„Schreib‘ mal was“ – 2. Platz

F. Unkenholz

In unserer epiKurier-Ausgabe 3/2019 hatten wir einen Autorenwettbewerb für Kurzgeschichten rund um das Thema Epilepsie ausgeschrieben. Hier nun der 2. Platz mit dem tollen Beitrag von Friederike Unkenholz:

Das Märchenschloss

„Dürfen wir laufen, Mama?“, der fünfjährige Junge strahlt seine Mutter an.

„Ja, aber nur so weit, wie ich dich sehen kann, okay?“ Er nickt, die zwei springen auf und laufen den Gang zwei Meter entlang. Dann bleiben sie stehen und tun so, als ob sie surfen, um das Gleichgewicht zu halten, während die U-Bahn bremst.

„Beim Bremsen halt dich bitte fest!“, rufen beide Mütter gleichzeitig. Die Jungen rollen die Augen, aber fassen mit einer Hand an die Sitze neben ihnen. Die Bahn steht und die Jungen auch. Sie rennen zurück und werfen sich in die Schöße ihrer Mütter: „Das hat Spaß gemacht!“ Dann stellen sie sich wieder hin, um bei der Anfahrt die Bahn zu surfen.

Auf den Klappsitzen sieht ein Mädchen mit einer kleinen Beule auf der Stirn seine Mutter an. Die Frau zieht eine Augenbraue hoch und zuckt mit der Schulter. Das Mädchen weiß, was das heißt und runzelt ärgerlich die Stirn. „Ich will aber auch.“ Ihre Mutter Karla schaut auf die Anzeige – an der nächsten Haltestelle müssen sie raus. „Wir haben das besprochen.“ Das Mädchen verschränkt die Arme vor der Brust. Karla atmet tief durch und stellt sich mit ausgestreckten Armen vor das Mädchen, während der Zug ins Halten kommt: „Komm schon, Papa wartet draußen.“ „Ich hasse dich“, sagt das Mädchen und lässt sich von seiner Mutter auf den Arm nehmen. Sie stehen vor der sich öffnenden Tür, als Karla aus dem Viererabteil den Kommentar hört: „Ich dachte immer, Helikoptermuttis gibt es nur in Zeitschriften.“ Zum tausendsten Mal atmet sie tief durch und setzt einfach einen Schritt vor den anderen.

Die andere Mutter sieht ihr nach und bemerkt: „Ich glaube, das hat sie gehört.“ „Und wenn schon. Warum kann man denn sein Kind nicht mal machen lassen? Mein Gott, dann fällt es halt auch mal hin. Ist doch kein Weltuntergang.“

Da stellen sich die beiden Jungen neben sie, die gehört haben, was sie nicht hören sollen. „Mia kann nicht mehr Laufen ohne ihren Superhelm. Und wenn die den Helm manchmal nicht will, dann kann die nicht laufen. Darum war die auch so lange nicht im Kindergarten, weil die erst den Helm lernen musste.“

Mia rennt vom Auto bis zur Haustür: „Können wir jetzt endlich zuhause sein?“ Dennis legt lächelnd einen Arm um seine Frau. „Wir müssen einfach bald mit den anderen Eltern reden. Dann denkt auch niemand mehr so.“ Karla nickt trotzig.

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Während Dennis die Tür aufschließt, sieht Mia ihre Mutter entschuldigend an: „Ups, hab den Helm im Auto vergessen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, pest sie los ins Wohnzimmer. „Schuhe aus auf den Matratzen!“, ruft Dennis ihr vom Flur aus nach. Jeder Zentimeter des Bodens ist mit Matratzen und Kissen ausgelegt. Die Wände sind vollgehängt mit Luftballons und auf einem kleinen Plastiktisch mit einer Tischdecke aus Schafswolle findet Mia Seifenblasen, Bücher, eine Blockflöte und Malzeug. Mia springt auf den Gymnastikball, der sie wie ein Trampolin zurückfedert und ruft „Es ist das Märchenschloss!“, als sie sich wie eine Ballerina dreht und dabei die Dose Glitzerpuder einfach durch den Raum wirft. Karla lächelt und sagt mehr zu sich als zu Dennis: „Wenn wir die Medikamente nicht bald wieder eingestellt kriegen, müssen wir all das irgendwie in die U-Bahn bringen.“

„Atonisch.“, antwortet Dennis und stürzt zu seiner Tochter. Karla sieht wie automatisch auf ihre Armbanduhr, greift die Medikamententasche und stürmt das Märchenschloss. „Schon vorbei“, sagt Dennis kurz darauf. „Keine zwei Minuten.“

Am Abend, nach dem Spielen mit ihrem großen Bruder Fabian, legt sich die Familie auf das Matratzenmeer und sieht in den Sternenhimmel, der von einer Lampe an die Decke geworfen wird. „Papa, du hast überall Glitzer im Gesicht“, lacht Fabian. „Na toll, hoffentlich glauben mir meine Kollegen morgen, dass ich nicht von einer Fee entführt wurde. Sonst quetschen die mich den ganzen Tag nach meinen drei Wünschen aus!“ Daraufhin sagt jeder seine drei Wünsche an eine Fee. Müde öffnen sie die Absperrung zur Treppe und machen sich auf den Weg ins Bett. „Tut mir leid, dass ich das mit der Treppentür gestern vergessen hab.“, flüstert Fabian leise. „Schon gut, Schatz. Es ist ja zum Glück nur eine kleine Beule.“

Am nächsten Morgen steht Karla im Kindergarten vor verschlossener Tür. Sie hatte ganz vergessen, dass die Kinder heute in den Zoo fahren. Als sie sich umdrehen, kommt eine Erzieherin und drängt sie, doch noch mitzukommen. Heute trägt Mia ihren Superhelm voller Stolz, wegen dem neuen Glitzer, und der Zug fährt schließlich nur eine Station. Mia und Karla finden sich also auf den Klappsitzen nahe der Tür wieder, als eine der freiwilligen Mütter sich an Karla wendet: „Es tut uns sehr leid, was wir gestern gesagt haben. Wir haben uns etwas überlegt und hoffen, es hilft.“ Da zieht jedes Kind ein großes Kissen oder eine Decke aus seinem Rucksack und legt es auf den Boden. Mias Freund Jonas zeigt mit dem Finger auf den Boller-wagen am anderen Ende des Gangs und sagt: „Im Zoo kannst du eine glitzernde Superheldin oder eine Prinzessin in der Kutsche sein. Aber einmal will ich auch in den Wagen, ja?“

Friederike Unkenholz