Grundlagen der Behandlung von Epilepsien

Epilepsien nehmen auch unter den chronischen Erkrankungen eine besondere Stellung ein. Anders als die meisten anderen dieser Erkrankungen, wie etwa der Parkinson-Erkrankung, sind die meisten betroffenen Patienten 99 % der Zeit „gesund“ in dem Sinne, dass weder sie noch andere Krankheitssymptome spüren. Die unvorhersehbar und aus heiterem Himmel auftretenden epileptischen Anfälle beeinträchtigen dennoch das Leben der Patienten erheblich. Diese Beeinträchtigung resultiert zum einen aufgrund einer körperlichen Gefährdung infolge der Anfälle, wenn sie hierbei in ihrer Reaktionsfähigkeit beeinträchtigt sind oder aber die Kontrolle über die Steuerung der Motorik verlieren. So erlebt ein Drittel aller Epilepsiepatienten mindestens einmal jährlich eine körperliche Traumatisierung. Anfälle, die in gefährlichen Situationen auftreten, können zu Unfällen etwa im Straßenverkehr oder aber auch zum Ertrinken in der Badewanne führen. Seltener sind Todesfälle durch Anfälle, die nicht spontan wieder aufhören („Status epilepticus“) oder aber plötzliche, unerwartete Todesfälle („SUDEP“), die wahrscheinlich durch eine Auswirkungen der epileptischen Entladungen auf das vegetative Nervensystem entstehen.

Aber nicht nur die körperliche Gefährdung ist ein Problem für die betroffenen Patienten. Oft bestimmen – besonders bei relativ gut behandelten Epilepsien – soziale Probleme die Betroffenheit und erkrankungsbedingten Beschränkungen wesentlich mehr. Epilepsiepatienten sind in ihrer Mobilität eingeschränkt, haben Schwierigkeiten beim Finden eines Arbeitsplatzes und bei der Suche eines Partners, der ihre Erkrankung akzeptiert.

Schließlich kann die tatsächliche oder befürchtete Stigmatisierung durch die Epilepsie zu einer erheblichen Einschränkung der sozialen Integration der Patienten führen. Ein besonderes Problem stellt die Hilflosigkeit dar, die die Patienten gegenüber dem unbeeinflussbar auftretenden Anfall empfinden. Das Gefühl, immer wieder die Kontrolle über sich selbst zu verlieren, kann zur Entwicklung einer Depression beitragen; bei Epilepsiepatienten besteht - gerade im jüngeren Erwachsenenalter - eine erheblich erhöhte Suizidalitätsrate.

Eine optimale Behandlung der Epilepsien erscheint somit aus einer Vielzahl von Gründen erstrebenswert, um so zur Verbesserung der Lebensqualität der betroffenen Patienten beizutragen.

Vor einer adäquaten Therapie steht die korrekte Diagnose. Eine genaue Erhebung der Anamnese unter Einbeziehung des Patienten wie auch von Verwandten oder Kollegen, die Anfälle miterlebt haben, hat auch heute noch die größte Bedeutung für eine korrekte Beurteilung. EEG und Kernspintomographie stellen zwar wichtige Zusatzuntersuchungen dar, können jedoch die Erhebung von Informationen über die Anfälle selbst nicht ersetzen und sind nur in deren Rahmen sinnvoll interpretierbar.

Ist die Diagnose einer Epilepsie gesichert, so muß über die Notwendigkeit einer Behandlung entschieden werden. Hierfür ist die Einschätzung des Risikos für das Auftreten weiterer Anfälle entscheidend. Diese beruht zum einen auf bekannte statistische Informationen über das Anfallsrisiko in einem gegebenen Zeitraum; hierbei fließen die syndromatische Einordung der Epilepsie, EEG- und MR-Befunde ein. Einen ebenso großen Stellenwert haben aber individuelle Gesichtspunkte: Welche Konsequenzen hätte das Auftreten weiterer Anfälle für den Betroffenen? Hierbei spielen die Schwere der Anfälle, der Zeitpunkt des Auftretens der Anfälle, die Möglichkeit des Patienten, sich während einer Aura zurückzuziehen bzw. gefährliche Situationen zu vermeiden, und auch berufliche und soziale Gesichtspunkte eine Rolle: Ist der Patient auf das Führen eines Kraftfahrzeuges angewiesen? Wäre ein Anfall in seiner beruflichen Rolle besonders stigmatisierend?

Entscheidet man sich für eine Therapie, so erfolgt diese in Form einer Prophylaxe weiterer Anfälle, in aller Regel primär durch die Gabe von Medikamenten, die das Symptom in Form des Anfalles unterdrücken sollen. In den letzten 10 Jahren sind eine Vielzahl neuer Präparate verfügbar geworden, die zwar im Mittel nicht wesentlich wirksamer als ältere Vorgängerpräparate sind, jedoch überwiegend besser verträglich sind. Aufgrund der jahrelang erforderlichen Einnahme der Präparate ist diese verbesserte Verträglichkeit für die Patienten von einer besonderen Bedeutung und rechtfertigt die oft wesentlich höheren Kosten der Behandlung mit diesen sog. Antikonvulsiva der 2. Generation. Eine bessere Verträglichkeit führt zu einer besseren Akzeptanz der Einnahme, zu einer besseren Compliance und kann somit indirekt zu einer langfristig besseren Anfallskontrolle beitragen. Schließlich treten bei den neueren Substanzen wesentlich weniger Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten oder auch mit der „Pille“ auf.

Bei der Wahl des am besten geeigneten Medikamentes ist das Epilepsiesyndrom von entscheidender Bedeutung. Im Erwachsenenalter spielt vor allem die Unterscheidung primär generalisierter von fokalen Epilepsien eine wichtige Rolle. Bei Epilepsien mit primär generalisierten Anfälle ist weiterhin Valproat das wohl wirksamste, wenn auch nicht am besten verträgliche Medikament. Lamotrigin kann aufgrund der geringeren Nebenwirkungen ebenfalls als Medikament der 1. Wahl betrachtet werden. Es zeichnet sich ab, dass mit Levetiracetam ein weiteres Medikament mit guter Wirksamkeit eingesetzt werden kann. Für die Behandlung von Absencen stellt auch Ethosuximid noch immer eine überlegenswerte Alternative dar.

Bei fokalen Epilepsien ist das Spektrum der verfügbaren Präparate größer. Neben dem alten Standard Carbamazepin haben sich Oxcarbazepin und Lamotrigin als Medikamente erster Wahl durchgesetzt; weitere Medikamente wie Levetiracetam und Topiramat haben in den letzten Jahren einen erheblichen Stellenwert erlangt. Demgegenüber sind ältere Präparate wie Phenytoin oder Phenobarbital aufgrund ihres ungünstigen Nebenwirkungsspektrums nicht mehr als Standard-Therapeutika zu betrachten.

Gerade bei der Erstbehandlung ist es für das Verhältnis von Arzt und Patient wichtig, Fragen der Verträglichkeit anzusprechen und ein Präparat zu wählen, bei dem eine gute Aussicht besteht, dass der Patient eine regelmäßige Dauerbehandlung akzeptieren kann. In der Regel ist es vorteilhaft, eine langsam einschlei-chende Eindosierung zu wählen. Erst bei Versagen der ersten Therapieversuche mit Substanzen, die sich durch ein günstiges Nebenwirkungsspektrum auszeichnen, sollte auf nebenwirkungsreichere, möglicherweise potentere Präparate zurückgegriffen werden. Da die Verträglichkeit eines Medikamentes von Patient zu Patient sehr unterschiedlich sein kann, ist eine individuelle Ausdosierung erforderlich. Die Bestimmung von Medikamentenspiegeln hat hierbei keine entscheidende Bedeutung.

Die Behandlung erfolgt hierbei zunächst in Monotherapie, also mit nur einem Präparat. Hierunter werden ca. 50 % der Patienten anfallsfrei. Das Potential für Nebenwirkungen ist geringer, es treten keine Wechselwirkungen zwischen den Präparaten auf, und das Risiko während einer Schwangerschaft ist geringer. Schließlich ist die Steuerung der Therapie übersichtlicher, die Compliance der Patienten in der Regel besser, und auch die Kostenseite ist in den meisten Fällen günstiger. Versagt eine Monotherapie, so kann eine geeignete Kombination von zwei Substanzen eingesetzt werden, wobei synergistische Effekte ausgenutzt werden können. Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass die Gabe von mehr als zwei Substanzen gleichzeitig den Behandlungseffekt signifikant verbessert.

Während idiopathische, generalisierte Epilepsien durch Medikamente in ca. 80 % vollständig kontrolliert werden können, liegt der Anteil bei fokalen Epilepsien wesentlich geringer. In den letzten Jahren haben Untersuchungen zeigen können, dass man aus der Ursache der Epilepsie Rückschlüsse auf die Behandlungschancen vornehmen kann. So lassen sich etwa mehr als die Hälfte der Epilepsien nach Schlaganfällen medikamentös unterdrücken, während die Chance bei Hippocampussklerosen nur bei ca. 10 % liegt.

Patienten, die durch die ersten beiden medikamentösen Behandlungen nicht anfallsfrei werden, werden als pharmakoresistent betrachtet. Sie sollten frühzeitig in einem Epilepsiezentrum vorgestellt werden, in dem die Diagnose der Epilepsie überprüft werden und mögliche Behandlungsalternativen wie die Durchführung eines epilepsiechirurgischen Eingriffes geklärt werden können. Hier werden umfangreiche diagnostische Methoden zur Klärung der Ursache der Epilepsie angeboten: Hochauflösende Kernspintomographie mit speziellen, auf die Ursachen von Epilepsien zugeschnittenen Nachbearbeitungsverfahren, Video- EEG-Intensivmonitoring zur Aufzeichnung und exakten Analyse der bestehenden Anfallstypen und ihrer EEG-Korrelate, neuropsychologische Untersuchungsbatterien und nuclearmedizinische Untersuchungsverfahren wie Positronenemissionstomographie (PET) und Single Photon Emission Tomographie (SPECT), mit denen subtile Veränderungen von Stoffwechsel und Durchblutung im Areal des epileptischen Focus nachgewiesen werden können.

Gelingt es, den epileptischen Fokus zu identifizieren, so besteht durch einen epilepsiechirurgischen Eingriff eine Chance von 50-80 %, eine bleibende Anfallsfreiheit zu erzielen, während diese nach Versagen der ersten beiden medikamentösen Behandlungsversuche durch einen weiteren Wechsel der Medikationim Bereich weniger Prozente gesunken ist. Findet sich keine operative Behandlungsmöglichkeit oder wäre diese mit einem zu hohen Risiko für Nebenwirkungen verbunden, so kommt als weitere Behandlungsalternative die Vagusnervstimulation oder eine ketogene Diät in Betracht. Das Therapieziel muss in diesem Falle angepasst werden; das Vermeiden von besonders gefährlichen Anfallstypen bei möglichst nebenwirkungsfrei vertragener Medikation und Angebote zur sozialen Unterstützung und Inte-ration rücken in den Vordergrund.

Damit betroffene Patienten die heute vorhandenen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten nutzen können, ist eine enge Zusammenarbeit von Hausärzten, Neurologen/ Neuropädiatern, epileptologischen Schwerpunktpraxen und Epilepsiezentren von entscheidender Bedeutung. In Baden-Württemberg ist es gelungen, durch eine Vernetzung von Epilepsiezentren in Freiburg, Kehl-Kork, Heidelberg sowie dem Olgahospital Stuttgart eine Struktur zu schaffen, innerhalb derer Epilepsiepatienten das derzeit verfügbare Behandlungsspektrum vollständig angeboten wird. Derzeit ist diese Versorgung durch die Einführung sogenannter DRG-Systeme gefährdet, da in diesen die Versorgung komplizierter Epilepsien nicht in geeigneter Form vorgesehen ist und lediglich Raum für die akute Versorgung einzelner Anfälle besteht. Es bleibt zu hoffen, dass die Gesetzgebung in geeigneter Form geändert wird, die auch den Belangen der schwer Betroffenen Patienten Rechnung trägt, eine langfristig orientierte optimale Therapie ermöglicht und die Grundlagen für eine Weiterentwicklung neuer Behandlungsoptionen sichert.

Dr. A. Schulze-Bonhage
Leiter des Epilepsiezentrums am Neurozentrum der Universität Freiburg