Lehrer mit Epilepsie – Vorbild für Schüler?

eine NEA-Fallbeschreibung … oder so arbeitet das Netzwerk Epilepsie und Arbeit

Nach langjähriger Anfallsfreiheit verlor der 42-jährige Berufsschullehrer Matthias L. im Unterricht plötzlich das Bewusstsein und stürzte zu Boden. Die angehenden Kfz-Mechatroniker wurden Zeugen eines Grand mal-Anfalls und informierten umgehend die Schulleitung, die einen Notarzt rief. Für die Berufsschule stellte sich die Frage, ob man den erfahrenen und geschätzten Kollegen trotz der Epilepsie weiter im Theorieunterricht und im Werkstattbereich einsetzen könne. Besorgt zeigte sich die Schule besonders hinsichtlich möglicher anfallsbedingter Verletzungsrisiken, schnell stand aber auch die Frage der Aufsichtspflicht im Raum.

In Folge dieses großen Anfalls hatte Matthias L. etwa alle drei bis vier Wochen weitere Grand mal-Anfälle und Absencen, weswegen er vom behandelnden Neurologen krankgeschrieben wurde. Um die Epilepsiediagnose abzuklären und damit die Weichen für die berufliche Zukunft zu stellen, wurde ein stationärer Aufenthalt in der nahe gelegenen Epilepsieklinik empfohlen. Dort wurde in einem mehrtägigen Monitoring die Diagnose „primär generalisierte idiopathische Epilepsie“ gestellt und eine Medikamentenumstellung begonnen. Die berufliche Zukunft als Berufsschullehrer war damit aber noch nicht gesichert.

Daher folgte ein Ortstermin in der Berufsschule, bei dem Fachleute aus verschiedenen Bereichen anwesend waren, um gemeinsam mit Herrn L. die Einsatzmöglichkeiten als Lehrer zu besprechen. Neben dem Schulleiter und seinem Stellvertreter waren vom zuständigen Integrationsamt der Technische Berater sowie der Sachbearbeiter für den Bereich Prävention, der Schwerbehindertenvertreter, der Sicherheitsingenieur und der Zuständige für das Betriebliche Eingliederungsmanagement der Stadt sowie eine Mitarbeiterin der örtlichen Epilepsieberatungsstelle und Mitarbeiter des regionalen NEA-Fachteams anwesend. Gemeinsam wurde erörtert, wer durch einen epileptischen Anfall von Matthias L. welchen Gefahren ausgesetzt wäre. Grundlage hierfür war der aktuelle medizinische Befund und die seit der Medikamentenumstellung bestehende zweimonatige Anfallsfreiheit.

Beim runden Tisch wurde als zentrales Risiko die fehlende Aufsicht der 15- bis 18-jährigen Schüler während eines Anfalls und der Phase der Reorientierung genannt. In der Schulordnung ist geregelt, dass der Klassensprecher den Ausfall oder das Nichterscheinen des Lehrers im Schulsekretariat melden muss, damit dieses einen Ersatzlehrer benennen kann, der die Aufsicht der Klasse übernimmt. Nun stellte sich die Frage, ob die Schüler in der Zeit bis zum Eintreffen des Ersatzes erhöhten Risiken ausgesetzt sind.

Um diese Frage zu beantworten, wurden die einzelnen Räume für den Praxisunterricht besichtigt, um hier die möglichen Selbstgefährdungsrisiken für Herrn L. sowie die Fremdgefährdungsrisiken für die Schüler zu ermitteln: Im Elektronikraum ist die Elektronik eines Autos mit seinen verschiedenen Lampen und Leuchten simuliert. Die maximale Spannung liegt bei 12 V, was für Menschen keine Gefahr darstellt. Nebenan, im so genannten Motorenraum, befindet sich ein funktionstüchtiger Motor, der durch eine Gitterbox abgeschirmt ist, damit sich die Schüler nicht am heißen Motor verletzen können. Im Fahrwerksraum lernen die Schüler die Praxis rund ums Auto an zwei Fahrzeugen und verschiedenen Maschinen. Im letzten Unterrichtsraum, dem Werkbankraum, wird gelehrt, wie Teile vermessen und bearbeitet werden.

Die umfassende Betrachtung der einzelnen Tätigkeitsbereiche von Matthias L. ergab, dass wegen des hohen Sicherheitsstandards in Schulen keine erhöhten Risiken für den Lehrer und/oder seine zu betreuenden Schüler während eines epileptischen Anfalls vorliegen, die grundsätzlich gegen eine Weiterbeschäftigung als Lehrer sprechen. Lediglich wenige Teilaufgaben, wie z. B. der Umgang mit Benzin und Öl, mussten ausgeschlossen werden, bis eine einjährige Anfallsfreiheit vorliegt.
Nachdem nur geringfügige Selbstgefährdungsrisiken ermittelt werden konnten, blieb also noch die offene Frage wegen der fehlenden Aufsicht der Schüler während eines Anfalls: Trotz intensiver Erörterung der Problematik konnten keine Risiken für die Schüler eruiert werden.

Matthias L. ist im Praxisunterricht immer nur für die eine Hälfte der Klasse zuständig, die andere wird von einem Kollegen im gleichen Raum unterrichtet. Dieser könnte im Falle eines Anfalls sofort die Aufsicht der anderen Klassenhälfte übernehmen. Ferner kann im Gegensatz zu Kindern im Grundschulalter von Berufsschülern ein adäquates Handeln in einer Notfallsituation erwartet werden. Nach Abwägung der vorliegenden Risiken konnte einer Weiterbeschäftigung von Matthias L. als Lehrer zugestimmt werden.

Für die allgemeine Sicherheit wurde vereinbart, dass Matthias L. seine Schüler über seine Erkrankung informiert und in den Unterrichtsräumen entsprechende „Notfallpläne“ ausgehängt werden, auf denen Erste-Hilfe-Maßnahmen bei einem epileptischen Anfall genannt werden sowie die Notrufnummern angegeben sind.

Die zuständige Arbeitsmedizinerin hat aufgrund der Ergebnisse der Arbeitsplatzbesichtigung eine arbeitsmedizinische Beurteilung erstellt, in der die ermittelten Risiken konkret benannt wurden. Die als gefährlich eingestuften Tätigkeiten wurden untersagt, bis eine einjährige Anfallsfreiheit nachgewiesen wird.

Dank der guten interdisziplinären Zusammenarbeit der verschiedenen Experten und der Bereitschaft der Schule ist eine Weiterbeschäftigung von Matthias L. als Berufsschullehrer in seinem bisherigen Tätigkeitsbereich möglich. Seit der Medikamentenumstellung ist er anfallsfrei und unterrichtet seit Schuljahresbeginn wieder die angehenden Kfz-Mechatroniker in den praxisnahen Fächern, aber sicher auch indirekt in den Bereichen Verantwortungsbewusstsein und Selbstständigkeit. Denn auch durch seine Einschränkung oder sein Hilfebedürfnis in manchen Situationen kann er als Lehrer sicher ein Vorbild für die Entwicklung der Jugendlichen sein.

* Name von der Redaktion geändert

Karen Sorgenfrei,
NEA-Fachteam



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