Treat-ION

Schematische Darstellung eines Natrium- und eines Kalium-Kanals mit entgegengesetztem Ionenfluss durch die Kanalpore (Natrium fließt in die Zelle, Kalium aus der Zelle heraus, jeweils entlang der entsprechenden Ionengradienten)
Bildquelle: Ulrike Hedrich-Klimosch

Neue Therapien für seltene Ionenkanal- und Transporterstörungen


Seit 2019 wird der Forschungsverbund Treat-ION vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), mittlerweile in der zweiten Förderperiode, gefördert. Der Forschungsverbund besteht aus einem Experten-Netzwerk mit sieben (in der ersten Förderperiode acht) Standorten in Deutschland und Luxemburg (s. Karte) und wird von Tübingen aus unter der Leitung von Prof. Dr. Holger Lerche koordiniert.


Ziel des Projektes

In Deutschland sind bis zu 30.000 Menschen von einer Ionenkanal- oder Transporterstörung betroffen. Oft leiden die Patienten unter therapieresistenten Symptomen, sodass neue Behandlungsansätze notwendig sind. Unser Ziel ist es, neue und zielgerichtete, individualisierte Therapien (auch »precision therapy« oder Präzisionstherapie genannt) für Menschen mit Ionenkanal- oder Transporterstörungen zu entwickeln und damit die Patientenversorgung und Prognose dieser Gruppe von seltenen Erkrankungen zu verbessern.

Was sind Ionenkanäle und Transporter?

Ionenkanäle und Transporter sind Proteine (Eiweiße) in der Zellmembran (Zellwand), die für den Ionenaustausch über die Membran und somit für die elektrische Erregbarkeit und Weiterleitung von elektrischen Signalen von Nerven- und Muskelzellen verantwortlich sind. Defekte (Mutationen) in Genen, die die Erbinformation für die Herstellung dieser Kanäle und Transporter enthalten, können den Ionenaustausch verändern und dadurch die Erregbarkeit von Nerven- oder Muskelzellen beeinflussen. In der Folge können neurologische Erkrankungen auftreten, wie z. B. genetisch bedingte Epilepsien, Migräne, Autismus, genetisch bedingte Schmerzstörungen, episodische und chronische Ataxien, Muskelsteifigkeit (Myotonie) oder vorübergehende Lähmungserscheinungen. Diese werden als Ionenkanal- und Transporterstörungen zusammengefasst.

Bildquelle: pixabay.com @fernandozhiminaicela

Interdisziplinäre Zusammenarbeit im Treat-ION-Verbund

In acht Teilprojekten widmen sich Kliniker und Forscher der Verbesserung von Diagnostik und Versorgung von Menschen mit seltenen Ionenkanal- oder Transporterstörungen. Durch die enge interdisziplinäre Zusammenarbeit von Forschung und klinischer Anwendung sollen individualisierte therapeutische Behandlungsmöglichkeiten etabliert werden. In den grundlagenwissenschaftlichen Teilprojekten wird auf molekularer und zellulärer Ebene an den Auswirkungen von Kanalmutationen und die Wirksamkeit spezifischer Wirkstoffe auf die mutationsbedingt veränderte Kanalfunktion geforscht. Ein translationaler Prozess zwischen Forschern, Klinikern und Patientenvertretern überträgt die basiswissenschaftlichen Erkenntnisse in die klinische Praxis, z. B. im Rahmen von explorativen einzelnen Fallstudien (individuellen Heilversuchen). Ein besonderer Aspekt ist dabei die Anwendung bereits verfügbarer Arzneimittel, die häufig für ganz andere Indikationsfelder zugelassen sind, aber gleichzeitig die Funktion des betroffenen Kanals beeinflussen (sog. »drug repurposing«).

 

Verbesserung der Patientenversorgung

Um die Versorgung von Patienten mit seltenen Ionenkanal- und Transporterstörungen schon jetzt zu verbessern, wurde in Treat-ION ein molekular-therapeutisches Board (MTB) etabliert, bei dem sich Experten zu besonders komplexen Fällen austauschen und neue präzisionsmedizinische Therapieansätze diskutieren und vorstellen. Das MTB ist zum einen in der Deutschen Akademie für Seltene Erkrankungen (DASNE) verankert, zum anderen in zwei internationalen wissenschaftlichen Tagungen im jährlichen Wechsel in Tübingen (»Channelopathy Meeting«) und in Dianalund/Dänemark (Dianalund International Conference on Epilepsy – DICE), und drittens innerhalb der Europäischen Referenz-Netzwerke für seltene neurologische Erkrankungen (ERN-RND) und für seltene Epilepsien (EpiCare).

 

Aktuell in der Startphase befindet sich ein neu geschaffenes Gremium, das sog. »Treatment-Board«, das den translationalen Prozess vor allem im Kontext von »drug repurposing« begleiten soll, wenn Arzneimittel nicht für die vorgesehene Krankheit bzw. Indikation zugelassen sind, aber aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse potenziell wirksam sein sollten. Dabei werden alle Informationen zu einem Patienten mit einer bestimmten Mutation gesammelt und von einem Expertengremium (Kliniker, Forscher, Ethiker, Patientenvertreter, Gen-Experten) diskutiert, um über die bestmögliche individuelle Therapie für diesen Patienten zu entscheiden. Besonders wichtig sind dabei die Risiko-Nutzen-Abwägung und die Transparenz der Entscheidung.

 

Um in Zukunft die Versorgung von Patienten mit seltenen Ionenkanal- und Transporterstörungen zu erleichtern, werden im Forschungsverbund Treat-ION Vorhersageinstrumente entwickelt. Durch die Entwicklung eines Systems, das klinische Entscheidungen durch bioinformatische Auswertungen unterstützen soll (»Clinical Decision Support System« – CDSS), wird die fachkundige Interpretation genetischer Mutationen zuverlässiger werden und sowohl Genetiker als auch Neurologen bei der Bewertung der Mutationen und den daraus entstehenden therapeutischen Möglichkeiten in der täglichen klinischen Praxis unterstützen.

Bildquelle: pixabay.com @swiftsciencewriting

Verbesserung der Diagnostik

Für eine individuell angepasste Therapie ist es erforderlich, eine genaue Diagnose stellen zu können, was durch Genomsequenzierungen erreicht werden kann, da fast alle Ionenkanal- und Transporterstörungen genetisch bedingt sind. Der Forschungsverbund Treat-ION ist an zahlreichen internationalen Initiativen beteiligt, in denen (wie z. B. in Solve-RD) Re-Evaluierungen oder auch eine (erneute) Sequenzierung bei bisher unklarer Diagnose durchgeführt werden. Von Treat-ION wurde über das Solve-RD-Projekt hinaus ein weiteres internationales Sequenzierprojekt gestartet, in dem Patienten mit früh einsetzenden Epilepsien, verbunden mit Entwicklungsverzögerungen und bisher unklarer Diagnose, untersucht werden. Ziel ist es, die Ursache der Erkrankung zu finden und darauf aufbauend individualisierte therapeutische Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln.

Standorte der Treat-ION Partner. blau: Förderperiode 1 und 2, schwarz: Phase 1, grün: Phase 2. Übersicht der beteiligten Forschungseinrichtungen und Kliniken unter treat-ion.de
Bildquelle: Treat-ION (Bearbeitung Christina Vossler-Wolf)

Das Treat-ION-Register

In Treat-ION wurde zudem ein Register entwickelt, in dem alle verfügbaren Informationen zur Ausprägung der Krankheit (Symptomatik) und den erfolgten Untersuchungen (Diagnostik) sowie zu Behandlungsmöglichkeiten gesammelt werden. Mit dieser Grundlage wird es zukünftig einfacher möglich sein, passende Kohorten für Studien zu bilden. Das Register umfasste zunächst Epilepsie-Patienten und ist mittlerweile um Krankheitsbilder mit Ataxien, Schmerz und Migräne ergänzt. In einer internationalen Kooperation werden Patientendaten von behandelnden Ärzten in das Register eingetragen. Seit Kurzem steht auch für Patienten ein Formular zur Verfügung, mit dem sie sich selbst registrieren können. Diese Eintragungen werden dann mit den Patienten und Ärzten, die das Register führen, sowie nach Möglichkeit auch mit den behandelnden Ärzten gemeinsam eingeordnet und in eine endgültige Eintragung überführt.

 

Christina Vossler-Wolf

Links:

DASNE: dasne.de

Channelopathy Meeting: treat-ion.de/events/

 

ERN-RND: ern-rnd.eu

EpiCare: epi-care.eu

Solve-RD: solve-rd.eu

Patienteneintrag Register: treat-ion.de/register/die-datenbank/

 

Kontakt:

Dr. Christina Vossler-Wolf
Projektmanagement

Zentrum für Seltene Erkrankungen Tübingen

Calwerstr. 7

72076 Tübingen

07071 29 72333

christina.vossler-wolf(at)med.uni-tuebingen.de