„…dann bin ich kein Mann mehr“

Zum Mann-Sein mit Epilepsie


Ob Manager oder Hausmann, Macho oder Softie, Familienvater oder Single, Yuppie oder Normalo – in den Medien sind Männer in. Schaut man genau hin, so kombinieren moderne Männer die gängigen Rollenmodelle zu individuellen „Patchwork-Persönlichkeiten.“ Aber was haben alle Männer gemeinsam, „wann ist ein Mann ein Mann?“ Herbert Grönemeyer gibt in seinem Song „Männer“ Antworten: „Männer stehen ständig unter Strom, Männer baggern wie blöde, Männer sind allzeit bereit, Männer bestechen durch Entgelt und ihre Lässigkeit.“ Tatsächlich werden Männer in der Gesellschaft vor allem dann anerkannt, wenn sie privat, beruflich und wirtschaftlich erfolgreich sind. Und gesund.


Die möglichen Auswirkungen der Epilepsie lesen sich wie einen Gegenentwurf zu dem, was den „idealen Mann“ ausmacht: Im Anfall geht die Kontrolle über Körper und Geist verloren und es kann zu Verletzungen kommen. Medikamentöse Nebenwirkungen können z.B. zu Müdigkeit, Konzentrationsproblemen und beeinträchtigter Sexualfunktion führen. Und als psychische Auswirkungen sind Angststörungen, Depressionen und Gedächtnisprobleme häufig. In existenziellen seelischen Notlagen können dissoziative („psychische“) Anfälle auftreten.


Auch die sozialen Folgen stehen den gängigen Vorstellungen vom idealen Mann-Sein entgegen. Probleme in Partnerschaft, Schule, Ausbildung und Beruf, Arbeitsplatzverlust, frühzeitige Erwerbsunfähigkeit oder eingeschränkte Mobilität.  Dabei gilt: je häufiger die Anfälle und je größer die Nebenwirkungen, desto größer ist auch der negative Einfluss auf die Lebensqualität.
Die Epilepsie und ihre Auswirkungen werden so zum existenziellen, biographischen Konstrukt. Die Auseinandersetzung mit der Erkrankung in ihren sozialen Zusammenhängen führt nicht selten zu Selbst- und Fremdstigmatisierungen, mitunter auch zu einem Kampf um Anerkennung.
Epilepsie ist für Männer also nicht „nur“ eine Frage der ärztlichen Diagnostik und Therapie, sondern auch und in hohem Maße eine Auseinandersetzung mit ihrer männlichen Identität. Der epilepsiekranke Frank Hopf (Name geändert) bringt das in der EpilepsieBeratung in München genau so auf den Punkt: „Wenn ich die Epilepsie akzeptiere, dann bin ich kein Mann mehr.“


Ferner beschreibt Hopf, dass er nach seinen meist nächtlichen Anfällen über Tage an Depressionen leide, „dann bin ich auch leicht reizbar.“ Da seine Frau voll erwerbstätig sei, erledigt er den Großteil der Hausarbeiten. „Allerdings kann ich mich mit meiner Rolle als Hausmann nicht so recht abfinden.“ Seine beiden Stiefkinder, die seine zweite Frau Gertrud mit in die Ehe gebracht hat, „akzeptieren mich nicht mehr richtig, seit ich die Anfälle habe, aber auch wegen meiner Gedächtnisprobleme“, so Hopf weiter. Auch falle es ihm schwer, Gesprächen zu folgen, wenn mehrere Leute gleichzeitig sprechen; „allerdings habe ich dann auch nicht den Mut, mich einfach zurückzuziehen.“ Gut wäre immerhin, dass „ich mit meiner Erwerbsminderungsrente und einem Mini-Job meinen finanziellen Beitrag leisten kann. Auch macht mir die Arbeit unheimlich Spaß, ich brauch´ das einfach.“ Hopf schließt seine Erzählung mit der Aussage „Und ich will auch nicht, dass ich als krank gelte.“


Stegreiferzählungen wie die geschilderte sind oft Ausgangspunkt einer umfassenden psychosozialen Beratung. Wo setzt im Einzelnen die Unterstützung einer speziellen Epilepsie-Beratungsstelle an?
Clearingberatung: Grundsätzlich wird erörtert, welche neurologischen, psychiatrischen, psychotherapeutischen Therapien und psychosozialen Hilfen in der Vergangenheit bereits geleistet wurden und welche nicht. Bei Bedarf wird auf Epilepsiezentren, spezialisierte Fachambulanzen, soziale Dienste und örtliche Selbsthilfegruppen verwiesen.


Gruppenangebote: Sie dienen der Information, dem Erfahrungsaustausch unter Gleichbetroffenen und der persönlichen Auseinandersetzung. Seminare wie MOSES (für Jugendliche und Erwachsene), PEPE (für Erwachsene mit lern- oder geistiger Behinderung) und Anfallsselbstkontrolle sind spezielle Epilepsie-Schulungsangebote. Darüber hinaus existieren Gruppenangebote für unterschiedliche Adressatenkreise, sie ermöglichen in erster Linie den Erfahrungsaustausch. Hierzu gehören zum Beispiel der Jugendtreff, die Elterngruppe, der „Offene Abend“ oder das Sokratische Gespräch. Ein spezielles Gruppenangebot für Männer existiert (noch) nicht.


Systemische Paar- und Familienberatung: Hier werden die in der Beziehung gelebten Geschlechterrollen ausdrücklich zur Sprache gebracht. Bestehende Konflikte werden erörtert und deren Ursachen herausgearbeitet.  Die Ressourcen der Teilnehmer/-innen bilden die Grundlage für Veränderungen und damit für die Konfliktlösungen. Das Ziel ist es, das die Paare / Familien ihr gemeinsames System weiter entwickeln.


Systemische sozialpädagogische Beratung: Hier werden in erster Linie die zahlreichen psychosozialen und rechtlichen Auswirkungen der Epilepsieerkrankung besprochen. Sachfragen zu Schullaufbahn, Ausbildung, Arbeit, Schwerbehinderung, Führerschein usf. werden hier selbstredend immer auch bezüglich der persönlichen Interessen, Möglichkeiten und Erfahrungen des Ratsuchenden erörtert. Auch hier werden persönliche Ziele herausgearbeitet und individuelle Problemlösestrategien entwickelt und über einen angemessenen Zeitraum begleitet. Nicht selten stehen dabei Krisen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, zum Beispiel Mobbing am Arbeitsplatz. Bei Bedarf und auf Wunsch des Ratsuchenden kooperiert die Beratungsstelle eng mit beteiligten Institutionen (Facharzt, Ausbildungsstätte, Arbeitgeber, Versorgungsamt).


Nicht minder bedeutend sind in der sozialpädagogischen Beratung emotionale Probleme, die im Zuge der individuellen (Kranken-) Biographie entstanden sind. Bezüge zur männlichen Identität haben hier ausdrücklich ihren Platz. 
Wie „wirkt“ die Beratung? - Herr Hopf berichtet, dass es ihn „emotional sehr entlaste, offen über seine Epilepsie sprechen zu können.“ Er betont, dass der Berater seinen Belastungen einfühlend und mit Verständnis begegne. So sei es ihm erstmals möglich, umfassend über seine Lebenssituation zu sprechen. Im engagierten Dialog kann er seine Situation tiefer gehend reflektieren. Dabei nimmt Hopf immer wieder auf seine Rolle als Mann Bezug. Es gelinge ihm nun wieder, „sich in seiner Familie selbstbewusster zu verhalten und insgesamt mehr Verantwortung für sich zu übernehmen.“ Dies habe besonders seine Frau als entlastend erlebt. In der Vergangenheit hatte sie sich zeitweise „für alles in der Familie verantwortlich“ gefühlt. Anknüpfend an seine Ressourcen, bewirbt er sich auf einen anderen Job, was nicht nur seine Einkommenssituation verbessert, sondern auch sein Selbstwertgefühl.


Parallel zur Beratung nimmt Hopf an einem Sokratischen Gespräch zur Frage „Was bedeutet Glück?“ teil, dass die Beratungsstelle für epilepsiekranke Erwachsene anbietet. Hier kommt er erstmals intensiv mit Gleichbetroffenen ins Gespräch. „Das ist richtig gut.“

 

Der Autor Dipl.-Päd. Peter Brodisch ist Leiter der EpilepsieBeratung in München.

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