Elterngruppe Anfallskontrolle - Kein schneller Weg zum Ziel

Referat in dem Elternseminar „Langsamkeit“, Bielefeld 22. Juni 2002

1. Kann das Gehirn Anfälle lernen?
Ja, die Nervenzellen im Gehirn können tatsächlich Anfälle “lernen” und somit auch wieder “verlernen”.

In dem Buch von Gerd Heinen und Christiane Schmidt-Schönbein (1999) wird sehr schön erklärt, wie Nervenzellen sich gegenseitig „anstecken“ können. Das bedeutet, dass Nervenzellen epileptische Erregung an andere Nervenzellen weitergeben können, wenn diese aufnahmebereit für diese Information sind. Sind die Nervenzellen aber anderweitig beschäftigt, können sie die epileptische Aktivität nicht annehmen, sondern sind durch die andere Aktivität blockiert oder durch Medikamente besetzt.

Die Aktivität lässt sich bis zu einem gewissen Grad beeinflussen. Es kommt dann darauf an, ob sich die erregten Hirnzellen durchsetzen oder die anderen „beruhigen“. So wie die Medikamente sozusagen von außen die erregten Nervenzellen beruhigen, gelingt die Beruhigung manchmal auch mit Hilfe von anderen Mitteln.

2. Kindliche Anfälle sind ein multifaktorielles Geschehen
Je nach Vorschädigung, Anfallstyp, Intensität des Anfallsgeschehens, Anfalls-Frequenz, speziellen Schäden im Gehirn z.B. Missbildungen, aber auch bei besonderen Stoffwechselerkrankungen, je nach Alter des Kindes (das sich auf die Hirnreifung auswirkt) und der Wirkung von Medikamenten und deren Nebenwirkungen sind auch die Einflussmöglichkeiten ganz unterschiedlich. Auch Fieber kann eine wichtige Rolle beim Auftreten von Anfällen spielen.

Heinen und Schmidt-Schönbein haben ein Stufenmodell aufgestellt, wie eine Anfallserkrankung entstehen kann. Folgende Faktoren sind wirksam:

  • er worbene/ererbte Bereitschaft,
  • ungünstige körperliche und/oder emotionale „innere“ Bedingungen, mit Anfällen zu reagieren, ungünstige äußere Konstellationen,
  • Interaktion und/oder Summe der verschiedenen Belastungsfaktoren.


3. Beeinträchtigung eines Kindes durch seine Anfälle und Gegenmaßnahmen

Die Beeinträchtigung eines Kindes durch seine Anfälle ist von vielen verschiedenen Faktoren abhängig:

Art, Intensität und Häufigkeit der Anfälle, Häufung zu bestimmten Tageszeiten, Grad der körperlichen und geistigen Flexibilität des Kindes bzw. seiner Eigenständigkeit im Alltag, der Kompetenz der Eltern, des sozialen Umfelds, z.B. der Schule.

3.1. Was macht das Kind (und sein Umfeld) gegen den Anfall?

  • Regelmäßige Medikamenteneinnahme,
  • “Rechtzeitig in Sicherheit bringen”,
  • “Risikofaktoren” vermeiden,
  • Hilfe von den Eltern oder anderen in der Umgebung fordern.


Diese stellen vielleicht die Fragen:

  • In welchen Situationen treten Anfälle auf?
  • Gibt es spezielle Auslöser? z.B. akustisch/ taktil?
  • Muster, Rhythmen?
  • Tageszeitliche/jahreszeitliche Häufung?


3.2. Was macht das Kind (und sein Umfeld) mit dem Anfall?
Kinder können oft lernen, das Anfallsgeschehen in den Alltag zu integrieren, in dem sie z. B. bei Vorgefühlen (Auren) oder unbestimmten Gefühlen von Unsicherheit, die Nähe einer Vetrauensperson oder auch eines Stuhles, Sofas oder Bettes aufsuchen. Sie beobachten ihr allgemeines Wohlbefinden und versuchen es sich möglichst gut gehen zu lassen. Das kann auch bedeuten, dass sie Belastungssituationen vermeiden. Auch die Umwelt achtet auf Anzeichen, entdeckt manchmal welche, und versucht das Kind zu schützen.

4. Wie können solche Maßnahmen bewusster eingesetzt werden?

4.1. Entspannung und Hirnstromsteuerung

Es gibt seit einiger Zeit bei entsprechendenMitarbeit die Möglichkeit, z. B. mit Hilfe einer speziellen Apperatur, mit sog. Bio-Feedback Entspannungsmethoden zu erlernen, mit denen ein Anfall unterdrückt werden kann. Dazu wird ein EEG abgeleitet und die Hirnstromaktivität auf einem Bildschirm z. B. als Flugzeug sichtbar gemacht. Der Patient kann nun mit entsprechendem Training lernen, die Hirnströme zu beeinflussen. Bei Erfolg wird versucht, diese Erfahrung auf Alltagssituationen ohne Hilfsmittel zu übertragen. Mit dieser Methode hatten einige Erwachsene Erfolg, mit Kindern sind uns keine Erfahrungen bekannt. Es gibt neuerdings ähnliche Übungsansätze, mit denen die Impulskontrolle von unruhigen Kindern beeinflusst werden soll.

Einige Therapeuten üben auch Entspannungsmethoden ohne EEG ein und berichten von vergleichbaren Erfolgen (Mitteilungen von Oberarzt Dr. Martin Reker und Diplom-Psychologe Düchting, Bielefeld).

4.2. Gegenmittel
Andere Arten der Anfallskontrolle bzw. Anfallsunterbrechung entspringen einer Vielfalt von Beobachtungen und Phantasie von Betroffenen und Fachleuten (vgl. Heinen, Schmid-Schönbein 1999). Diese Menschen versuchen spontan etwas gegen den Anfall zu tun, was den aktuellen Vorgefühlen (Auren) entgegengesetzt erscheint:

Aura/Anfallsbezogene Gegenmittel


Kribbeln in der Hand             Reiben/Fausten der Hand
Zucken eines Körperteiles     Versuch der aktiven Bewegung
Hören eines hohen Tones      Brummen eines tiefen Tones
Rot sehen                            Farbe grün vorstellen und/oder Verbalisieren
Unsicherheit/Angst                Vorstellung einer sicheren/beruhigenden Situation
fliehende Gedanken              Konzentration auf einen Fixpunkt

(modifiziert nach Heinen, Schmidt-Schönbein 1999)

4.3. Was ist anders an Tagen ohne Anfall?
Es ist außerordentlich spannend nachfolgende Fragen ganz genau zu beantworten, und möglichst bei mehreren Anfallsgeschehen hintereinander. Dadurch ergeben sich mitunter völlig neue Gesichtspunkte. Wichtig ist dabei, möglichst zeitnah das Anfallsgeschehen zu beobachten:

  • Was sind die inneren und äußeren Einflussfaktoren?
  • Was haben die Familie oder andere Personen in solchen Situationen beobachtet?
  • Konnte man etwas daran ändern?
  • Sind es besondere Erwartungen, besondere Gefühle, gehen bestimmte sensorische Reizungen dem Anfallsgeschehen voraus?
  • Denken die Kinder an etwas Besonderes?
  • Gibt es typische Situationen?
  • Welche Konsequenzen hat normalerweise ein Anfall noch, die bisher ohne Belang gesehen wurde?
  • Ist die körperliche Verfassung anders?


5. Erfahrungen von zwei Anfallskontrollgruppen für Eltern
Wir haben inzwischen mit zwei Gruppen Erfahrungen gesammelt, in denen wir zusammen mit Eltern von Kindern mit einer komplizierten Epilepsie und zusätzlichen Behinderungen nach Wegen gesucht haben, die Anfälle der Kinder zu unterdrücken. In den Gruppen nahmen Elternteile (je ein Vater!) von 5 bzw. 4 Kindern teil. Die Sitzungen fanden zehnmal jeweils in monatlichen Abständen über ca. 1 ½ Stunden statt, unterbrochen von den Schulferien. Beide Gruppen treffen sich in Selbsthilfe weiter.

Beeindruckend war das durchgehende große Interesse am Erfahrungsaustausch, das sich auch in ganz regelmäßiger Teilnahme äußerte. Für alle Eltern und ihre Kinder konnte ein Gewinn in der Krankheitsakzeptanz beobachtet werden. Beide gewannen erheblich an Kompetenz in der Krankheitseinschätzung und – bewältigung. Es entstand eine Ideenvielfalt zur Anfallsunterbrechung, z.B. auch die Vermeidung provozierender Faktoren, die mit unterschiedlichem Erfolg erprobt wurden. Alle Familien berichteten von mehr Gelassenheit während des Anfallgeschehens und weniger Angst vor den Anfällen!

Es ergaben sich keine spektakulären Erfolge, die in Zahlen zu erfassen wären, dazu sind die Gruppen auch viel zu klein und die Krankheitsbilder zu verschieden. Vielen Kindern geht es trotz komplizierter Verläufe besser. Veränderungen der Anfallsfrequenz hingen aber natürlich auch von anderen Faktoren ab. So wurden z. B. die Medikamente (Art und Dosis) wiederholt verändert. Einige Kinder waren über längere Zeit anfallsfrei.

Die Kinder lernten nach Mitteilung der Eltern:

  • Ihren Eltern Erlebtes genauer zu berichten,
  • ihre Anfälle anderen (Kindern, Lehrern) zu erklären,
  • Anfälle/Epilepsie als solche zu benennen
  • neue Begriffe für das zu finden, was sie erlebten und beobachteten,
  • Anfallsauslöser zu erkennen, auch z. B soziale Umstände,
  • bereits durchgeführte Maßnahmen der Anfallskontrolle zu festigen,
  • Mittel auf der gleichen Erfahrungsebene (Drücken, Schütteln, Reiben) auszuprobieren,
  • Mittel zu finden, die “machbar” sind, z.B. leises Zählen (als Gegenkonzentration),
  • Die Anfälle mit speziellen Symbolen selbst zu dokumentieren


Wie Sie beim Lesen sicher merken, sind wir begeistert von der Kompetenz der Eltern und der Kinder und dem großen Gewinn in der Zusammenarbeit.

Literatur: Gerd Heinen, Christiane Schmid-Schönbein: Selbstkontrolle epileptischer Anfäl-le, Lengerich 1999

Helga Rühling, Diplompsychologin, Beratungsstelle Bethel
Dr. Elisabeth Korn-Merker, Oberärztin Kinderklinik Kidron Bethel