Der (etwas?) andere Alltag von Müttern besonderer Kinder

Teil 2: Persönliches Erleben und Familiensituation

Ich fühlte oft die Schmerzen
Wenn mich das Schicksal schlug.
Verschwiegen ruht im Herzen,
was ich mit Wehmut trug.
 
Mein Sehnen, Suchen, Fragen
scheint mir vergebens fast.
Was mir bestimmt zu tragen,
ist eine schwere Last.

Doch wenn mir Leid und Sorgen,
die mir beschieden sind
verdunkeln woll´n das Morgen,
als wär´ die Hoffnung blind.

Dann suche ich die Stelle,
die einer Insel gleicht
und wo des Zwiespalts Welle
kein Menschenherz erreicht.

Die Einsamkeit wird Quelle,
dort schöpf ich neue Kraft.
Die Dunkelheit wird Helle
und Leben Leidenschaft.

(Autor(in) unbekannt)

Einleben in die neue Familiensituation
Durch die besondere Situation ihres Kindes wird die Frau nicht nur zur Mutter, sondern zur Mutter eines mit (Schwerst-) Behinderung lebenden Kindes. Sie muß sich nunmehr nicht nur in die Mutterrolle hineinfinden, sondern sich auch noch mit der Behinderung und deren Bedeutung für ihr Leben auseinandersetzen. Die Mutter, selber meist aufgewachsen in einem Sozialgefüge mit Ausblendung und/oder Ächtung von Behinderung, bes. schwerster Behinderung, steht jetzt vor der zunächst unlösbar scheinenden Aufgabe der Zusammenführung ihrer eigenen Einstellung (oft Ablehnung) zu Behinderungen und der sozial und intrapersonal so erwünschten Liebe zu diesem Kind. Es gilt die Ambivalenz von Ablehnung der Behinderung und Liebe zum Kind auszuhalten und letztlich in Einklang zu bringen. Die besondere Schwierigkeit liegt darin, daß sich die Ursache zur Ablehnung (= die Behinderung) und der Grund zu lieben (= das eigene Kind) in dieser einen Person untrennbar manifestiert haben.

 

"Der Weg, den ein Kind mit geistiger Behinderung bei seiner Entwicklung geht, wird häufig für Kind und Eltern auch beschwerlich sein." (Bundesvereinigung Lebenshilfe 1997, 14) Und dieser Weg liegt jetzt - in Ziel, Richtung und Länge noch völlig unklar - regelrecht angsteinflößend vor ihnen.


Emotionale Belastung
Die emotionale Belastung ist von besonderer Bedeutung für das Leben und Erleben der Mütter. Sie befinden sich bei Diagnosestellung oft schlagartig am Anfang eines umfangreichen Trauerprozesses. Diese emotionale Belastung strömt in einer Dichte, Schwere, Intensität und Dauer auf die Mütter ein, die kaum vorstellbar und den meisten von ihnen in dieser Form unbekannt ist.
Ziel der Trauerarbeit sollte es sein, durch die Verarbeitung all der schweren Gefühle hin zu einem erfüllten Leben (mit dem besonderen Kind) zu finden. Dies ist leichter gesagt als getan, da die Gefühle immer wieder durch verschiedene Ereignisse im Leben aufgewühlt werden. Und dies ein Leben lang.


Ganz egal wie schwer, verwirrend, beschämend oder unpassend erscheinend die Gefühle sein mögen, sie sind eine reale Kraft und ein Teil der Person, mit der die Mütter von Kindern mit (Schwerst) Behinderung lernen müssen umzugehen. Es gilt zu lernen, daß Gefühle niemals schlecht sind, sondern nur das zu bewerten möglich ist, was aus diesen Emotionen an Worten und Taten entsteht. Um die Sprache der Gefühle zu erlernen muß Mann/Frau stark sein.
Es kann "nur" darum gehen ein Höchstmaß, bzw. eine Grundtendenz eines positiven und erfüllten Lebens zu erlangen, das möglichst stabil ist und den Müttern auch in schweren Zeiten als Basis und Sicherheit bleibt. Eine Basis auf die sie in und nach jeder Krise zurückgreifen können.


Belastungssituation
Mütter besonderer Kinder stellen oft hohe Anforderungen an sich, bzw. die Situation läßt zunächst wenig andere Möglichkeiten offen als den täglichen Anforderungen gerecht zu werden.


"Will man den Weg einer begründeten, zielgeleiteten, dialogischen, individuell ausgerichteten und einer prinzipiell sich zukünftig selbst erübrigenden Erziehung von Menschen mit schwerster Behinderung gehen, gerät man schnell, oft allein gelassen und ohne adäquate Ausbildung, in ein Unterfangen voller Ungewißheiten, Anstrengungen, Motivations- und Sinnkrisen." (Rebmann 1996, 186)


Der Begriff "Belastung" ist kein objektiv bewertbarer. Jede Mutter empfindet diese Belastung auf dem Hintergrund ihrer Biographie, ihrer persönlichen Einstellung, ihrer "Tagesform", ihres physischen und psychischen Allgemeinzustandes und natürlich immer im Zusammenhang mit dem Wohlbefinden des besonderen Kindes, anders.


Wacker führt aus, "daß es generell weniger die physischen als vielmehr die psychischen Beanspruchungen sind, die sich im Belastungsempfinden der Frauen negativ niederschlagen." (Wacker 1995, 29) Hierzu gehören Sorgen bezüglich des Gesundheitszustandes des Kindes, seiner Entwicklungsmöglichkeiten, Infragestellen der eigenen Wertigkeit, unsoziales und abwertendes Verhalten der Umwelt, Zukunftssorgen und noch viele andere Belastungen, sowohl externer wie auch intrapersonaler Art.


Familienleben
Das Familienleben ist geprägt durch die Bedürfnisse des Kindes. Die Mutter, die ja nicht nur Verantwortung für ihr besonderes Kind, sondern auch für die Erziehung und das Wohlergehen der Geschwisterkinder trägt, kommt dabei in die Bedrängnis, Zeiten für und Unternehmungen mit der Familie zu ermöglichen, die auch in "normalen" Familien üblich sind. Es besteht auch die Gefahr, daß ein Familienleben, wegen der Konzentration auf das besondere Kind, kaum noch stattfindet. Auffälligkeiten (z.B. Schulprobleme) der Geschwisterkinder können für die Mutter besonders bedrückend sein, da sie sich für die gute, "sozial erwünschte" Erziehung verantwortlich fühlt. Nicht selten obliegt dem Geschwisterkind auch eine (unbewußte) Aufgabe der Wiederherstellung der gesellschaftlichen Anerkennung. Da alle Familienmitglieder durch die Behinderung des besonderen Kindes in einer sozial auffälligen Familie leben, wird jedes Abweichen eines Familienmitgliedes von der Norm diese Familie noch auffälliger machen.


Geschwisterkinder können innerhalb der Familie auch eine auflockernde Funktion haben: Frau M. "Geschwisterkinder sind im Familienleben äußerst wichtig und eine große Hilfe wegen ihrer unkomplizierten, offenen und bisweilen etwas rücksichtslosen Art im Umgang mit dem Behinderten."


Partnerschaft

Durch die hohe physische und psychische Beanspruchung der Mutter besteht auch die Gefahr, daß die Behinderung sich zwischen die Partner schiebt. Fehlende gemeinsame Zeiten, belastete Gespräche, durch seelische und körperliche Erschöpfung verursachtes sexuelles Desinteresse und unterschiedlicher Umgang mit der Trauer, sind nur einige Punkte, die die Ehe belasten können. Frau H.: "Es bleibt keine Zeit für sich als Partner. Ins Bett und bloß schnell einschlafen, wer weiß wie oft und wie lange er heute Nacht macht."


Viele Mütter der Befragung betonten, wie wichtig hier die Unterstützung professioneller und sozialer Netzwerke ist, damit "auch die Partnerschaft noch eine Chance hat." Frau P.: "Ich wünsche mir eine Eheberatung mit Hintergrundwissen über die Situation im Zusammenleben mit einem schwerstbehinderten Kind."


Zur Literatur:
Bundesvereinigung Lebenshilfe (Hg.) (1997): "Was können wir jetzt tun?",
Marburg Rebmann, (1996): Rituale in der Erziehung von Menschen mit schwerster Mehrfach-Behinderung; In: Behindertenpädagogik 35 (1996) 2
Wacker, E. (1995): Familie als Ort der Pflege; Leben mit einem behinderten Kind in bundesdeutschen Haushalten; In: Geistige Behinderung 1, 19 -35 Dorothea Wolf-Stiegemeyer, Melle