„Von der Forschung bis zur Marktreife – die Geschichte eines Antikonvulsivums“

(Themenfolge – Teil 3)

Wie in den beiden ersten Artikelfolgen zu erkennen war, besitzen Arzneimittelhersteller, die sich mit der Entwicklung neuer Wirkstoffe beschäftigen, leistungsfähige Einrichtungen, sowie ein hoch motiviertes, qualifiziertes Personal. Dennoch ist es ein mühsamer, langwieriger, kostenintensiver und von einem umfassenden gesetzlichen Regelwerk begleiteter Weg, bis ein neues Medikament zur Behandlung von Epilepsien entwickelt wurde und den Ärzten für den Einsatz in Klinik und Praxis zur Verfügung steht.

 

Die UCB, als forschendes mittelständisches weltweites Pharmaunternehmen hat vor diesem Hintergrund sehr früh entschieden, ihre Forschungskapazitäten auf Spezialgebiete zu konzentrieren und ihre Produkte zu Marktführern zu entwickeln. Zu diesen Spezialgebieten zählen z.B. Allergie- und Atemwegserkrankungen, ein anderes Forschungsteam des Unternehmens konzentriert sich auf den Bereich ZNS und damit auch auf die Epilepsieerkrankung. Der Wirkstoff Levetiracetam zählt zu den jüngsten Arzneimittel-Entwicklungen.

 

Der Beginn der Forschung dieses Arzneimittels geht bis in die frühen 1980er Jahren zurück. Im Jahre 2000 wurde von den Zulassungsbehörden in den USA (FDA) und in Europa Levetiracetam zur Behandlung bestimmter Epilepsieformen zugelassen und wird seither erfolgreich eingesetzt. Bedingt durch die sehr lange Forschungszeit liegen für dieses Präparat Behandlungserfahrungen mit Beobachtungszeiten von weit mehr als einem Jahrzehnt vor. Lange Beobachtungszeiträume sind jedoch wichtig im Hinblick auf die Abschätzung der auch zu erwartenden unerwünschten Wirkungen.

 

Damit sind wir nochmals bei dem Thema Charakteristika und Ziele von klinischen Prüfungen der
Phasen I bis IV

 

Phase I: Anwendung am Menschen

Wie bereits ausgeführt, werden umfassende gesetzliche Maßnahmen zum Schutz der Probanden und Patienten gefordert, bevor diese Prüfungen beginnen.

 

In der Phase I erforschen die klinischen Pharmakologen das Verträglichkeitsprofil und die pharmakologischen Eigenschaften der neuen Substanz an Freiwilligen, also gesunden Probanden. Es geht im Kern um nachfolgende Fragen:

 

  • Wie wird das zu prüfende Medikament vom Körper aufgenommen?
  • Welche unerwünschten Wirkungen treten auf?
  • Über welche Wege wird die Substanz im Körper verändert und ausgeschieden – Leber, Niere, Lunge, Haut, Darm?
  • Hat die gleichzeitige Nahrungsaufnahme einen Einfluss auf die Wirkung der Substanz?
  • Wie sollte die Substanz dosiert werden?

 

Die in der Prüf-Phase I gewonnen Erkenntnisse bilden eine wichtige Ausgangslage für die Phase II.

 

Phase II: Erste Anwendung an Patienten

Nun geht es darum zu erfahren, wie sich die neue Substanz beim Einsatz am Kranken verhält.
Es handelt sich um kontrollierte Studien (randomisiert, placebokontrolliert, doppelblind)

  • Welche Dosierung ist erforderlich um eine optimale Wirkung zu erzielen?
  • Welche Nebenwirkungen treten auf?
  • Wie reagieren Patienten mit Leber- und/oder Nierenfunktionsstörungen auf die Prüfsubstanz?
  • Wie wird die Substanz bei Patienten mit vorgeschädigten Organen abgebaut?
  • Reichert sich die Substanz in bestimmten Organen an?
  • Kann durch eine Dosisveränderung/-anpassung eine Optimierung der Therapie erzielt werden?
  • Gibt es wechselseitige Störwirkungen bei der Einnahme weiterer Arzneimittel?

 

Bei der Phase II-Prüfung werden die Patienten in zwei Gruppen eingeteilt.

 

Die Zuteilung erfolgt „randomisiert“, d. h. nach dem Zufallsprinzip. So wird erreicht, dass bekannte und unbekannte Merkmale der Patienten in beiden Gruppen gleichmäßig verteilt sind. Eine Gruppe erhält die Prüfsubstanz, die andere ein Scheinmedikament. In der Fachsprache werden diese beiden Testgruppen „Verumgruppe“ und „Placebogruppe“ genannt.

 

Da die Patienten nicht wissen in welcher Gruppe sie sich befinden, wird ausgeschlossen, dass sich eine positive Erwartungshaltung auf das Prüfergebnis auswirkt. Die in der Prüfung eingeschlossenen Patienten sind also im Hinblick darauf, womit sie behandelt werden „blind“. Die Experten nennen diese Prüfungsform „Einfachblind“. Wissen auch die behandelnden Ärzte nicht in welcher Gruppe sich die Patienten befinden, wird die Prüfung „Doppelblind“ bezeichnet. Die o.g. Prüfmodelle sind standardisiert und sind gängige Praxis.

 

Bei bestimmten Erkrankungen ist es aber ethisch nicht vertretbar, die „Placebogruppe“ quasi unbehandelt zu lassen. In diesem Fall erhalten alle Patienten die Standard-Therapie, während die „Verumgruppe“ zusätzlich mit dem neuen Wirkstoff behandelt wird.

 

Dies trifft auch bei der Prüfung neuer Antikonvulsiva zu. Da es zur Behandlung von Epilepsien bereits wirksame Präparate gibt, werden neue Wirkstoffe in der Prüfung der Phase II stets im Rahmen einer Zusatzbehandlung eingesetzt (add-on).

 

Das heißt:

  • Testgruppe A bekommt Präparat X (auf dem Markt bereits etabliert)
  • Testgruppe B bekommt Präparat X plus Y (das neue Präparat).

 

So kann geprüft werden, ob bei Patienten, die mit dem Präparat X noch keine ausreichende Anfallskontrolle erzielen, durch eine Arzneimittel-Kombination X+Y das Therapieziel erreicht wird.

 

Dies erklärt auch, warum Zulassungsbehörden diesen Behandlungsansatz bei der späteren Beurteilung und Entscheidung zur Anwendung eines neuen Antikonvulsivums berücksichtigen und ein neues Arzneimittel zunächst nur „…zur Zusatzbehandlung…“ empfehlen. Nach der Zulassung werden unter kontrollierten Bedingungen auch Erfahrungen mit der Monotherapie gesammelt. Bewährt sich das neue Präparat auch in dieser Behandlungsform als gut steuerbar, kann die zuständige Gesundheitsbehörde in Abhängigkeit der vorgelegten Datenlage, den Satz „…zur Zusatzbehandlung…“ aufheben.

 

Ein weiterer wichtiger Punkt im Rahmen der Zulassungsprozedere besteht darin, dass der Einsatz eines neuen Antikonvulsivums zunächst auf Erwachsene beschränkt bleibt. In der Regel wird erst nach der Zulassung in weiteren klinischen Prüfungen die Wirksamkeit bei Kindern untersucht.

 

Die wichtige, für die Zulassung entscheidende Phase ist nun näher gerückt.

 

Phase III: Der Härtetest unter praxisnahen Bedingungen.

Ziel dieser Prüfungsphase ist die Anwendung des Prüfpräparates unter den Bedingungen in der Praxis und/oder einer Klinik. Da die Ergebnisse vieler Patienten (mehrere Hundert bis über Tausend) benötigt werden, handelt es sich bei der Phase III in der Regel um kontrollierte, multizentrische Studien.
Phase III dient zum Nachweis der Wirksamkeit und Verträglichkeit des Prüfpräparats.

 

  • Ist das Prüfpräparat in der entsprechenden Indikation wirksam?
  • Ist das neue Arzneimittel in der normalen praktischen Handhabung sicher?
  • Welche Nebenwirkungen werden in welcher Häufigkeit registriert?
  • Wie schneidet das Prüfpräparat im Vergleich zu anderen Medikamenten in seinem Wirksamkeits- und Nebenwirkungsprofil ab?
  • Welche Ergebnisse werden in einer Kosten-Risiko-Abwägung nach kurzzeitiger und längerfristigen Gabe des Prüfmedikaments erzielt?

 

Die Prüfsubstanz muss nach einer Zulassung von den Ärzten und Patienten „handhabbar“ sein. Der Praxisbezug steht also bei der Phase III absolut im Vordergrund. Die Bedingungen, unter denen sich jetzt die Prüfsubstanz beweist, kommen denen der späteren Anwendung sehr nahe (Alter, Geschlecht, Ernährung, Zusatzerkrankungen usw.). Das Forschungsteam ist in dieser Prüfungsphase erheblich gefordert. Die Ergebnisse von mehreren Tausend Patienten erhält das Unternehmen nur, wenn mehrere Prüfzentren (Krankenhäuser oder ausgewählte Praxen), mit einem standardisierten Prüfplan, der von allen Zentren gleichermaßen eingehalten wird, arbeiten.

 

Damit die Aussagekraft der Studienergebnisse vor der kritischen medizinisch-wissenschaftlichen Fachwelt anerkannt wird, wählen die Prüfärzte Patienten mit unterschiedlichen Merkmalen aus: Männer, Frauen, unterschiedliche Altersstrukturen, ggf. auch verschiedene ethnische Gruppen, unterschiedliche Ess- und Lebensgewohnheiten, sowie solche mit und ohne Begleiterkrankungen. Die Verteilung sollte möglichst gleich sein. Patienten, die an diesen großen Prüfungen freiwillig teilnehmen, müssen vorher durch einen Arzt umfassend aufgeklärt werden und können jederzeit ihre Mitarbeit beenden, ohne Nachteile befürchten zu müssen.

 

Wie schon in der Phase II werden die Studien auch in der Phase III vorzugsweise randominsiert, placebokontrolliert und doppelblind durchgeführt. Aber nur mit dieser aufwendigen Methode erreichen die Studienleiter ein Höchstmaß an wissenschaftlicher Objektivität.

 

Es versteht sich von selbst, dass gerade in der Phase III der administrative Aufwand einer überprüfbaren Dokumentation in allen Phasen der Studiendauer immens groß ist. Die Leiter der Prüfzentren – welche sogar in verschiedenen Ländern sein können - müssen im Hinblick auf einheitliche Kriterien der anstehenden Aufgaben geschult werden.

 

Für Prüfteilnehmer muss ein Höchstmaß an Sicherheit garantiert werden. Die Koordination der Zentren und des Initiators des Forschungsvorhabens sowie die Überwachung der Prüfung erfordert viel Erfahrung und Knowhow. Geht es doch darum, dass nach Abschluss dieser Prüfungsphase die gelieferten Datensätze zusammengeführt und einer statistischen Auswertung zur Verfügung gestellt werden können.

 

Das Studienergebnis hat einen nachhaltigen Einfluss auf die Zeitschiene, die sich das Unternehmen für die Markteinführung des Präparates gesetzt hat.

Fortsetzung folgt.
Siegfried Koch
GPA – Gesundheitspolitische Abteilung UCB Pharma