine Schulzeit war durch die Epilepsie einerseits anders als für »normale« Kinder oder Jugendliche, andererseits habe ich immer versucht, in der Schule nicht viel »anders« zu sein. Ich wollte nicht auffallen und dadurch, dass ich die Anfälle vor allem morgens hatte, war meine Schulzeit nur indirekt beeinträchtigt. Ich konnte genauso gut lernen wie die anderen, war sogar ein sehr guter und fleißiger Schüler (manchmal sogar zu fleißig und brav, als wollte ich dadurch und durch gute Noten meine Krankheit übertünchen).

 

Später ging ich aufs Gymnasium und machte das Abitur, begann dann mein Studium. Bei den Lehrkräften war ich beliebt, tat mich aber schwer, viele Freunde unter Gleichaltrigen zu finden. Das war vielleicht die größte Einschränkung in meiner Schulzeit, da ich durch meine Krankheit einfach schwer Anschluss fand. Ich war ernsthafter, nachdenklicher und weniger verspielt als viele meiner Altersgenossen – und ich interessierte mich nicht für Fußball oder andere Spiele, die Jungs in dem Alter gut finden.

 

Wie war das mit Weggehen oder Übernachten bei Freunden?

In der Jugend ging ich kaum weg, war viel zuhause und auf Feldwegen unterwegs – ein typischer Einzelgänger. Ich hatte Hobbys wie Fotografieren, Schreiben, Lesen oder Journalismus, denen ich nachging. Ich reiste auch gern, und ab einem gewissen Alter wollte ich auch alleine verreisen, was ich trotz der Anfälle in die Tat umsetzte. Ich bin froh, dass meine Eltern, die oft vorsichtig waren, mich daran nicht gehindert haben. Für mich war das Reisen nach Frankreich eine Befreiung und eine Erleichterung. Zum ersten Mal war ich wirklich allein und konnte machen, was ich wollte. Ich war zum ersten Mal ein wirklicher Teenager und erlebte das, was andere in meinem Alter erfuhren, wenn sie weggingen, einen Freund oder eine Freundin hatten und in der Disco Alkohol tranken oder rauchten.

 

Konnten Sie Ihren Berufswunsch verwirklichen?

Nach der Grundschule besuchte ich das Gymnasium und studierte ab 2010 Französisch und Latein auf Lehramt Gymnasium. Mein Studium zog sich ziemlich in die Länge aufgrund mehrerer Krankheitssemester und vieler Anfälle in der zweiten Hälfte meines Studiums. Erst ab 2019 ging es mir wieder besser und ich konnte mein Examen schreiben. Während meines Studiums war ich 2015/16 ein Jahr in Paris und habe an der Sorbonne Lettres modernes (das französische Pendant zu Französisch/Latein) studiert. Das war eine sehr bereichernde Erfahrung – und Paris ist eine meiner Lieblingsstädte.

 

Während meiner Schulzeit und meines Studiums habe ich auch an Auslandsaufenthalten und Schüleraustauschen teilgenommen. Ich habe mich durch meine Epilepsie nicht davon abhalten lassen. Einmal bin ich mit einem blauen Auge, das ich mir bei einem Anfall im Badezimmer zugezogen hatte, nach Limoges gefahren. Die Gastfamilie dachte sicherlich zunächst, ich hätte mich geschlägert ...

 

Ab 2020 arbeitete ich am Bildungszentrum Nürnberg als Dozent und ab Juni/Juli 2021 nahm ich eine Promotion in französischer Linguistik auf. Die Promotion dauert immer noch an und liegt mir sehr, auch wenn ich zurzeit vor allem in den Schulferien dazu komme, da ich seit 2022 als Lehrkraft an der Berufsschule in Fürth in der Berufsintegration für Menschen mit Migrationshintergrund arbeite.

 

Hatte die Epilepsie Auswirkungen auf Ihr Berufsleben?

Meine Erkrankung hatte direkt und indirekt Auswirkungen auf meine Berufsfindung. Wenn ich die Epilepsie nicht gehabt hätte, wäre ich vielleicht in meinem Studium viel effizienter und zielgerichteter vorwärtsgekommen. Ich hätte vielleicht nicht die Probleme am Ende meines Studiums gehabt, mein Examen in Latein zu bestehen. Ich wäre vielleicht ein anderer Mensch mit einer anderen Persönlichkeit, aber das lässt sich im Nachhinein nicht mehr beurteilen. Ich wäre vielleicht heute ein Lehrer am Gymnasium und verbeamtet, so wie viele meiner Kommilitonen und würde nicht zweifeln, dass dies der richtige Weg für mich ist. Ich würde nicht auf Stellen arbeiten, wo man als Dozent oder Lehrkraft angestellt ist – außerhalb meiner ursprünglichen Ausbildung für Französisch und Latein.

© www.pixabay.com @beauty_of_nature

Gibt es zusätzlich zu Ihrer Epilepsie noch Einschränkungen, die Sie mehr belasten als die Anfälle selbst?

Was mich am meisten in den letzten 2-3 Jahren belastet hat, waren die psychischen Probleme, die ich bekam. Ich hatte zweimal psychische Schwierigkeiten, kurze Episoden, bei denen ich auch in der Psychiatrie behandelt wurde. Die Vermutung der Ärzte war, dass diese Episoden dadurch ausgelöst worden sein könnten, weil ich zunächst viele epileptische Anfälle am Stück gehabt hatte und die Anfälle anschließend (fast) komplett ausblieben. Durch diesen abrupten Wechsel kann sich im Gehirn eine Alternativpsychose entwickeln, die man in meinem Fall durch Medikamente wieder in den Griff bekam. Als ich versuchte, die Medikamente abzusetzen, entstand eine weitere Psychose. Ob die psychische Krankheit genetisch bedingt ist, kann ich nicht sagen, auf jeden Fall war sie um einiges schlimmer auszuhalten als die Epilepsie, da man sich selbst und die damit einhergehenden schlechten Phasen mit komischen Gedankengängen über mehrere Wochen und Monate ertragen muss, ehe Besserung eintritt.

 

Die Ärzte können dabei auch nur bedingt unterstützen, durch Gespräche und Zuhören, aber wirklich helfen kann nur die Zeit und der Zuspruch durch nahestehende Personen. Mir haben meine Familie und ein guter Freund sehr geholfen, ohne die ich wahrscheinlich nicht so gut aus der Zeit wieder herausgefunden hätte. Meine Familie war überhaupt immer für mich da, wenn es mir schlecht ging, und ich habe ihnen durch meine Erkrankung(en) einiges zugemutet, ohne dass das gewollt war. Manchmal habe ich mich in der Vergangenheit gefragt, warum es mich getroffen hat, doch das bringt nichts, es gibt darauf keine Antwort. Zurzeit bin ich einfach froh, dass es mir gut geht und alles einigermaßen in geordneten Bahnen läuft.

 

Verbinden Sie mit der Erkrankung auch etwas Positives?

Ich habe durch die Epilepsie viel früher eine eigenständige und erwachsene Persönlichkeit entwickelt als meine Altersgenossen. Das hat mich zwar gleichzeitig daran gehindert, eine Vielzahl an Freundschaften mit Gleichaltrigen zu pflegen, aber ich konnte dadurch erkennen, was wirklich wichtig im Leben ist – für mich z. B. Gesundheit, Familie, Liebe, Bildung und natürlich ein festes Einkommen. Auch mein Sinn für Freiheit, Unabhängigkeit und Schönes – ich schreibe auch Gedichte – kommt sicher davon, dass ich aus dem düsteren Kapitel meiner Biografie entfliehen und daraus etwas Schönes machen möchte, denn mit der Epilepsie und deren Behandlung gehen viele Zwänge einher. Manchmal schlägt das vielleicht in Angst vor zu viel Verantwortung um.

 

Gibt es etwas, was Sie anderen Betroffenen sagen möchten?

Man sollte, egal wie schwer es gerade mit der Epilepsie ist, nie aufgeben. Es kann sein, dass ein anderes Medikament oder eine andere Behandlung die ersehnte Heilung bringt. Also immer weiter probieren! Man sollte sich auch nicht immer nur auf die Mediziner verlassen, denn auch sie sind nur Menschen und fehlbar. Wenn man bei einem Arzt nach einigen Jahren ein ungutes Gefühl hat oder sich nicht mehr gut aufgehoben fühlt, würde ich heute dazu raten, diesen lieber zu wechseln, als es krampfhaft weiter zu versuchen. Für mich war das der richtige Weg.

© www.pixabay.com @Talpa

Was liegt Ihnen noch am Herzen?

Allen Menschen, die eine Behinderung haben und aus einem weiteren Grund diskriminiert werden können, weil sie zum Beispiel homosexuell, bisexuell oder transsexuell sind oder weil sie eine nicht-weiße Hautfarbe haben, möchte ich auch sagen, dass es nicht immer leicht ist, da man gleichzeitig mehrere Hindernisse in den Weg gelegt bekommt. Andererseits wird man durch diese Herausforderungen auch ein stärkerer und eigenständigerer Mensch. Man lernt, mit Schwierigkeiten umzugehen, für sich selbst und die eigene Meinung einzustehen. Mir fällt das heute noch manchmal nicht leicht, über meine Behinderung und meine Homosexualität zu reden, vor allem im beruflichen Kontext, da ich dort keine Schwächen zeigen möchte. Und doch muss man sich irgendwann gewissen Personen öffnen, da man sonst kaputt geht, wenn man immer nur verschwiegene Geheimnisse, Traumata und Verletzungen mit sich herumträgt – sei das im privaten oder im beruflichen Umfeld. Man braucht jemanden, mit dem man über alles reden kann und der im besten Fall ähnliche Erfahrungen gemacht hat oder die eigenen Erlebnisse zumindest gut nachvollziehen kann.

 

Die Epilepsie hat mich lange davon abgehalten, mich mit dem Thema Beziehung zu befassen. Da ich in meiner Jugend immer anderes zu tun hatte als mit den Dingen, mit denen sich Teenager in diesem Alter eigentlich nicht beschäftigen müssen – wie mit Anfällen oder Medikamenten –, stand für mich das Thema Partnerschaft lange gar nicht auf der Tagesordnung. Ich dachte nicht daran, eine Beziehung einzugehen, egal ob mit einem Mädchen oder einem Jungen, auch wenn ich die ersten Beziehungsversuche meiner Mitschüler ein wenig bewundernd und mit heimlicher Eifersucht beobachtete. Für mich selbst stand eine Beziehung lange außer Frage, hatte ich doch auch mein Verhältnis zu meiner Krankheit noch nicht geklärt und war noch ein halbes Kind. Über all dem schwebte auch die offene Frage, ob ich überhaupt eine Beziehung zu einer Frau eingehen wollte, die ich aber damals überhaupt noch nicht beantworten konnte, geschweige denn mir selbst stellte, außer in seltenen Stunden, in denen ich »Homosexualität« bei Google suchte und mich heimlich und mit schlechtem Gewissen bei einer Kennenlernplattform für schwule Jugendliche an- und dann rasch wieder abmeldete.

 

Erst im Studium war ich so weit, mich mit der Frage wirklich zu befassen. Erst die geografische Distanz zu meinem katholischen und dörflich-ländlichen Heimatort und zu meinen Eltern erlaubten es mir, mich wirklich selbst zu akzeptieren – trotz der Krankheit, die ich lange als »Makel« sah, trotz all der vielen Dinge, die dagegensprechen, sich selbst in Gänze zu akzeptieren und die von der Norm-Gesellschaft diskriminierungswürdig, schuldbehaftet oder sündig angesehen werden oder wurden.

 

Man muss über diese Urteile hinwegkommen, den eigenen Weg gehen und sich selbst akzeptieren, sonst wird man nie glücklich. Dass es dabei auch immer wieder Rückschläge gibt, ist auch klar. Doch das Leben ist ein ständiges Auf und Ab, kein lineares Voranschreiten. Und so entwickelt sich alles im Leben in Wellen, Phasen und Tendenzen, ohne dass man eine Norm oder eine Regel vorgeben kann. Wir sind alle unnormal, und das ist gut so.

 

Interview zusammengefasst von
Doris Wittig-Moßner