Mit Epilepsie leben, besser als je zuvor

Am 19.10.2016 fand im Stadthaus die 7. Informations-Veranstaltung des Epilepsiezentrums der Universität Ulm in Zusammenarbeit mit dem Treffpunkt für junge Menschen mit Epilepsie Ulm, Neu-Ulm statt.

 

Eigentlich hatte niemand mehr aus unserem Treffpunkt geglaubt, dass die einst jährliche Informationsveranstaltung im Ulmer Stadthaus, die Dr. Holger Lerche 2004 zum Tag der Epilepsie begründet hatte, wiederbelebt würde. Vier Jahre waren vergangen, seit seine Nachfolger Dr. Frank Kerling und später Dr. Susanne Fauser die letzte angeboten hatten. Doch der neue Leiter des Epilepsiezentrums der Universität Ulm, Dr. Jan Lewerenz, nahm sie wieder auf. Und so organisierten wir wie früher gemeinsam einen Abend unter dem Motto „Im Leben – mit Epilepsie“, der mit 190 Besuchern und vielen positiven Rückmeldungen rundum gelungen und sehr informativ war. Trotz des unvermeidbaren (?) Fachvokabulars, mit dem Mediziner ihr Publikum zuweilen überfordern.

 

Worum ging es in den Vorträgen?

 

Da beschäftigte sich Dr. Hartmut Baier (Abteilung für Epileptologie des ZfP Weissenau) mit der Frage, wie sich das Krankheitsverständnis in der modernen Medizin seit Beginn des 18. Jahrhunderts entwickelt hat: Zusammenfassend sagte er: „Mit der Einführung der Naturwissenschaften in die wissenschaftliche Medizin haben wir gelernt, Vorgänge im Nervensystem genauer zu verstehen und Behandlungsstrategien abzuleiten. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war in Deutschland die Auffassung vorherrschend, dass „die Epilepsie“ eine einheitliche Erkrankung mit besonderen Charakteristika sei. Durch die Fortschritte der Diagnostik, insbesondere des EEG, kristallisierte sich jedoch immer mehr heraus, dass mit Epilepsie eine Gruppe von Krankheiten bezeichnet ist, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass epileptische Anfälle unter Alltagsbedingungen auftreten. (...) Inzwischen können wir bereits in einem Teil der Fälle nach einem ersten Anfall eine Epilepsiediagnose stellen. Auch die Bedeutung psychiatrischer Symptome bei epileptischen Erkrankungen wird heutzutage sehr viel differenzierter gesehen als vor 100 Jahren.“

Von der Diagnose zur Therapie: Nicht nur Betroffene, sondern auch Ärzte sind von dem Wunsch beseelt, Epilepsie umfassend zu „heilen“. Doch der Vortrag von Dr. Jan Lewerenz (Neurologische Universitätsklinik Ulm) über „Schulmedizinische und nicht schulmedizinische Therapie“ zeigte auf, dass die heutige Medizin und Forschung noch nicht so weit ist. Sie kann nur dafür sorgen, mit der Krankheit gut zu leben, besser als je zuvor. Jan Lewerenz sprach hier vor allem neue Medikamente an wie beispielsweise Fycompa®, das trotz nachgewiesener Wirksamkeit vom Gemeinsamen Bundesausschuss keinen Zusatznutzen zugesprochen bekam und aktuell nur über Einzelimport aus dem Ausland bezogen werden kann. Trauriges Fazit: Neue Medikamente haben es schwer in Deutschland. Interessant dabei auch die Information, dass 47 % der Epilepsiepatienten unter Monotherapie anfallsfrei sind, jedoch nur 17 % unter Kombinationstherapie. Was alternative Heilverfahren betrifft, so schränkte Lewerenz deren Möglichkeiten deutlich ein. Auch die von der Presse (SPIEGEL Nr. 33, 2015) geschürte Hoffnung, Cannabis könne Wunder wirken, wurde zu „wahrscheinlich wirksam“ minimiert. Eine Behandlung mit „Cannabidiol“ könne aufgrund mangelnder Verfügbarkeit dennoch nicht empfohlen. Unter den unzähligen Angeboten sei Yoga „möglicherweise wirksam“. Kurz: Alternative Heilmethoden werden zwar oft angewendet, können aber aus schulmedizinischer Sicht wenig Beweise für Wirksamkeit liefern...

 

Und was, „wenn Tabletten nicht ausreichen?“ Für diesen Fall bietet Dr. Maria Pedro (Neurochirurgie Günzburg) operative Therapieoptionen an: Eindrucksvolle Bilder aus dem Operationssaal, viel Technik, gewaltige Apparaturen. Wie ausgeliefert wirkt da der Mensch auf dem OP-Tisch, dachte man unwillkürlich. Doch „jeder Patient wird individuell betrachtet, um die speziell für ihn geeignete Therapie auszuarbeiten“, betonte Dr. Pedro.

 

Die meisten Operationen (95 %) sind so genannte „resektive Eingriffe“, bei denen etwas entfernt wird: Der Temporallappen, der Hippocampus (Seepferdchen) oder die Läsion (z. B. eine Geschwulst). Während dieser Detailarbeit kommt es auf äußerste Präzision an, wobei Geräte wie Überwachungseinheiten zur Kontrolle des Bewegungszentrums wertvolle Hilfe leisten.

 

Eine andere Art der Operation ist die „Neurostimulation VNS“ (Vagusnervstimulation), bei der der Neurochirurg einen kleinen „Generator“ einsetzt, der das Gehirn regelmäßig stimuliert und drohende Anfälle unter Kontrolle bringt. Weltweit haben 75.000 Patienten einen solchen Stimulator, der von einem Akku betrieben und von außen programmiert wird. Bis zu 50 % können sich dadurch die Anfälle verringern.

 

Keine Angst vor Schwangerschaft! In ihrem Vortrag über Epilepsie und Kinderwunsch beruhigte Felicitas Becker (Neurologische Universitätsklinik Ulm) zukünftige Mütter: „Es macht keinen großen Unterschied, ob man mit oder ohne Epilepsie schwanger wird!“ Und meistens verlaufen Schwangerschaften auch von epilepsiebetroffenen Frauen komplikationslos. Nichtsdestotrotz muss manches beachtet werden, besonders im Hinblick auf die Medikation. Daher sollte eine Schwangerschaft mindestens ein Jahr zuvor geplant werden, sodass man ungünstige Wirkstoffe wie etwa Valproinsäure beizeiten ausschleichen, die Dosis der Antiepileptika wenn möglich verringern und auch mit der Einnahme von Folsäure beginnen kann. Die Sorge junger Frauen, ihr Kind könne aufgrund der Epilepsie behindert oder auch epilepsiekrank zur Welt kommen, zerstreute sie. In den meisten Fällen gehe alles gut.

„Ca. 50 % aller Epilepsien haben einen erblichen Anteil, und 5 % sind direkt von Generation zu Generation vererbbar“, berichtete Dr. Holger Lerche (Neurologie, Universitätsklinikum Tübingen) in seinem Vortrag „Was sagen mir meine Gene über meine Epilepsie“. Er gestand offen ein, dass „die Forscher in den meisten Fällen selbst noch nicht genau wissen, welche die erblichen Faktoren sind“. Für die klinische Routine aber formuliert die Genforschung klare Ziele, u. a. bei (mono)genetischen Epilepsien, wo sie eine eindeutige Diagnose ermöglicht, die weitere aufwendige Untersuchungen hinfällig macht. Auch die Prognose wird vorhersehbar und für manche Fälle gibt es bereits eine spezifische Therapie, die auf den Gendefekt zugeschnitten ist. Daher suchen die Forscher weiter nach neuen, möglichst spezifischen Medikamenten. „Denn leider ist es bis heute immer noch ein Probieren, welches zu wem passt und welches nicht“, bedauert Lerche. Ein Experiment mit einem „epileptischen“ Zebrafisch führte eindrucksvoll vor, wie eine neue Substanz sein epileptisches Verhalten unterdrückte. Kleine, aber bedeutsame Schritte auf dem Weg zum Ziel. Umso wichtiger, so Lerches dringlicher Appell, sei es, alle verfügbaren Kräfte zu mobilisieren, dass nach den jüngsten besorgniserregenden Entwicklungen (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz/AMNOG!) neue Medikamente auf den deutschen Markt kämen: „Sprechen Sie mit Funktionären und Politikern, wenn Sie die Gelegenheit dazu haben!“

 

Wie Epilepsie in alle Bereiche des Lebens hineinwirkt, war zu Beginn des Abends, nach der Begrüßung von Dr. Lewerenz und dem vorgelesenen Grußwort der Landesverbandsvorsitzenden Rose Keller in einem Podiumsgespräch mit zwei Mitgliedern vom Treffpunkt und Peter Schaupp, dem Leiter des Ulmer Inklusionsbetriebs „Grüner Zweig“, zu erleben. Claudia Doll, 47 Jahre alt, schilderte den ungeheuren Stress, dem sie vor vielen Jahren bei der Küchenarbeit in einem Pflegeheim ausgesetzt war. Folge: vermehrte Grand mal-Anfälle, ständige Erschöpfung. Bis ihr damaliger Arzt, Dr. Holger Lerche, ein Machtwort sprach: „Sie müssen Ihre Arbeitssituation ändern!“ Das war der Beginn eines „neuen Lebens“. Seit ca. 9 Jahren arbeitet Claudia, die im Haus ihrer Mutter wohnt, nun auf 450-Euro-Basis in einem Möbelgeschäft, sie bezieht eine Erwerbsminderungsrente von ca. € 350 und ist rundum zufrieden. Und das Schönste: Keine Anfälle mehr!

 

Anders die Geschichte von Julia Höhe, 33 Jahre alt, ausgebildet im BBW Rummelsberg als Kauffrau für Bürokommunikation und seit 2006 anfallsfrei „dank guter Medikation“. Sie erzählte von ihrer endlosen Suche nach einem geeigneten Arbeitsplatz und plädierte eindringlich für mehr Verständnis für die Probleme chronisch kranker Menschen und sinnvollere Unterstützung vonseiten der Betriebe und amtlichen Stellen: „Als Epilepsie-Betroffene kann ich mich einfach nicht auf viele Dinge gleichzeitig konzentrieren – so etwas wird oft übersehen!“

 

Peter Schaupp, in dessen Betrieb 50 Menschen mit und ohne Handicap arbeiten, sieht das etwas anders. Für ihn ist der Unterschied zwischen den Problemen chronisch kranker und so genannter gesunder Menschen am Arbeitsplatz nicht groß, man nimmt die Probleme der „Gesunden“ nur nicht so wahr. Worauf er Wert legt, ist ein gutes Arbeitsklima, in dem sich alle Mitarbeiter wohl und verstanden fühlen. Nur dann bereite die Arbeit Freude. In seinem - erfolgreichen! - Betrieb hat er dies erreicht.

 

So wurden in dieser fast vierstündigen Veranstaltung sehr unterschiedliche Aspekte des Lebens mit Epilepsie beleuchtet. Manches machte Hoffnung, manches nachdenklich, manches bestätigte eigene Erfahrungen. Dass immer noch viele Fragen blieben, demonstrierte die Besucherschlange, die sich in der Pause und am Ende des Abends vor den Rednern bildete.

 

Die Info-Veranstaltung wurde dankenswerterweise aus Spenden und Sponsorengeldern der Gesundheitskassen AOK Ulm-Biberach und Wieland-BKK sowie der Pharmafirmen Desitin, Eisai, LivaNova PLC und UCB finanziert.

 

Susanne Rudolph, Blaustein

 

Kontakt:

 

Treffpunkt für junge Menschen mit Epilepsie

Ulm, Neu-Ulm und Umgebung

info(at)junger-treffpunkt-epilepsie.de

www.junger-treffpunkt-epilepsie.de

 


Bilder – Quelle: Rudolph, Blaustein