„ ... und es beginnt ein neues Leben!“

Zusammenfassung einer Studie zur Veränderung der innerweltlichen Situation von Familien durch die Geburt eines behinderten Kindes


Am 28. Februar 1992 änderte sich mein Leben schlagartig. Am Vortag wurde mein erstes und einziges Kind geboren. 36 Stunden nach der Geburt teilte man meinem Mann und mir technokratisch und lapidar mit, dass Veronika wahrscheinlich kein Gehirn besäße. Mir wurde empfohlen, diese Mangelgeburt am besten zur Seite zu legen. Ich denke, ich brauche nicht beschreiben, was danach alles passierte. So, oder so ähnlich, wird es vielen Eltern ergangen sein, die ein behindertes Kind zur Welt gebracht haben. Viele werden meine Meinung teilen, dass ein neues Leben zum einem, das des Kindes, und zum anderen, für uns Eltern, begonnen hat. Bei den Wegen, die unsere Familie gezwungenermaßen durch unsere Gesellschaft und deren Institutionen gegangen sind, stellte ich fest, dass sich unsere Familie veränderte. Woran das lag, und ob es anderen Familien ebenso erging, war Gegenstand dieser Untersuchung.

Beschreibung der Durchführung

Über Internetaufrufe habe ich zwischen dem 1.11.2008 bis 31.12.2008 auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland 932 komplett ausgefüllte Fragebögen zurück erhalten. Ich verwendete meinen eigenen Fragebogen, da vorhandene nicht die Problemfelder abdeckten, die ich untersuchen wollte.

Beschreibung der Teilnehmer

Auffallend war, dass von 932 Teilnehmern der Studie 82 % die Mütter, 9 % Väter und 8 % Elternpaare den Fragebogen ausfüllten. Dieser relativ geringe Anteil der Väter wurde bereits von anderen Forschern bestätigt. Zum Bundesdurchschnitt erhöht, haben meine Teilnehmer einen Hochschulabschluss. Ebenfalls war ein erhöhter Anteil an bayrischen Teilnehmern festzustellen. Die behinderten Kinder waren zu 62 % männlich und zu 38 % weiblichen Geschlechtes.

Die Belastungen von außen

Die Mitteilung der Diagnose bleibt bei vielen Eltern jahrelang, oft sogar im Wortlaut gespeichert. 18 % gaben an, dass die Art und Weise der Mitteilung kalt und herzlos gewesen sei. 55 % erinnerten einen neutralen, sachlichen Ton. Nur 19 % bekamen diese, das Leben komplett verändernde Nachricht, warm und einfühlsam überbracht. Zu einem hohen Belastungsfaktor zählen die Schuldvorwürfe, denen man sich ausgesetzt fühlt. 317 Familien haben dies erlebt. Circa die Hälfte davon wurde von außen (Nichtverwandte) angegriffen. Diese Schuldvorwürfe waren unabhängig von der Behinderungsart. Neben diesen Belastungen wurden noch andere ermittelt:

  1. es kostet sehr viel Zeit, den richtigen Ansprechpartner für die medizinische/therapeutische Behandlung zu finden;
  2. Ärzte wissen eher weniger über die Behinderung und deren Behandlung;
  3. Anträge für Therapien und Hilfsmittel bei Kassen und Behörden sind zu aufwendig;
  4. Krankenkassen lassen sich oft viel Zeit, um Anträge zu bewilligen;
  5. viele Anträge werden abgelehnt, so dass man kämpfen muss;
  6. die Verantwortlichkeit wird oft zwischen den Versicherungen und Ämtern hin- und hergeschoben;


Die finanziellen Belastungen (vom Finanzamt anerkannt) betragen im Schnitt ca. € 2.200 pro Jahr, wobei diese Zahl, je nach Behinderungsart, stark variieren kann. Außerdem fallen Kosten für Wohnungsumbau, das Umrüsten des Autos und für Therapien, die nicht von einem Träger übernommen werden, an. Dass diese Werte sich nicht am tatsächlichen Bedarf orientieren, sondern vom Einkommen limitiert sind, liegt auf der Hand.

Alle Eltern haben eine Angabe zur Schulsituation der Kinder gemacht. 25 % besuchen eine Regelschule, 23 % eine Integrative Einrichtung , 48 % eine Fördereinrichtung. Der Rest von 5 % ließ sich keiner dieser Kategorien zuordnen. Eine Tendenz weg von der Förderein-richtung, hin zur Regelschule bzw. Integrativen Einrichtung ist deutlich festzustellen. Viele behinderte Kinder besuchen einen Integrativen Kindergarten, wechseln aber dann auf eine Förderschule. Dass dies oft nicht den Wünschen der Eltern entspricht, zeigt sich an folgenden Zahlen: 36 % der Eltern, deren Kinder eine Fördereinrichtung besuchen, hätten sich eine Regel- bzw. eine Integrative Einrichtung gewünscht. Die höchste Zufriedenheit mit der Schule zeigt sich bei Eltern, deren Kinder in eine Integrative Einrichtung gehen, die höchste Unzufriedenheit bei Eltern, deren Kinder in eine Fördereinrichtung gehen.

36 % der Eltern, deren Kinder in eine Fördereinrichtung gehen, denken, dass die Schule zu weit weg ist. Bedenkt man, dass bei 85 % der Kinder dieser Studie im Behindertenausweis das Merkmal „hilflos“ steht und bei 83 % das Merkmal „benötigt Begleitperson“, so wird die Frage aufgeworfen, wie diese beiden direkten und indirekten Forderungen vom Busfahrer, der sich auf den Verkehr konzentrieren sollte, erfüllt werden können.

Ganz deutlich lässt sich hier ein Trend ablesen, der auf eine von vielen Eltern bevorzugte Beschulung ihrer behinderten Kinder im Regelschulsystem bzw. in Integrativen Einrichtungen hinweist. Dazu benötigt man oft einen Integrationsassistenten, Stützer oder ähnliches. Dieser Assistent wird oft aus den Mitteln des persönlichen Budgets bezahlt. Eltern sind dann immer wieder mit der Behauptung konfrontiert, dass diese Art der Beschulung einen erheblichen finanziellen Mehraufwand für den Staat bedeutet.

Das statistische Bundesamt hat einen Vergleich der Bildungskosten zwischen den einzelnen Schularten und Bundesländern aufgrund der Zahlen von 2007 statistisch aufgearbeitet. Man stellte fest, dass in der BRD für Grundschulen € 4.200, für Hauptschulen € 6.000, für Realschulen € 4.600, für Gymnasien € 5.600, für Gesamtschulen € 5.800 und für Förderschulen € 13.100 pro Schüler und Monat ausgegeben wurde.  Bildet man die Differenz zwischen den Kosten einer Förderschule und einer Regelschule, so bleibt ein Unterschied zwischen € 8.900 bis € 7.300. Nicht mit eingerechnet sind hier die anhängenden Kosten, wie z. B. der Fahrdienst, Nachmittagsbetreuung und die Kosten, die aus der Tatsache heraus erwachsen, dass, wie Prof. Wocken nachgewiesen hat, die Kinder, die in Förderschulen unterrichtet werden, in einem höheren Maße unselbstständig bleiben und lebenslang auf Hilfe angewiesen sind.

Meiner Erfahrung nach kann von diesem Differenzbetrag nicht nur ein Integrationshelfer bezahlt, sondern es können auch noch viele weitere Anschaffungen getätigt werden. Es wird also konstatiert: Integration bzw. Inklusion wird nicht kostenintensiver. Meist ist diese Variante deutlich kostengünstiger als die Beschulung in einer Förderschule.

Belastungen von innen

Circa ein Drittel der Mütter entwickelten Schuldgefühle, 11 % der Väter. Wenn Schuldvorwürfe geäußert werden, dann gegenüber der Mutter. 20 % hatten damit zu kämpfen. Es zeigte sich, dass diese vor allem von der Oma väterlicherseits, dann von der Oma mütterlicherseits kamen. Ebenfalls kamen sehr viele Schuldvorwürfe von Nichtverwandten (medizinisches Personal, Passanten etc.).

Fast zu erwarten war das Ergebnis, dass vor allem die Mütter mit zusätzlicher Arbeit belastet sind. Väter übernehmen von der breiten Aufgabenpalette am ehesten den Schriftverkehr mit Versicherungen und Behörden. Ferner wurden die Belastungen nach folgenden Kriterien bewertet:

  1. Belastungen durch den täglichen Umgang mit dem behinderten Kind;
  2. Belastungen durch die Gedanken über die Nichtakzeptanz des Kindes innerhalb der Familie;
  3. Sorge um die Zukunft des Kindes;
  4. Sorge um die finanzielle Situation der Familie;
  5. Sorge, keine Kraft für andere Familienmitglieder zu haben.


Hier wurde vor allem Punkt 3 als sehr belastend empfunden. Punkt 5 wurde - je nach Behinderungsart und finanzieller Situation der Familie - als mehr oder weniger belastend empfunden.

Die Hälfte der Eltern ändert nach Geburt eines behinderten Kindes die Familienplanung. Davon wieder die Hälfte gab an, dass sie noch weitere Kinder wollen, unter dem Hauptaspekt, dass das behinderte Kind dann viel von einem Geschwisterkind lernen kann. Die andere Hälfte hatte entweder Angst, dass ein zweites Kind ebenfalls behindert sein könnte, oder dass sie keine Zeit mehr für ein weiteres Familienmitglied aufbringen können.

Um auftretende Konflikte lösen zu können, benötigt man viel Zeit. Am häufigsten wird dabei über die richtige Auswahl von Therapien, Betreuung und Schule und Kindergarten gesprochen. Um die anfallenden Aufgaben besser bewältigen zu können, organisieren sich ca. 2/3 der Eltern in Selbsthilfegruppen, die vor allem die Aufgabe erfüllen, die Eltern psychologisch/moralisch zu unterstützen. Dicht gefolgt von den Gruppen, die über die betreffende Behinderung informieren.

Innerhalb der Familie erhalten die Eltern allerdings auch viel Unterstützung. Ich fragte nach der

  • Hilfe bei der tagtäglichen Aufgabenbewältigung,
  • finanziellen Unterstützung,
  • psychischen Unterstützung.


Auffallend ist das unterschiedliche Engagement der Großeltern väterlicherseits zu den Großeltern mütterlicherseits. Deutlich fällt der relativ hohe Einsatz auf, den die Oma mütterlicherseits erbringt, gefolgt vom Einsatz ihres Ehemannes und der Oma väterlicherseits. Der Opa väterlicherseits hält sich am meisten zurück. (Dieses Ergebnis wurde bereits von Prof. Euler publiziert, der Untersuchungen zu Familiensituationen (ohne behindertes Kind) machte. 32 % der Mütter nahmen professionelle Hilfe zur psychologischen Unterstützung in Anspruch, die Väter benötigten dies nur zu 11 %.

Die Veränderung der Familie

Familienstand: Keine Veränderung gab es bei 69 %, 14 % der Eltern haben sich getrennt oder ließen sich scheiden, 7 % haben ihren bisherigen Partner sogar geheiratet. Weitere 7 % haben einen neuen Partner. Es herrscht in vielen Elternrunden die Meinung vor, dass ein behindertes Kind die Ehe sehr stark belastet, so dass die Väter oft aus der Verantwortung herausgehen und die Ehe verlassen. Dieses Vorurteil bestätigte sich nicht. Väter sind wesentlich besser als ihr Ruf! Es gibt zwar Trennungen bzw. Scheidungen, aber das Gros der Eltern veränderte seinen Familienstand nicht.

Veränderung der Einstellung zum Glauben

Eltern, die vor der Geburt ihren Glauben als wichtig für ihr Leben eingestuft haben, vertiefen diesen Glauben eher als die Eltern, die ihren Glauben vor der Geburt als unwichtig eingestuft haben.

Veränderung des Kontaktes zu den Familienmitgliedern

Der Kontakt zu der mütterlichen Seite ist in beiden Fällen deutlich besser. Der Kontakt zu den Verwandten verbessert sich durch die Geburt eines behinderten Kindes auf der mütterlichen Seite deutlich mehr als auf der väterlichen Seite.

Veränderung der Einstellung zum Leben durch die positiven und negativen Erfahrungen
Im Fragebogen wurden zur Sichtbarmachung dieser Erfahrung zwei offene Fragen gestellt:

  1. Welche Auswirkungen der Behinderung Ihres Kindes waren oder sind für Sie besonders schlimm?
  2. Welche positiven Auswirkungen hatte die Behinderung Ihres Kindes?



Ganz deutlich tritt als schlimmste Auswirkung, noch vor der Krankheit und Behinderung selbst, die Ausgrenzung hervor. 66 % der Eltern haben nicht nur Erfahrungen mit der Ausgrenzung gemacht, sondern sie sehen dies auch als eine schlimme Erfahrung an. Die Diskriminierung trifft die ganze Familie, Geschwisterkinder, Eltern und sogar Großeltern, wie ich in den Interviews erfahren habe.

Die mit Abstand wichtigste positive Auswirkung bei fast allen Eltern ist die Veränderung der Einstellung zum Leben. Damit stellt für diese Eltern die Geburt eines behinderten Kindes ein Wendepunkt in der persönlichen Entwicklung dar.

Zusammenfasend lässt sich feststellen, dass die Geburt eines behinderten Kindes wohl zu den einschneidendsten Erlebnissen im Leben von Eltern gehört. Ihr ganzes Leben kann sich dadurch ändern, nicht nur das – diese Aufgabe wird für viele Eltern lebensbestimmend. Sie müssen mit Situationen zurechtkommen, auf die sie nicht vorbereitet sind. Viele Eltern beklagen, dass sie mit Problemen zu kämpfen haben, die mit der eigentlichen Behinderung und der daraus resultierenden Pflege nichts zu tun haben. Diese Probleme sind in unserer Gesellschaft begründet.

Es hat Tradition, einen Menschen mit Behinderung als Objekt der Fürsorge zu sehen, ein Objekt, das zu seinem eigenen Schutz eher von der Gesellschaft getrennt werden muss. Diese Gesellschaft macht sich jetzt langsam auf den Weg, eine Behinderung nicht als etwas Unnormales, sondern als eine Varietät der Natur, als eine der Möglichkeiten menschlichen Lebens zu betrachten. Carl Friedrich von Weizsäcker prägte diesen Satz: „Es ist normal, verschieden zu sein“. Erst wenn dieser Satz in den Köpfen der Menschen angekommen ist und umgesetzt wurde, werden es Eltern mit besonderen Kindern leichter haben, ihre Ängste werden abnehmen, ein Stück „Normalität“ wird einkehren können. Dann wird ein Mensch mit einer Varietät zu einem Individuum, das sehr wohl sein Leben selbst in die Hand nehmen kann.

Leider ist der momentane Stand so, dass man oft auf veraltete Strukturen trifft, die es zu überwinden gilt. Nicht nur deshalb, weil die UN-Resolution dies verlangt, sondern aus einer zutiefst ethischen, humanistischen und/oder christlichen Betrachtungsweise heraus.

Dr. Petronilla Raila, Königsbrunn

Kontakt:

Dr. Petronilla Raila
Aumühlstraße 9, 86343 Königsbrunn
E-Mail: petronilla.raila(at)t-online.de


 … und es beginnt ein neues Leben!
Eine empirische Untersuchung zur Veränderung der innerweltlichen Situation von Familien durch die Geburt eines behinderten Kindes

Leseprobe und Bezugsmöglichkeit der gesamten Studie unter www.context-mv.de.