Valproinsäure

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Gefährlicher Wirkstoff oder weiterhin wertvoll in der Epilepsiebehandlung?

 

Valproinsäure ist ein sehr bekannter, seit vielen Jahren verfügbarer, künstlich hergestellter Wirkstoff, der gegen epileptische Anfälle eingesetzt werden kann. Valproinsäure ist auch heute noch eine potente und nicht unbeliebte Substanz, die gerne verordnet wird, recht bekannte Handelsnamen sind z. B. Convulex®, Orfiril® oder Ergenyl®.

 

1962 wurde die antikonvulsive Wirkung der Valproinsäure zufällig entdeckt: Auf der Suche nach neuen Wirkstoffen gegen Epilepsie stellte sich in Experimenten heraus, dass die beobachtete Wirkung gar nicht auf die getesteten Stoffe zurückging, sondern auf eine Lösungsmittel-Substanz, eben Valproinsäure (Valproat; abgekürzt VPA).

 

Aus mehreren Gründen galt VPA in der damaligen Zeit als ein großer Gewinn und Fortschritt im Arsenal der zur Verfügung stehenden Medikamente gegen epileptische Anfälle: Es gab schlicht noch nicht sehr viel Auswahl und die anderen erhältlichen Wirkstoffe wie Phenobarbital (sedierend) oder Phenytoin (teils toxisch) hatten spezielle Nachteile. VPA erwies sich als insgesamt sehr gut verträglich und zeigte vor allem eine recht breite Wirksamkeit gegen verschiedene Anfallsformen. Insbesondere bewährte sich VPA durch eine besonders gute Effektivität gegen sogenannte generalisierte Epilepsien (= idiopathisch generalisierte Epilepsien, z. B. Absencen-Epilepsie, juvenile myoklonische Epilepsie). Teilweise wurde und wird VPA als Mittel der ersten Wahl bei diesen Epilepsien empfunden.

Allerdings sind nachteilige Eigenschaften von VPA seit langem bekannt: Neben den üblichen dosisabhängigen Nebenwirkungen, die jedes Antikonvulsivum haben kann (Dämpfung des Zentralnervensystems mit Müdigkeit, Schwindel, Sehstörungen, Übelkeit etc.), wenn die Dosis individuell zu hoch ist, gibt es ein breites Spektrum möglicher Nebenwirkungen und Eigenschaften, die typisch sind für VPA. So kann z. B. ein Zittern der Hände auftreten (Tremor) oder Haarausfall, oder es kann sich z. B. das Blutbild verändern (Mangel an Blutplättchen = Thrombozytopenie). Bei einem Teil der Patienten, meistens Frauen, sieht man u. U. eine deutliche Gewichtszunahme oder es treten Unregelmäßigkeiten bei der Regelblutung auf, diese Symptome deuten auf eine hormonelle Störung durch VPA hin. Manchmal bewirkt die Gabe von VPA eine Stoffwechselveränderung mit Erhöhung des Anteils von Ammoniak im Blut. Nicht immer sind die genannten Auswirkungen so markant oder gravierend, dass die Behandlung abgebrochen werden muss. Weiterhin ist wichtig, dass VPA einen allgemeinen Einfluss auf einige Funktionen im Organismus hat. Dort wird die Wirkung bestimmter Enzyme verlangsamt, man nennt dies Enzyminhibition. Diese ist der Grund dafür, dass VPA wichtige Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten haben kann.

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Am gravierendsten ist die Tatsache, dass VPA fruchtschädigend auf Kinder im Mutterleib (= teratogen) wirken kann. Dies bedeutet, dass das ungeborene Kind durch die VPA-Einnahme der Schwangeren in seiner Entwicklung geschädigt werden kann, und diese Problematik ist nicht selten. Die möglichen Probleme beim Kind beinhalten auch schwerwiegende kindliche Fehlbildungen, wie z. B. Spina bifida (= offener Rücken). Zudem hat die Wissenschaft gezeigt, dass auch die allgemeine Entwicklung eines Kindes, das im Mutterleib VPA ausgesetzt war, beeinträchtigt sein und unterdurchschnittlich verlaufen kann, z. B. im Hinblick auf den IQ. Aus diesem Grund wird es heute als sehr kritisch gesehen, VPA bei Frauen im gebärfähigen Alter einzusetzen.

 

VPA ist seit einiger Zeit erneut „ins Gerede gekommen“ und vermehrt in den Fokus des Interesses gerückt. Grund ist ein sogenannter „Rote-Hand-Brief“ der deutschen Arzneimittelbehörden, der zum einen nochmals auf diese Sachverhalte hingewiesen und zum anderen die Anforderungen an die Aufklärung und die regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit dieser Medikation strenger geregelt hat. Daneben gab es Berichte in den Medien über einen großen Arzneimittel-Skandal in Frankreich in jüngerer Zeit mit mangelnder Aufklärung von Patientinnen durch Ärzte, in dessen Folge einige 1.000 (!) geschädigte Kinder zur Welt kamen.

 

Es ist wichtig zu betonen, dass unter Spezialisten (Neurologen und Epileptologen) die genannten Sachverhalte zum Nebenwirkungsspektrum inklusive der potentiell fruchtschädigenden Wirkungen (= Teratogenität) von VPA eindeutig und lange bekannt sind, ernst genommen werden und einen differenzierten Einsatz des Medikamentes bedingen.

 

VPA ist immer noch ein sehr guter, sehr effektiver Wirkstoff, der nicht verteufelt werden sollte und weiterhin einen berechtigten Platz in der Medikamentenauswahl haben kann, auch bei weiblichen Patienten. Allerdings sollte VPA sehr differenziert und wohlüberlegt eingesetzt werden.

 

Dies bedeutet:

  • VPA ist kein „Breitspektrum-Antikonvulsivum“. Früher galt es z. B. als gute Option, VPA einzusetzen, wenn die nähere Einordnung der Epilepsie als „generalisiert“ oder „fokal“ nicht gelang, da „es viel abdeckt“. Die bei uns gültigen Leitlinien zur Behandlung der fokalen Epilepsien nennen schon andere Wirkstoffe als erste Wahl (Lamotrigin, Levetiracetam).
  • VPA sollte nicht reflexhaft als Erstes ausgewählt werden, wenn eine generalisierte Epilepsie vorliegt. Es gibt für diese Gruppe der Epilepsien mittlerweile eine Reihe ebenfalls gut geeigneter und zugelassener Medikamente.
  • VPA sollte gerade bei jungen Mädchen zurückhaltend eingesetzt werden. In jungen Jahren wird noch zu oft nicht an eine mögliche Schwangerschaft bzw. einen späteren Kinderwunsch gedacht. Es entstehen so z. B. Situationen, in denen dann bei Anfallsfreiheit das wirksame Medikament entfernt werden muss, um die Teratogenität zu eliminieren. Dies birgt u. U. das Risiko erneuter Anfälle inklusive der Konsequenzen für Psyche, Beruf und Fahrtauglichkeit.
  • Viele medizinische Situationen mit der Notwendigkeit von Medikation –   aktuell und im zukünftigen Leben von Epilepsie-Patienten – profitieren davon, wenn ein Antiepileptikum genommen wird, das wenig bis keine Wechselwirkungen hat. Das gilt auch für Epilepsiemedikamente selbst, sofern eine Kombinationstherapie gegeben wird. Insofern kann VPA nachteilig sein.
  • Bei Einsatz von VPA sollten auch Dosis-Fragen beachtet werden. Manchmal ist eine geringe Dosis einsetzbar, die eben nicht das volle Ausmaß der o. g. Nebenwirkungen befürchten lässt.
  • VPA sollte angesichts der aktuellen Diskussionen nicht reflexhaft und unreflektiert abgesetzt werden, vor allem bei Patienten, die gut, stabil, anfallsfrei eingestellt sind. Vielmehr ist angezeigt, das Gespräch zu suchen, den Sachverhalt zu erläutern, die Situation zu eruieren und zu bewerten sowie das Vorgehen zu besprechen, insbesondere bei weiblichen Patienten im gebärfähigen Alter.

Burkhard Kasper

Kontakt:

Prof. Dr. med. Burkhard Kasper

Ltd. Oberarzt EZE

Universitätsklinikum Erlangen

Epilepsiezentrum (EZE)

Schwabachanlage 6

91054 Erlangen

Tel.: 09131 8539116

burkhard.kasper(at)uk-erlangen.de

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