Nicht alles was zuckt ist epileptisch!
Differentialdiagnose „anfallsartiger“ Bewegungsstörungen im Kindesalter
Nicht epileptische anfallsartige Bewegungsstörungen des Kindesalters sind häufige Ereignisse. Eine gute Beschreibung durch Eltern und nach Möglichkeit direkte Beobachtung des Ereignisses (Video-Aufzeichnung, auch per Handy) sollten die richtige Diagnose mit Abgrenzung zum immer wieder vorschnell diagnostizierten epileptischen Anfall ermöglichen. Im Folgenden wird die klinische Symptomatik der häufiger auftretenden Bewegungsstörungen, die in der Differentialdiagnostik bedacht werden müssen, dargestellt.
Jactatio capitis et corporis nocturna
Bei der Jactatio capitis et corporis nocturna (Hin und Herwerfen des Kopfes und des Rumpfs) handelt es sich um rhythmische stereotype (gleichförmige) schlagende Bewegungen des Kopfes oder Körpers zu Beginn des Schlafes im Schlafstadium I oder während eines kurzen Aufwachens aus dem Schlafstadium II. Häufigste Form sind Kopfrollbewegungen oder Kopfschlagen. Die Dauer schwankt zwischen 30 Sekunden und 30 Minuten, in mehr als 60 % der Fälle beginnt dieses Bewegungsmuster um den 9. Lebensmonat auf und endet in der Regel um das 5. Lebensjahr.
Synkope
Synkopen (Kreislaufkollaps) sind häufige Ereignisse im Kindesalter, schätzungsweise haben 30 – 50 % der Kinder ein solches Ereignis bis zum jungen Erwachsenenalter. Die Abnahme der Hirndurchblutung auf weniger als 30 ml/100 gr. Hirngewebe pro Minute führt zur Synkope mit Verlust des Muskeltonus (Muskelspannung). Unterschieden werden kardio-vaskuläre (das Herz und das Gefäßsystem betreffend)und neurokardiogene Synkopen, wobei gerade im Kindesalter die neurokardiogene Synkope (vasovagale Synkope, vasovagal=durch einen Reflex hervorgerufene Weitstellung der Blutgefäße und Verringerung der Herzfrequenz) am häufigsten auftritt. Nur sehr selten kann ein epileptischer Anfall durch eine Synkope getriggert werden.
Die ausführliche Anamnese – mit Vorboten wie Schwarzwerden vor den Augen, Schweißausbruch oder veränderte Hörwahrnehmung bei langem Stehen in überfüllten schlecht gelüfteten Räumen müssen zur Diagnose Synkope führen. Das Auftreten einer Synkope während körperlicher Betätigung sollte immer an ein Long-QT-Syndrom (spezielle Herzerkrankung) denken lassen.
Affektkrämpfe – breath holding spell attacks
Affektkrämpfe – blau (80 %) und blass (20 %) - treten typischerweise im Kleinkindesalter auf. Bis zu 4 % der Kinder unter 5 Jahren erleiden einen Affektkrampf. Der blaue Affektkrampf, ausgelöst durch unterschiedliche Ereignisse (z.B. Kind bekommt seinen Willen nicht), hat durch die Totraumventilation (jener Teil der Atemluft, welche in Bronchien und Lunge hin und herbewegt wird und nicht veratmet wird) eine längere Anlaufzeit bis zum Bewusstseinsverlust. In der Endphase der zerebralen Hypoxie (Sauerstoffmangel im Gehirn) treten kurze schultergürtelbetonte Myoklonien (Zuckungen) auf, die nicht mit epileptischen Zuckungen verwechselt werden dürfen. Im Gegensatz dazu tritt die blasse Synkope, häufig schmerzinduziert, schlagartig auf. Die Langzeitprognose ist gut, die Symptomatik ist in der Regel selbstlimitierend, eine Therapie ist nicht erforderlich. Bei Kindern mit Affektkrämpfen sollte eine Eisenmangelanämie systematisch ausgeschlossen werden, im positiven Fall entsprechend mit Eisen behandelt werden.
Gutartige Schlafmyoklonien des Säuglings
Die gutartigen Schlafmyoklonien (Muskelzuckungen im Schlaf) des Säuglings werden klinisch diagnostiziert. Oft schon in den ersten Lebenstagen beginnend und im non-REM-Schlaf auftretend, sind fokale, multifokale oder beidseitig synchrone Myoklonien, die häufig die oberen Extremitäten betreffen, das führende Symptom. Diese können hochfrequent auftreten. Im EEG findet sich kein pathologischer Befund; durch Aufwecken des Kindes lassen sich die Myoklonien sofort unterbrechen. Die Myoklonien hören in der Regel um den 6. Lebensmonat auf.
Gutartiger frükindlicher Myoklonus
Der gutartige frühkindliche Myoklonus tritt bei gesunden Kindern im ersten Lebensjahr (3. – 15. Lebensmonat) auf. Die Symptomatik ist gekennzeichnet durch Beugebewegungen des Halses begleitet von Schüttelbewegungen des Kopfes und der Axialmuskulatur. Die Symptomatik tritt nur im Wachen auf, mehrmals am Tag häufig in Clustern, was immer wieder zu Verwechslungen mit BNS-Anfällen (Blitz-Nick-Salaam Anfälle) führt; Grimassieren kann ein Begleitphänomen sein. Das EEG ist immer normal. Nur in Ausnahmefällen ist eine EEG- Langzeitableitung zum sicheren Ausschluss einer Epilepsie notwendig. In der Regel hören die Symptome von selbst auf.
Pavor nocturnus (Nachtschreck)
Mit einer Häufigkeit von 3.5% treten bei Kindern im Alter zwischen 4 und 12 Jahren nächtliche plötzliche Angstzustände auf, die häufig dramatischen Charakter mit angstvollem, inhaltlich durchaus verständlichem Schreien haben. 1 bis 2 Stunden nach dem Einschlafen „erwachen“ die Kinder, sitzen angstvoll im Bett, laufen durchs Zimmer und wehren häufig Zuwendung der Eltern ab. Die Augen sind weit geöffnet, die Pupillen erweitert. Es besteht eine Amnesie für diese Zeit. Der Pavor nocturnus ist an den non-REM-Schlaf gebunden. Die Diagnose wird klinisch gestellt. Der Verlauf ist immer gut, die Symptome hören spontan noch im Kindesalter auf, selten dauern sie bis in Erwachsenenalter.
Tic Störungen
Das klinische Spektrum der Tic - Störungen ist auch im Kindesalter sehr vielgestaltig. Das Spektrum reicht vom einfachen „nervösen“ Tic bis hin zu komplexen Störungen, die oft klinisch ausgestaltet und nicht immer gleich erkennbar sind. Wichtige Symptome sind bizarre Muster, Zunahme bei Beachtung, Abnahme bei Nichtbeachtung und wechselnde Bewegungsmuster. Bei Mädchen tritt als häufigstes Muster rhythmisches Einknicken in den Knien auf. Wichtig ist für die Diagnose auch die Fähigkeit der Patienten, ihren Tic für kurze Zeit willentlich zu unterdrücken. All diese Symptome sind Hinweise, die für eine Tic – Störung sprechen..
Viele Tic – Störungen hören von allein auf. Hilfreich kann, je nach Leidensdruck, häufig mehr bei den Eltern als beim Kind, Psychotherapie oder in besonders hartnäckigen Fällen eine medikamentöse Behandlung sein.
Schauderattacken – Shuddering attacks
Schauderattacken sind durch plötzlich auftretende Änderung der Körperhaltung - als würde kaltes Wasser über den Körper gegossen - mit Anspannung der Muskulatur, kurzer Dauer und Schüttelbewegungen gekennzeichnet. Der Kopf ist dabei gebeugt oder zur Seite geneigt, Beine und Arme haben eine erhöhte Muskelspannung, wobei die Arme auch gebeugt sein können. Beginn im Säuglings – und Kleinkindesalter mit variabler Frequenz des Auftretens. Der Verlauf ist immer gut, das Bewegungsmuster hört spontan auf. Die EEG – Diagnostik ist immer normal.
Benigner paroxysmaler Schwindel – gutartiger plötzlicher Schwindel
Im Alter zwischen 1 und 3 Jahren plötzlich auftretender Schwindel ohne Vorboten von kurzer Dauer, in der Regel bis zu 1 Minute. Die Kinder sind blass, ängstlich, wollen sich festhalten oder legen sich auf den Boden, um nicht zu stürzen. Häufig tritt begleitend ein Nystagmus (Augenzittern) auf. Das Bewusstsein ist nicht gestört. Der Verlauf ist selbstlimitierend bis zum Eintritt ins Schulalter, eine Therapie erübrigt sich. Ähnlich wie beim plötzlichen Torticollis (Schiefhals) wird eine Beziehung zur Migräne vermutet. Wegen des altersbedingten Unvermögens einer Zustandsbeschreibung durch das Kind selbst besteht schnell eine Verwechslung mit komplexen Partialanfällen, das normale Verhalten mit fehlendem Bewusstseinsverlust sollte jedoch die richtige Zuordnung ermöglichen.
Benigner paroxysmaler Torticollis – gutartiger plötzlicher Schiefhals
Beim benignen paroxysmalen Tortikollis besteht wahrscheinlich eine enge Beziehung zum paroxysmalen benignen Schwindel im ersten Lebensjahr. Die Schiefhalsattacken dauern von mehreren Minuten über Stunden bis zu Tagen, begleitet von rezidivierendem Erbrechen. Als Ausdruck einer Innenohrbeteiligung können rollende Augenbewegungen auftreten. Der Verlauf ist selbstlimitierend, zum Ausschluss krankhafter Veränderungen des Gehirnes ist bei der Erstattacke eine Bildgebung des Gehirnes notwendig. Familiäre Verläufe können vorkommen. Eine Beziehung zur Migräne wird diskutiert, da viele Kinder im Verlauf ihres Lebens eine Migräne bekommen.
Teil 2 dieses Artikels folgt in der nächsten Ausgabe
Gerhard Kurlemann, Barbara Fiedler
Klinik für Kinder – und Jugendmedizin – Allgemeine Kinderheilkunde
Bereich Neuropädiatrie
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