Epilepsie und Autismus
Probleme der Differentialdiagnose
Epilepsien sind nicht selten mit anderen Erkrankungen vergesellschaftet. Eine dieser Erkrankungen sind Autismusspektrumstörungen (ASS). Während die Häufigkeit von Epilepsien in der Gesamtbevölkerung zu einem bestimmten Erhebungszeitpunkt (Punktprävalenz) etwa 1 % beträgt, leiden etwa 10-40 % der Menschen mit ASS auch an einer Epilepsie. Wobei die Höhe dieses Prozentsatzes mit Art des Autismus variiert. Die niedrigsten Anteile finden sich mit etwa 4 % in der Gruppe des High-Functioning-Autismus ohne weitere Begleiterkrankungen oder Behinderungen. In der Gruppe der Menschen mit ASS, die auch von Zerebralparesen, Entwicklungsstörungen oder einer Intelligenzminderung betroffen sind, leiden etwa 42 % zusätzlich an Epilepsie. Umgekehrt haben Menschen mit Epilepsie ebenfalls ein höheres Risiko von ASS betroffen zu sein.
Als Ursache für Epilepsien kommen neben Verletzungen des Gehirns auch Durchblutungsstörungen, entzündliche Prozesse Tumore oder angeborene Fehlbildungen in Frage. Außerdem gibt es eine Reihe von Genveränderungen, die relativ eng mit Epilepsie verbunden sind.
Die Autismusspektrumstörungen (ASS) sind hinsichtlich ihrer Symptomatik gut beschrieben. Hier stehen Störungen der exekutiven Funktionen (z. B. Konzentrationsfähigkeit) der Empathie (Einfühlungsvermögen) und der Abstraktionsfähigkeit im Vordergrund. Zu den Ursachen dieser Symptome gibt es jedoch bisher kaum gesicherte allgemein gültige Erkenntnisse. Verschiedene genetische Besonderheiten wurden mit Autismus in Verbindung gebracht, konnten jedoch nicht eindeutig ursächlich zugeordnet werden. Bei einigen genetisch bedingten Syndromen treten sowohl Epilepsien als auch ASS auf, z. B. beim Rett-Syndrom, der tuberösen Sklerose oder dem fragilen-X-Syndrom.
Aufgrund der relativ großen Schnittmenge von Patienten mit Epilepsie und Autismus kommen auch regelmäßig Patienten in unser Zentrum, die von beiden Erkrankungen betroffen sind. Hier ist die Differentialdiagnose der Symptomatik oft nicht ganz einfach.
Ein Fall, den ich noch gut in Erinnerung habe, ist Anna L. (Name geändert). Die junge Frau lebt in einem Wohnheim und fiel durch regelmäßige Schreiattacken auf. Mit der Frage, ob es sich dabei um eine Form epileptischer Anfälle handeln könnte und ob wir mit der Eindosierung eines Medikamentes Abhilfe schaffen könnten, kam die Patientin zur Aufnahme auf unsere Station für Menschen mit komplexen Behinderungen. Frau L. brach immer dann in Schreien aus, wenn sie eine Situation als bedrohlich empfand oder sich gedrängt sah, etwas Bestimmtes zu tun. Solange sie ihrem eigenen Rhythmus und ihren eigenen Antrieben folgen konnte, traten diese Schreiattacken nicht auf. Die Patientin schrie in diesen Zuständen aus Leibeskräften und sah einen dabei klar an. Hier sprach nichts für epileptische Anfälle. Dieses Verhalten wurde sicher von der Patientin, die in ihrer Vergangenheit auch unter Vernachlässigung und Gewalt zu leiden hatte, erlernt und bewährte sich aus ihrer Sicht gut, denn bisher wurde sofort von ihr abgelassen, wenn sie ihre stimmliche Gewalt zeigte. Im Verlauf der Behandlung bei uns nahmen die Schreiattacken langsam ab. Wir fanden immer besser heraus, welche Situationen Frau L. Angst machten und versuchten, ihr genug Bewegungsspielraum zu lassen. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, die Patientin zu ungeliebten Aktivitäten zu veranlassen, haben wir uns durch die Schreie nicht einschüchtern lassen, sondern beharrten freundlich auf dem Ansinnen (z. B. jetzt die Körperpflege durchzuführen).
Ein anderer Fall war Herr K., ein schwer körperlich und geistig behinderter Patient, der nicht zu verbaler Kommunikation fähig war und starke autistische Verhaltensweisen zeigte. Dieser Patient hatte unklare Zustände mit Lidzittern und einer Blickwendung nach oben, die wie absenceartige epileptische Anfälle anmuteten. Hier haben wir lange gerätselt, worum es sich handeln könnte.
Nach Möglichkeit nehmen wir Anfallszustände auf Video auf und diskutieren unklare Fälle einmal wöchentlich im Kollegenkreis. Auf diesen Videos fiel auf, dass das Lidzittern immer auftrat, wenn der Patient mit sich allein war und sich scheinbar recht wohl fühlte. Spürte er, dass sich ihm eine Pflegerin näherte und ihn ansprach, verzog sich sein Gesicht oft zu einer sehr missmutigen Grimasse und das Lidzittern hörte auf. Hier haben wir uns für die Deutung entschieden, dass das Lidzittern eine Art Autostimulation ist, wie man sie häufig bei Menschen mit Autismus beobachtet und die zum Wohlbefinden dieser Menschen beiträgt, wohl weil dadurch die eingehenden Reize eine klare Struktur erhalten und die unberechenbare Außenwelt auf Distanz gehalten wird.
Man kann oft beobachten, dass Betroffene mit der Hand oder einem Gegenstand vor ihren Augen wedeln, dazu war Herr K. jedoch aufgrund seiner körperlichen Einschränkungen nicht in der Lage. In diesem Fall bestand kein Interventionsbedarf, da das Lidzittern weder für den Patienten noch für seine Umwelt ein Problem darstellte.
Einen dritten Patienten möchte ich hier noch kurz erwähnen, nennen wir ihn Klaus S. Bei ihm kam es zu Zuständen mit Schreien und Aggression und zu Anfällen mit feinen Zuckungen der Extremitäten bis hin zu klassischen tonisch-klonischen, klar epileptischen Anfällen. Herr S. hatte die Diagnose Autismus und die Diagnose Epilepsie bereits seit Jahren abgeklärt bekommen, da es aber noch nicht gelungen war, die epileptischen Anfälle befriedigend unter Kontrolle zu bekommen, hielt er sich immer wieder in unserer Klinik auf.
Obwohl uns der Patient recht gut bekannt war, machte es immer wieder Probleme, die einzelnen Anfälle zutreffend zu kategorisieren. Mir steht eine Filmaufnahme vor Augen, wo der Patient auf dem Fußboden sitzt und mit kleinen Bausteinen monotone Spiele ausführt. Dabei quietscht er vor Vergnügen und sein rechter Fuß zittert vor Aufregung, dieses geht nahtlos in einen epileptischen Anfall über, was man anfangs nur daran erkennt, dass das Zittern des Beines gröber wird. Vermutlich werden bei diesem Patienten nicht alle epileptischen Anfälle registriert, weil sie teilweise von seinen autistischen Bewegungsstereotypien überdeckt werden.
Eine Abklärung unklarer motorischer Symptome in einem spezialisierten Zentrum erscheint sinnvoll, weil unbehandelt die Erkrankungen Epilepsie und Autismus sich wechselseitig ungünstig beeinflussen können. So führt beispielsweise eine unbehandelte Absence-Epilepsie im Kindesalter unter Umständen zu Störungen in der geistigen Entwicklung. Werden Menschen mit Autismus nicht ihren Bedürfnissen entsprechend behandelt, erleiden sie unnötigen Stress, der wiederum die Anfallshäufigkeit bei einer Epilepsie erhöhen kann.
Sabine Schlotter, Psychologin
Sächsisches Epilepsiezentrum Radeberg
Epilepsie_Autismus_Schlotter
Kontakt:
Sabine Schlotter
Sächsisches Epilepsiezentrum Radeberg gemeinnützige GmbH
Fachkrankenhaus Station 2
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01454 Radeberg
Tel.: 0352 84311580
s.schlotter(at)kleinwachau.de
www.kleinwachau.de
Veranstaltungshinweis: Das Familienwochenende des epilepsie bundes-elternverband e. v. in NRW hat Epilepsie und Autismus als Schwerpunkt-Thema. Es findet vom 7. – 9. November 2014 im Matthias-Claudius-Haus in Meschede statt.