Zwangssterilisation bei Menschen mit Epilepsie im 3. Reich
Folgen der NS-Erbgesundheitsgesetze
»Ich habe mich nicht getraut zu fragen, obwohl ich Patienten hatte, die vom Alter her unter das Gesetz gefallen sind. Ich war unsicher, es waren ja auch Ärzte, die als Gutachter und Vollstrecker tätig waren. Man tat so, als hätte es den NS nicht gegeben. Heute bedauere ich das sehr, dass ich diese Zeit nicht angesprochen habe, meine Patienten nicht gefragt habe, wie es ihnen damit erging.«
Nach einer Veranstaltung über die Folgen der Erbgesundheitsgesetze während der Nazizeit kam ein pensionierter Neurologe auf mich zu. Wir hatten darüber gesprochen, dass es nur Weniges darüber gibt, wie Menschen mit Epilepsie die Zeiten während und nach dem Nationalsozialismus (NS) erlebten. *1
Rassenhygienische Vorstellungen, d. h., dass kranke und schwächere Menschen und solche mit Behinderungen keine Kinder zeugen sollten, gab es schon im 19. Jahrhundert in Europa und weltweit. Aber auch Menschen, die z. B. straffällig (Kriminelle) oder obdachlos (Vagabunden) wurden und die keine Arbeit hatten (Arbeitsscheue), gehörten zum Kreis derjenigen, die nichts zu einem »gesunden Volkskörper« beitragen würden. Der Einzelne wurde nur noch unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit für das (deutsche) Volk bewertet.
Die NSDAP errang bei den Wahlen im März 1933 die Mehrheit; der nationalsozialistischen Regierung unter Adolf Hitler gelang es in kürzester Zeit, das Parlament (Deutscher Reichstag) auszuschalten und sich zu ermächtigen, Gesetze und Verordnungen zu erlassen, auch wenn sie der Verfassung widersprachen. Eines ihrer ersten Gesetze war das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14.07.1933 (GzVeN, RGBl. I S. 529):
(1) Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.
»Erbliche Fallsucht« war eine von acht (mit Alkoholismus neun) genannten Krankheiten/Behinderungen. Das Gesetz wurde durch weitere Gesetze sowie Verordnungen ergänzt, so dass Sterilisation auch gegen den Willen der vom Gesetz Betroffenen, also zwangsweise, durchgeführt werden konnte. Ergänzend war Abtreibung bis zum 6. Monat aus eugenischen Gründen möglich, Verbot der Heirat, es sei denn, der Partner ist auch sterilisiert, und Erlasse wie Erbgesundheit als Voraussetzung, höhere Schulen zu besuchen und Ausbildungen zu machen, z. B. zur Kindergärtnerin und für Pflegeberufe.
Es gab eine Pflicht zur Anzeige, u. a. für Heilberufe, Anstaltsleiter, verbeamtete Ärzte und Fürsorgerinnen, die im kommunalen Gesundheitssystem arbeiteten, aber auch Lehrer, Nachbarn oder Kollegen und niedergelassene Ärzte konnten eine Meldung machen. Es kamen vor allem die »leichteren« Fälle und Wohlfahrtsempfänger in Blick, bei »schweren« kam Heirat ohnehin nicht in Frage.
Die extra neu geschaffenen Erbgesundheitsgerichte (EGG) und Erbgesundheits-Obergerichte (EGOG) entschieden über die Anträge. Etwa 300.000 Menschen, darunter zwischen 16-20 % mit Epilepsie *3, wurden sterilisiert. Den Kommentaren zum Gesetz kann entnommen werden, dass die Erblichkeit auf Prämissen beruhte, die behauptet wurden: »Ein Fachmann konstatierte über die Epilepsie: ‚Keine Methode ist bisher zuverlässig‘, ihre Erblichkeit zu erkennen und mit ‚Gruseln‘ sah er, wie ‚Krampfkranke‘ und ‚Fallsüchtige‘ summarisch als ‚Erbepileptiker‘ sterilisiert wurden«*4.
Eine Betroffene sagt:
»Zur gleichen Zeit, als ich sterilisiert worden bin, hat meine Großmutter das Goldene Mutterkreuz gekriegt, weil sie neun gesunde Kinder auf die Welt gesetzt hat, die alle noch lebten, bloß einer war im 1. Weltkrieg gefallen. Sonst waren sie alle noch da. Und haben für Hitler in der Rüstungsindustrie gearbeitet, ne? Aber ich war erbkrank. Ja, der Amtsarzt, den ich nie gesehen habe, hat das beantragt*5.«
Die Erblichkeit war gar nicht immer maßgebend. Wenn das EGG der Meinung war, dass »minderwertige Nachkommen« zu erwarten waren, konnte die Begründung auch geändert werden:
»… Die Kranke ... gab bei der persönlichen Vorstellung in der mündlichen Verhandlung die Anfälle zu, war leicht gereizt, sonst aber geordnet und unauffällig. Die Erblichkeit des Krampfleidens ist zwar nicht erwiesen. Da die Kranke aber aus sozial sehr ungünstigen Verhältnissen stammt und mit einer erblichen Minderwertigkeit etwaiger Nachkommen sicher gerechnet werden muss, hat das Erbgesundheitsgericht dem gestellten Antrage entsprechend auf Grund der §§ 1 Abs. 1 u.2 Ziff., 4, 13 Abs. 1 des Gesetzes v. 14.7.33 (RGBl. I S. 529) die Unfruchtbarmachung der Kranken beschlossen *6.«
Sterilisation führte bei vielen zu gesundheitlichen Folgen und langjährigen Beschwerden. Es wird geschätzt, dass bis zu 6.000 Frauen und mehrere hundert Männer an den Eingriffen starben.
Nach dem Krieg wurden Zwangssterilisierte nicht als NS-Verfolgte anerkannt und fielen daher nicht unter das Bundesentschädigungsgesetz, weil die Sterilisation auf gesetzlicher Grundlage erfolgt sei und die Erbgesundheitsgesetze nicht als typische Nazi Unrechts-Gesetze galten. Bis 1998 blieben die Urteile rechtsgültig. Wer nach dem Krieg ein Wiederaufnahmeverfahren beantragte und dafür ein ärztliches Gutachten brauchte, stand häufig vor denselben Gutachtern wie in der NS-Zeit. So verwundert es nicht, dass nur ein sehr geringer Anteil der Entscheidungen im Sinne der Antragssteller ausging.*7
Viele schämten sich, über das erlittene Unrecht zu sprechen. Erst 1980 gab es eine Einmalzahlung an die Opfer, sofern sie Anträge stellten, 8 Jahre später Beihilfen – alles auf komplizierten Antragswegen und erst 2007 wurden die Gesetze durch den Deutschen Bundestag geächtet und Zwangssterilisierte gesellschaftlich rehabilitiert. Das Schweigen und die Verweigerung der Anerkennung des Unrechts (»schleppende Entschädigung«) führten erneut zu Diskriminierung und Abwertung.
Eine Betroffene schreibt:
»Von einer Wiedergutmachung im Sinne des Wortes kann ja niemals die Rede sein. Wir haben zu viel durchstehen müssen in all den Jahren! Was wir an Demut und Komplexen in den Jahren zu überwinden hatten kann nur derjenige beurteilen, der alles selbst durchstehen musste. Dass man uns so lange vergessen hat, ist schon deshalb unverantwortlich, weil viele von uns schon lange gestorben sind! Nach Sachlage erwarte ich keinerlei Handlungen größerer Art.*8«
Tausende Menschen mit Epilepsie sind vom NS-Regime und seinen Helfern in der Bevölkerung als minderwertig verurteilt worden. Nur wenige haben darüber gesprochen oder geschrieben. Es bleibt offen, welche Auswirkungen dieses Unrecht heute auf unsere Wahrnehmung von Menschen mit Epilepsie hat.
Margarete Pfäfflin
*Quellen:
- 1 Der „Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten“ (BEZ) wurde 1987 in Detmold gegründet mit dem Ziel, dass Betroffene, die unter die Erbgesundheitsgesetze der Nazizeit fielen als NS-Geschädigte anerkannt werden, sie erhielten Beratung, Aufklärung, Hilfen. Ein Aktenbestand mit > 1.300 Datensätzen, darunter 150 mit dem Stichwort „Zwangssterilisation“ und darunter 10 aufgrund von „erblicher Fallsucht“ enthält Berichte und Interviews Betroffener (Landesarchiv Detmold (LAV OWL D107_73). Eine empfehlenswerte Auswertung dieser Selbstberichte ist die von Stefanie Westermann (2010) Verschwiegenes Leid. Der Umgang mit den NS-Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik Deutschland. Böhlau-Verlag, Köln.
- 2 Roelcke V (2002) Zeitgeist und Erbgesundheitsgesetzgebung im Europa der 1930er Jahre. Nervenarzt 73:1019-1030.
- 3 Fischer M (2018) Zwangssterilisation und „Euthanasie“ in Landshut. Schriftenreihe des Stadtarchivs Landshut zur Zeitgeschichte;
- Henning J (2000) Zwangssterilisation in Offenbach am Main 1934-1944. Mabuse Verlag, Frankfurt/Main
- Pfäfflin M (i.V.) Folgen der Erbgesundheitsgesetze für Menschen mit Epilepsie – die Sicht der Betroffenen (Arbeitstitel)
- 4 Bock G (1986/2010) Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. MV Wissenschaft, Münster 2010. Nachdruck der Erstausgabe 1986. www.mv-wissenschaft.com (S. 363).
- 5 Westermann, ob cit, S. 278
- 6 GA Bielefeld 106,1, Nr.1876, Bl.12
- 7 Westermann, ob cit, S. 115
- 8 Westermann, op.cit., S. 266f