35 Jahre Epileptologie – was habe ich gelernt?

Mit Dr. Hansjörg Schneble ging im Jahr 2005 ein wirklich bemerkenswerter Epileptologe in den Ruhestand. Er befasste sich nicht nur mit der medikamentösen Therapie der Epilepsien, sondern berücksichtigte gleichermaßen die psychosozialen Probleme epilepsiekranker Menschen und ihrer Angehörigen. Sein Interesse für das Epilepsie-Motiv in Literatur und Kunst sowie sein Wissen über die Geschichte der Epilepsie finden in „seinem“ Museum, dem Deutschen Epilepsiemuseum Kork (www.epilepsiemuseum.de), und seinen zahlreichen Veröffentlichungen Ausdruck.

Wir sind besonders stolz und dankbar, dass uns Dr. Schneble seine Abschiedsrede zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.

Seine Thesen zur Epileptologie stellen wir in dieser Ausgabe vor, in der nächsten Ausgabe werden wir seine Gedanken und Erlebnisse aus 35 Jahren epileptologischer Arbeit veröffentlichen.

Für seinen (Un)Ruhestand wünschen wir Dr. Schneble weiterhin alles Gute.

Thesensammlung (Auswahl)

These 1:
Epileptologie ist in erster Linie eine klinische Disziplin.

Dies bedeutet: Die Beurteilung des Krankheitsbildes erfolgt vor allem nach klinischen Gesichtspunkten (Anamnese, Symptom- und Verlaufsbeobachtung [evtl. video-gestützt], klinische Untersuchung [einschl. neuro-psychisch]).
Apparative Untersuchungen kommen erst in 2. oder 3. Linie (Bestätigung, Ausschluss, Präzisierung)
Mein Lehrmeister Prof. Matthes hatte noch schärfer formuliert:
„Der gute Epileptologe benötigt für seine epileptologische Tätigkeit kein EEG“
und: „Das wichtigste Instrumentarium zur Erkennung und Behandlung
cerebraler Störungen ist das Cerebrum des Arztes“.

These 2:
Jede physiologische cerebrale Funktion kann – pathologisch variiert –
episodisch als epileptisches Geschen auftreten.

Dies bedeutet: Die Anfallspalette ist bunt und vielgestaltig; die in vielen Lehrbüchern angegebene Zahl von etwa 30 unterschiedlichen Anfallsformen ist wahrscheinlich noch deutlich größer. Mit dieser These ist die Vielgestaltigkeit epileptischen Geschehens erklär- und nachvollziehbar.

These 3:
Die Mutter hat zunächst einmal recht.

(Hier spricht natürlich der Kinderepileptologe, für den die Mutter in aller Regel die wichtigste Berichterstatterin und die wichtigste Partnerin im Kampf gegen die kindliche Epilepsie ist.)

Dies bedeutet: Wir Ärzte tun gut daran, die mütterlichen Angaben sehr ernst zu nehmen – selbst wenn sie weder in unser eigenes Denkschema noch zum Inhalt von Lehrbüchern oder Medikamenteninformationen passen.
Voraussetzung zu dieser These ist folgende pointierte Aussage: „Nur zwei Personengruppen verstehen wirklich etwas von Epilepsie: Epileptologen und Mütter!“
(Nota bene: Für eventuell notwendige Präzisierungen und Korrekturen mütterlicher Aussagen bleibt immer noch Zeit.)

These 4:
Deine Rede sei „ja, ja“ oder „nein, nein“!

Diese biblische Aussage bedeutet in der Epileptologie: Der Therapeut muss Sicherheit und Überzeugung ausstrahlen. Notwendige Richtungsvorgaben oder spezifische Vorschläge müssen mit klarer Stimme vom Arzt kommen., Informationen und Einbeziehung des Patienten bzw. seiner Angehörigen sind sehr wichtig, aber der Patient darf in seiner eigenen Entscheidungsfindung nicht überfordert oder gar allein gelassen werden.

These 5:
Geduld ist eine gute Eigenschaft des Therapeuten.

Dies bedeutet: Geduld ist in jeder Therapiephase angebracht – Therapieindikation, Aufbau, Abwarten der Wirksamkeit, Indikation für Beendigung der Therapie, Therapieabbau, Beurteilung der posttherapeutischen Phase

These 6:
Nicht die Pyknolepsie sondern das therapieresistente Lennox-Gastaut-Syndrom benötigt den qualifizierten Epileptologen.

Dies bedeutet: Eine Pyknolepsie ist in aller Regel nicht schwierig zu diagnostizieren und zu behandeln; der Therapeut erntet rasch Ehre und Ruhm. Bei der Behandlung eines LGS erleiden auch hochspezialisierte Epileptologen oft Schiffbruch. Aber gerade in dieser Situation braucht es den erfahrenen Epileptologen, dessen Hilfen, Informationen und Ratschläge sich nicht nur auf die Anfälle fokussieren.

These 7:
‚Waschzettel’ sind immer lückenhaft.

Dies bedeutet in der Praxis: Nach Einsatz eines neuen Medikaments ist jede gesundheitliche Abweichung und jede Befindlichkeitsänderung nebenwirkungsverdächtig.
Die Beispiele Valproat und Vigabatrin zeigen, dass es oft viele Jahre dauert, bis eine Nebenwirkung als solche erkannt wird. (Nota bene: Daraus folgt, dass Lücken im ‚Waschzettel’ nicht immer eine Schuld des Herstellers bedeuten müssen.)
An dieser Stelle kann man sich die These 3 nochmals ins Gedächtnis rufen.

These 8:
Es gibt keine medizinische Disziplin, die deduktiver, erkenntnisbringender und befriedigender ist als die Epileptologie.

Deduktiv: Aus dem detaillierten Wissen über die Biologie des Nervensystems lassen sich häufig und immer häufiger Ätiologie, Symptomatik und Verlauf eines Epilepsie-Krankheitsbildes ableiten;
Erkenntnisbringend: die Analyse cerebraler Funktionsstörungen führt immer näher an das Verständnis der physiologischen Funktionen des Gehirns (nicht nur in der Neurologie zeigt das erkrankte Organ oft besser seine ursprünglichen normalen Funktionen an als das unauffällige, gesunde Organ); mit anderen Worten: Unsere klinische und wissenschaftliche Beschäftigung gerade mit den Epilepsien stellt eine gute Möglichkeit dar, uns der Erkenntnis über die wunderbare Funktion des Gehirns immer mehr anzunähern.
Befriedigend: wir können erfreulich oft helfen, bessern, ja sogar heilen (wie bei kaum einer anderen chronischen Erkrankung

Und die letzte und krönende These:
Epileptologie betreiben zu dürfen, ist ein Geschenk!

Vor dem Hintergrund dieser These bin ich auch und gerade nach fünfunddreißig Jahren froh und dankbar, dass mir die Möglichkeit gegeben war, mich diesem Spezialgebiet zuzuwenden. Ich danke allen, die mir diesen Weg ermöglicht haben, die mich gelenkt, die mich begleitet und die mich unterstützt haben. Und all denen, die noch weiter auf diesem Gebiet unterwegs sind, wünsche ich Erfolg, eine ähnliche ärztliche Befriedigung, wie ich sie erfahren durfte, zunehmende Erkenntnisse und eine glückliche Hand bei allen Aktivitäten. Vivant sequentes!

Dr. med. Hansjörg Schneble
(Ehemaliger Direktor und Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche am Epilepsiezentrum Kork)

Anamnese: Vorgeschichte der Krankheit
Ätiologie: Lehre von den Krankheitsursachen
cerebrale Störungen: Störungen, die das Gehirn betreffen
Cerebrum: Großhirn
Lennox-Gastaut-Syndrom: Epilepsieform, die mit verschiedenen Anfallsformen einhergeht und eine ungünstige Prognose hat
Nota bene: übrigens
Pyknolepsie: anderer Ausdruck für Absencen-Epilepsie, der Begriff leitet sich vom griechischen pyknos= dicht ab und beruht auf der beobachtbaren Anfallshäufung bei Absencen -Epilepsien
Vivant sequentes!: die (Nach)folgenden sollen leben!