„Ich habe Lust!“

Helga Rühling


Sexualität von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Epilepsie und intellektuellen Einschränkungen


„Ich bin ganz doll verliebt!“
„Ich möchte dich feste drücken!“
„Magst Du, dass ich dich küsse?“


Sexualität ist unabhängig von Behinderung
Jeder junge Mensch hat Lust und Sehnsucht nach liebevoller Nähe und Sexualität. Und jeder hat das Recht auf ein eigenes Sexualleben, unabhängig von seinen mentalen und körperlichen Möglichkeiten und Einschränkungen. Was so selbstverständlich klingt, ist gar nicht so leicht einzulösen. Es verlangt von den Angehörigen und HelferInnen viel Toleranz, Vertrauen und Phantasie, um die jungen Leute in ihrem Recht zu unterstützen. Junge Menschen mit Behinderungen wirken in der Erwachsenenwelt oft noch sehr kindlich. Tatsächlich entwickelt sich der Körper (mit sehr wenigen Ausnahmen) unabhängig von der mentalen Entwicklung. D.h. die meisten Mädchen kommen heute ungefähr mit 11-13 Jahren in die Pubertät, die meisten Jungen ungefähr mit 13-15 Jahren. Sie alle entwickeln körperliche Geschlechtsmerkmale und ein sexuelles Interesse an anderen. Die Jugendlichen verändern sich auch innerlich: in ihren Gefühlen, in der Wahrnehmung, ihren Gedanken. Diese Entwicklung verläuft oft recht widersprüchlich bis chaotisch und das ist ganz normal. Die Neuropsychologen sprechen heute von einer „Umbaustelle im Gehirn“. Mit anderen Worten: die Schmetterlinge flattern nicht nur im Bauch sondern auch im Kopf.


Sexualität braucht Orte
Eine liebevolle sexuelle Begegnung braucht gesellschaftlich anerkannte Orte, wo sie auch gelebt werden kann. Die ersten Orte sind Probeorte, deshalb oft versteckt, ihnen fehlt mitunter die Romantik, denn sie müssen in Heimlichkeit aufgesucht werden können. Sie müssen manchmal erst richtig organisiert werden. Sexualität findet so völlig natürlich auch auf Toiletten, in Schulhofecken und anderen weniger schönen Orten statt, das gilt auch für Verliebte aller Art (Jugendliche mit Führerschein quetschen sich gern in Autos).


Obwohl es sicher manchmal recht mühselig war, haben es die besonders herausgeforderten Eltern in der Regel geschafft, Ihrer Tochter oder Ihrem Sohn beizubringen, sich nur hinter verschlossenen Türen lustvoll zu berühren und nicht im Bus oder im Restaurant. Auch für partnerschaftliche Sexualität brauchen die jungen Leute klare Informationen und möglicherweise häufige Wiederholungen. Besonders wichtig ist die Schulung der Wahrnehmung, respektvoll nur solche Zärtlichkeiten auszutauschen, die auch beide wollen. Hinweise auf romantische Orte und Regeln liebevoller Begegnung sind da bestimmt sehr hilfreich. Wenn Sie als Eltern selbst mehr Vertrauen gefasst haben sind natürlich Jugendzimmer (nicht Kinderzimmer!) geeignete Orte der Begegnung. Spätestens jetzt, wenn eine Partnerin oder ein Partner zu Besuch ist, wird deutlich, wie wichtig Anklopfregeln sind.


Wahl des/r Partners/in akzeptieren
Wenn es um den konkreten sexuellen Partner oder Partnerin des eigenen Kindes geht, müssen Eltern noch einmal die Behinderungen ihres heranwachsenden Kindes realisieren. Diese suchen sich in der Regel ihre Partner nämlich nicht bei den netten Studenten vom Familien entlastenden Dienst, sondern in ihrer Schule oder Werkstatt, ebenfalls liebenswerte Menschen, aber eben auch behindert. Dabei unterscheiden sie sich wieder kein bisschen von anderen: Partnerschaften entstehen aus Beziehungen mit gemeinsamen Erfahrungshintergrund in Schule, Arbeit oder ähnlich bedeutsamen Zusammenhängen.


Zusammenleben?!

Manchmal fallen Eltern aus allen Wolken, wenn wie oben zitiert, Maja zum ersten Mal mit 16 Jahren den Wunsch äußert: „Ich möchte mit Peter zusammen leben!“ Könnte Maja später selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen, würden ihre Eltern vielleicht sagen: „Warte, bis Du mit der Ausbildung fertig bist!“ oder Ähnliches. Sie würden sich vielleicht aber auch freuen, dass Maja einen festen Freund hat. Da Peter und Maja jedoch vermutlich immer Betreuung brauchen, geraten ihre Eltern leicht in Panik: „Wie soll das gehen? Wo sollen sie leben? Was ist mit Verhütung?“ Es kann dann schon mal passieren, dass selbst die ersten kleinen Träumereien von einem Leben zu zweit in einer schönen Villa den beiden ausgeredet werden. Dabei wird leicht vergessen, dass jeder so seine Träume hat(te) und manche eigentlich nie realistisch waren (z.B. der vom Superstar oder vom Weltumsegler). Es ist gut, über realistische Ziele zu informieren, aber Träume verdienen auch Respekt.


Babywunsch

Größte Sorgen, manchmal auch panische Ängste entstehen rund um die Frage von Babywunsch und Verhütung. Dabei spielen verständliche Befürchtungen der potentiellen Großeltern eine große Rolle, die sich zu alt fühlen, noch einmal ein Kind zu erziehen. In der Regel wissen sie, dass die Epilepsie oder die Behinderung in den meisten Fällen nicht vererbt wird. Doch meistens kommt es gar nicht zur Schwangerschaft. Junge Leute mit Lerneinschränkungen reflektieren früher oder später sehr verantwortungsvoll, dass sie nicht in der Lage sein werden, ein Kind selbständig zu erziehen. Das erkennen sie genau so gut, wie sie verstehen lernen, sich auf einen Arbeits- oder Wohnplatz im beschützten Rahmen vorzubereiten. Zu beiden Themen hilft, in Ruhe und häufig miteinander darüber zu reden. Die konkreten Verhütungsmethoden, die auf die Medikamente abgestimmt werden müssen, lassen sich gut zwischen Neurologe, Frauenärztin und Jugendlicher abklären. Nach meiner Kenntnis entscheiden sich nur wenige junge Männer zur Sterilisation. Frauen werden häufiger dazu überredet. Niemand sollte dazu gedrängt werden. Es ist noch nicht lange her, vielleicht gerade 20 Jahre, dass junge Menschen noch heimlich und ohne ihre Einwilligung sterilisiert wurden. Das ist eindeutig verboten, weil es Menschenrechte verletzt. Vor und während des zweiten Weltkriegs sind viele Menschen zwangssterilisiert worden. Hinter heimlicher oder Zwangssterilisation steht die Anmaßung, darüber entscheiden zu dürfen, welches Leben lebenswert ist und welches nicht. Wenn es heute ungewollt zur Schwangerschaft kommt, gibt es Möglichkeiten, damit umzugehen. Z.B. gibt es inzwischen auch junge Frauen oder Pärchen mit Behinderungen, die unter Anleitung mit ihrem Kind leben können.


Fazit: Sexualität ist ein Ausdruck von gelebter Lebensfreude, die keinem Menschen versagt werden sollte!


Anregungen zum Thema finden Sie in:

  • Sexualpädagogische Materialien für die Arbeit mit geistig behinderten Menschen, herausgegeben von der Bundesvereinigung Lebenshilfe im Beltz - Verlag
  • Pro Familia - Beratungsstellen in Ihrer Nähe

 

Helga Rühling arbeitet als Diplom-Psychologin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in der Beratungsstelle Bethel mit den Schwerpunkten Epilepsie, Entwicklungsauffälligkeiten und Behinderungen