Antiepileptische Therapie - Teil 2

Medikamentöse Langzeitbehandlung - Für Kinder und Jugendliche

Der Beginn einer Langzeittherapie setzt die eindeutige Diagnose Epilepsie voraus, d. h. alle anderen anfallsartig auftretenden, nicht epileptischen Ereignisse müssen ausgeschlossen sein! Bis zu 20 % der Patienten – auch im Kindesalter – mit der Diagnose Epilepsie leiden an einer anderen paroxysmalen Bewegungsstörung, nur nicht an einer Epilepsie, mit allen bekannten sozialen Folgen. Das Spektrum der nicht epileptischen Bewegungsstörungen ist gerade im Kindesalter sehr groß (siehe Artikel „Nicht alles, was zuckt, ist epileptisch!“ in den epiKurier-Ausgaben Öffnet internen Link im aktuellen Fenster1/2011 und Öffnet internen Link im aktuellen Fenster2/2011).

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Die Basis der Epilepsiebehandlung im Kindes- und Jugendalter ist die medikamentöse Therapie. Dabei richtet sich die Wahl des Medikamentes nach dem Typ des Anfalls, dem Epilepsiesyndrom, dem Alter des Kindes und dem Nebenwirkungsprofil des Medikamentes. Das Erreichen einer Anfallsfreiheit ist abhängig vom Epilepsiesyndrom mit seinem z. T. außerordentlich komplexen Verlauf. Je früher eine Epilepsie beginnt, desto schwieriger kann eine erfolgreiche Therapie sein.

Nach den Vorgaben der Internationalen Liga gegen Epilepsie (ILAE) von 2010 werden Epilepsien nach verschiedenen Kriterien wie Ätiologie (=Ursachen), elektroklinischem Syndrom (EEG-Befund), charakteristische Konstellationen und natürlichem Verlauf eingeteilt. Da sich die neue Klassifikation noch nicht flächendeckend durchgesetzt hat, wird in dieser Übersicht die alte Klassifikation zugrunde gelegt. Für die pharmakologische Behandlung spielt die Unterscheidung in generalisierte versus fokale Anfälle weiterhin eine große Rolle. Die Zuordnung erfolgt nach Anamnese (=Befunderhebung), Fremdanamnese, Anfallsbeschreibung und EEG-Befunden mit fokalen oder generalisierten epilepsietypischen Veränderungen.

Für die Behandlung ist zu bedenken, dass nicht selten andere Funktionsstörungen, auch bei idiopathisch generalisierten Epilepsien, bestehen können; dies können neuropsychologische Defizite oder Teilleistungsstörungen, selten auch organische Erkrankungen, gerade im Rahmen syndromaler Erkrankungen wie z. B. Stoffwechselerkrankungen sein.

Wenn es nicht gelingt, das Epilepsiesyndrom sofort zu bestimmen, welches manchmal erst im Verlauf der Behandlung klar zu erkennen ist, sollte zumindest die Zuordnung zu einer der drei übergeordneten Einteilungen erfolgen:

  • Idiopathisch generalisierte Epilepsie
  • Idiopathisch fokale Epilepsie
  • Symptomatisch oder kryptogene fokale Epilepsie


Wirksamkeit und Verträglichkeit der therapeutischen Maßnahmen stehen gleichrangig im Mittelpunkt aller therapeutischer Bemühungen, insbesondere bei langjähriger Therapienotwendigkeit mit der Besonderheit eines sich entwickelnden kindlichen Gehirns. Nicht nur die Effektivität der Therapie mit möglichst Anfallsfreiheit ist das oberste Ziel, sondern eine Ausgeglichenheit zwischen dem medizinischen und sozialen Gefährdungspotenzial durch die Anfälle einerseits und der Therapie andererseits. Anfallsfreiheit auf Kosten kognitiver Leistungen oder des Verhaltens sollte nur noch in Ausnahmefällen toleriert und nach Möglichkeit vermieden werden.

Welches Gefährdungspotential besteht mit Epilepsie?

  • Gefährdungspotenzial durch Anfälle: Verletzungen des Patienten und von Umgebungspersonen, Ertrinken, Status epilepticus, Begrenzung der Aktivitäten mit allen sozialen Nachteilen.
  • Gefährdungspotenzial durch antiepileptische Dauertherapie: mögliche kognitive Störungen, Verhaltensauffälligkeiten und Wesensveränderungen, systemische Toxizität, Interaktionen mit anderen Medikamenten, Überempfindlichkeitsreaktionen, negativer Einfluss auf die embryonale Entwicklung (Teratogenität), z. B. Spina bifida bei Valproat-Therapie, kognitive Defizite bei überhöhter Valproat-Dosis.


Die wichtigsten Ziele für das Epilepsiebehandlungskonzept bestehen aus:

  • Anfallsfreiheit ohne oder nur mit geringen unerwünschten Wirkungen bei antiepileptischer Pharmakotherapie und anderen Therapieoptionen (Neurochirurgie, Lebensführung),
  • ungestörte altersentsprechende seelische, kognitive und motorische Entwicklung,
  • die Dokumentation ist eines der Hauptsteuerungselemente in der Behandlung der Epilepsie; Anfallsdokumentation in einem Anfallskalender, schriftlich oder elektronisch,
  • gründlichste offene Aufklärung und Patienten- und Elternschulung; Offenlegung des vermuteten oder sicher diagnostizierten Epilepsie-Syndroms,
  • Unterstützung bei der Integration in Familie, Schule, Beruf und Gesellschaft zum Erhalt einer optimalen Lebensqualität, unterstützt durch sozialpädagogische und sozialrechtliche Fachkräfte.

 

 

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Die medikamentöse Behandlung wird zunächst immer als Monotherapie geplant.

Ausnahmen ergeben sich in Abhängigkeit des Epilepsie-Syndroms – z. B. bei den idiopathischen fokalen benignen Anfällen (Rolando, BECTS: Benigne Epilepsie mit centro-temporalen Sharp waves).

Retardierte Präparate mit einer zweimaligen Gabe pro Tag werden bevorzugt eingesetzt, in Abhängigkeit des Epilepsie-Syndroms kann auch eine abendliche Einmalgabe ausreichend sein (z. B. bei der juvenilen myoklonischen Epilepsie – JME).

60-70 % der Kinder mit einer neu aufgetretenen Epilepsie lassen sich mit einer initialen Monotherapie erfolgreich behandeln. Bei den idiopathisch generalisierten Epilepsien und den idiopathisch fokalen benignen Epilepsien sind es sogar 90 % der Kinder, die unter einer initialen Monotherapie dauerhaft anfallsfrei werden. In der Gruppe der symptomatischen oder kryptogenen fokalen Epilepsien mit und ohne sekundäre Generalisierung liegt die Erfolgsrate mit einer initialen Monotherapie nur zwischen 25 und 50 %.

Bei etwa 20-35 % der Kinder kann weder mit einer initialen noch einer weiteren Monotherapie Anfallsfreiheit erzielt werden, so dass eine Kombinationsbehandlung unerlässlich ist. Dabei ist es sinnvoll, Antiepileptika mit unterschiedlichem Wirkmechanismus zu kombinieren, deren Nebenwirkungen sich nicht gegenseitig verstärken. Vermieden werden sollten Antiepileptika mit starken pharmakokinetischen Interaktionen. Klinisch gut bewährt haben sich bzgl. dieser Regeln die Kombinationen: Valproat und Ethosuximid mit synergistischem Effekt auf die Anfallsfrequenz oder Valproat mit Oxcarbazepin/Carbamazepin bei gleichzeitiger geringer neurotoxischer Nebenwirkung. Besondere Kombinationen stehen dem erfahrenen Epileptologen für z. T. seltene Epilepsie-Syndrome aufgrund guter klinischer Erfahrung zur Verfügung: z. B. Valproat und Lamotrigin unter Beachtung der Interaktion (supraadditive Wirkung, sich verstärkend ergänzende Wirkung).

Neben der Anfallskontrolle mit möglichst geringen oder fehlenden Nebenwirkungen hat die ungestörte kognitive, seelische und motorische Entwicklung der Kinder mit Epilepsie einen sehr hohen Stellenwert. Dieses wird erreicht durch die Integration innerhalb der Familie und des gesamten sozialen Umfeldes, inklusive der schulischen Eingliederung mit besonderer Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten der Kinder, die gegebenenfalls wiederholt neuropsychologisch untersucht werden müssen.

Bis zu 60 % der Kinder mit chronischen Epilepsien leiden unter Beeinträchtigungen ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit; betroffen sind Grundfunktionen wie Aufmerksamkeit, Psychomotorik, Gedächtnis oder Sprache. Abhängig von Beginn, Art und Schwere der Erkrankung lassen sich aber auch Beeinträchtigungen der allgemeinen Intelligenz feststellen; Ursachen dieser Beeinträchtigungen sind vielfältig, u. a. können Antiepileptika eine Rolle spielen.

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Die frühzeitige Erkennung kognitiver Leistungsstörungen ist gerade in jungen Jahren von großer Bedeutung, da sie die weitere Entwicklung, die schulisch-berufliche Laufbahn, die Funktionalität im Alltag und sozialen Interaktionen erheblich beeinträchtigen können. Positiv für die kognitive Entwicklung sind erfolgreiche Anfallskontrolle und Minimierung negativer Effekte einer medikamentösen Behandlung auf die Leistungsfähigkeit. Schlechte Leistungen können negative Medikamentenwirkungen widerspiegeln, wenn dies auch aus medizinischer Sicht, selbst- oder fremdanamnestisch, begründet erscheint.

Ein einfaches Testverfahren stellt der EpiTrack-Junior® dar, er umfasst sechs Teilaufgaben, dauert etwa 15 Minuten, er kann im Alter von 6-18 Jahren angewandt werden. Die sechs Teilaufgaben sind: Zahlen-Interferenztest (Reaktionsunterdrückung), Zahlen verbinden (visuo-motorisches Tempo), Zahlen-Punkte verbinden (Umstellungsvermögen), Invertierte Zahlenspanne (Arbeitsgedächtnis), Wortflüssigkeit und Labyrinth-Test (visuo-motorische Planung).

Er ist wiederholt einsetzbar und eignet sich zur therapiebegleitenden Qualitäts- und Ergebniskontrolle. Dies gilt insbesondere für Kinder mit therapieschwierigen Epilepsien und Epilepsiesyndromen. Die Ergebnisse dieses Tests stimmen ganz gut mit den Schulnoten überein.

Kontakt:

Prof. Dr. Gerhard Kurlemann
Dr. Barbara Fiedler
Universitätsklinikum Münster,
Klinik für Kinder und Jugendmedizin
Allgemeine Kinderheilkunde, Bereich Neuropädiatrie
Albert-Schweitzer Campus I,
Gebäude A1
Gerhard.Kurlemann(at)ukmuenster.de
Tel.: 0251 8347762
www.klinikum.uni-muenster.de


Bilder-Quelle:

Kurlemann-epitrack-cover.jpg: © UCB Pharma

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