Psychosoziale Begleiterkrankungen

bei Epilepsien im Kindesalter

 

Paul, ein 6-jähriger Patient, hat nach einer frühkindlichen Hirnschädigung eine Epilepsie mit generalisiert tonisch-klonischen Anfällen und atypischen Absencen. Seine Entwicklung ist verzögert, zudem hat er eine Halbseitenlähmung auf der rechten Seite. Unter einer Therapie mit Valproat und Oxcarbazepin ist er seit einigen Wochen fast anfallsfrei, die Epilepsie bereitet im Alltag keine großen Probleme. Im EEG sind im Bereich des geschädigten Hirnareals noch Veränderungen erkennbar. Seit einigen Monaten aber zeigt Paul immer öfter aggressives Verhalten in der Schule und seinem kleinen Bruder gegenüber. Die Familie ist durch die Verhaltensprobleme zunehmend belastet.

 

Emma ist 15 Jahre alt, vor einem Jahr wurde eine juvenile myoklonische Epilepsie diagnostiziert. Vor acht Wochen erlitt sie erstmals einen generalisiert tonisch-klonischen Anfall in der Schule. Während des Anfalls biss sie sich auf die Zunge und blutete heftig aus dem Mund, außerdem nässte sie ein.

 

Der Rettungswagen wurde gerufen. Viele Mitschüler bekamen die Situation mit. Seit dem Anfall zieht Emma sich zunehmend zurück, will sich nicht mehr mit Freunden treffen, verbringt die meiste Zeit in ihrem Zimmer, hat Angst zur Schule zu gehen.

 

So oder ähnlich lauten Berichte von Patientinnen und Patienten des Norddeutschen Epilepsiezentrums und ihren Eltern.

 

Psychosoziale Probleme und Begleiterkrankungen bei Epilepsien sind vielfältig und häufig: Mehr als 30 % aller Kinder und Jugendlichen mit Epilepsien und Entwicklungsstörungen zeigen zusätzliche psychosoziale Probleme oder leiden unter verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen, Aufmerksamkeitsdefizit / Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Autismus oder Verhaltensproblemen. Bei erwachsenen Epilepsiepatienten sind ähnliche Zahlen bekannt, allerdings unterscheiden sich die Probleme und Krankheitsbilder leicht.

 

Der Schweregrad der Epilepsie stellt einen Risikofaktor für das Auftreten von emotionalen Problemen und Depression dar, während das Vorliegen einer Entwicklungsverzögerung oder Intelligenzminderung häufiger mit Verhaltensproblemen verknüpft ist. Verschiedene Studien und unsere täglichen Erfahrungen im Epilepsiezentrum zeigen, dass diese Probleme häufig einen stärkeren Einfluss auf die Lebensqualität unserer Patienten und ihrer Familien haben als die Epilepsie selbst.

Abbildung 1: Darstellung der Ursachen für psychosoziale Probleme von Kindern mit Epilepsie

Die Gründe für das gemeinsame Auftreten von Epilepsien und psychosozialen Problemen sowie psychiatrischen Erkrankungen sind vielfältig: Beide Erkrankungsgruppen treten in der Bevölkerung relativ häufig auf, daher kann bei einem Teil der Patienten von einem Zusammentreffen per Zufall ausgegangen werden. Zusätzlich werden gemeinsame Entstehungsmechanismen diskutiert; so konnten z. B. genetische Faktoren identifiziert werden, die als Risikofaktoren sowohl für Epilepsien als auch für psychiatrische Erkrankungen und Entwicklungsprobleme gelten. Schließlich können psychosoziale Probleme auch Folge der Epilepsie sein und durch die Erkrankung selbst, als Nebenwirkung der antiepileptischen Therapie oder durch Probleme in der Krankheitsverarbeitung ausgelöst werden.

 

In der Regel ist es nicht möglich, eine einzige Ursache für die Probleme zu finden; es besteht vielmehr ein Mischbild (siehe Abbildung 1). Um psychosoziale Begleiterkrankungen bei Epilepsien richtig behandeln zu können, ist die Klärung dieser Zusammenhänge notwendig. Daher stellen die Diagnostik und Therapie der Begleiterkrankungen eine besondere Herausforderung dar und erfordern die Zusammenarbeit verschiedener medizinischer und therapeutischer Disziplinen. Gleichzeitig ist eine wirkungsvolle Behandlung dieser Krankheitsbilder unbedingt notwendig, um die Lebensqualität der Familien zu erhöhen.

 

Im Rahmen eines von der Damp-Stiftung geförderten Projektes haben wir im Norddeutschen Epilepsiezentrum daher ein neues Versorgungsangebot geschaffen. Betroffene Kinder und Jugendliche werden zunächst für 10-12 Tage in unserer Klinik aufgenommen, abhängig vom Alter gemeinsam mit einem Elternteil.

 

Zunächst wird im Rahmen detaillierter Diagnostik geklärt, welche Probleme vorliegen und welche der oben genannten Faktoren ursächlich sind. Falls notwendig wird primär eine Anpassung der antiepileptischen Therapie durch das ärztliche Team vorgenommen. Ergänzend berät bei Bedarf ein/e Kinder- und Jugendpsychiater/in zu medikamentösen Therapien psychischer oder psychiatrischer Symptome. Alternativ oder begleitend macht unser Therapeuten-Team Angebote zur Hilfestellung im Umgang mit psychosozialen Problemen und erklärt z. B. den Einsatz besonderer erzieherischer Methoden wie Verhaltens-/Verstärkerpläne.

 

Im Anschluss an den stationären Aufenthalt werden die Familien weiter begleitet und in der Umsetzung der erarbeiteten Maßnahmen unterstützt. Dabei nutzen wir das elektronische Therapiemanagement-Programm EPI-Vista®, das im Norddeutschen Epilepsiezentrum bereits langjährig für die Dokumentation von epileptischen Anfällen und Medikamenten zur Behandlung der Epilepsie sowie als Möglichkeit des Nachrichtenaustausches zwischen Familien und Klinik eingesetzt wird. Im Rahmen des Projektes wurde eine Erweiterung des Programms entwickelt. Damit ist es möglich, neben epileptischen Anfällen auch andere Symptome wie z. B. Unruhe oder Aufmerksamkeitsprobleme zu dokumentieren sowie medikamentöse und nicht-medikamentöse Therapien einzufügen. Dies soll einen schnellen und unkomplizierten Austausch mit unseren Mitarbeitern ermöglichen, die bei Problemen zu Hause beratend eingreifen können.

Das Team des Projektes

Eltern mit Kindern, die an einer Epilepsie erkrankt sind, müssen besondere Aufgaben im Hinblick auf die Entwicklung und Begleitung ihrer Kinder leisten. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass in den Elterngesprächen häufig sehr ähnliche Fragen zu grundsätzlichen Erziehungsbelangen oder Entwicklungsphasen des Kindes auftreten. Um diese Fragen zu beantworten und gleichzeitig in der Gruppe von einem gemeinsamen Austausch zu profitieren und die gegenseitige Entlastung zu fördern, haben wir ein Gruppenangebot in Form eines „Elterntrainings“ in unsere Arbeit aufgenommen. Dieses wird von einer Psychologin und einer Heilpädagogin begleitet. Im Rahmen des Elterntrainings werden zum Beispiel Wirkzusammenhänge der Erziehung und mögliche Probleme im Umgang mit dem kindlichen Verhalten vorgestellt und gemeinsam Lösungen erarbeitet. Darüber hinaus soll die Formulierung erreichbarer Ziele vermittelt und eine gezielte Fokussierung auf positive Eigenschaften des Kindes erreicht werden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Diskussion von Möglichkeiten zur eigenen Entlastung. Bei Bedarf werden Inhalte aus dem Elterntraining in individuellen Beratungseinheiten vertiefend besprochen.

 

Das „Elterntraining“ besteht aus fünf Modulen und ist eng an das etablierte Programm „Plan E“ angelehnt. Es werden wöchentlich zwei Termine angeboten. Der Einstieg in dieses Angebot ist jederzeit möglich, die Module können in verschiedenen Aufenthalten absolviert werden. Die Teilnahme ist als Teil des oben beschriebenen Behandlungskonzeptes vorgesehen, steht darüber hinaus aber nach Absprache mit den durchführenden Therapeutinnen allen interessierten Eltern offen.

 

Unsere Erfahrungen mit diesem Programm sind seit der Einführung Anfang 2016 sehr positiv. Viele Eltern nehmen das Angebot zum gemeinsamen Austausch in einer vertraulichen Atmosphäre gerne an. Häufig werden hier Themen, Gedanken und Sorgen angesprochen, die in der Routine des Alltags und auch der medizinischen Betreuung keine ausreichende Beachtung finden. Die Erfahrung mit vielen Problemen und Sorgen nicht alleine zu sein und auch über Schwächen und Ängste sprechen zu können, wird häufig als entlastend empfunden.

 

PD Dr. med. Sarah von Spiczak,

PD Dr. phil. Ulla Martens,

Maja Dunker,

Prof. Dr. Michael Siniatchkin,

Norddeutsches Epilepsiezentrum (NEZ)

 

 

 

Kontakt:

 

DRK Norddeutsches Epilepsiezentrum für Kinder und

Jugendliche Raisdorf

Henry-Dunant-Str. 6-10

24223 Schwentinental - Raisdorf

Tel.: 04307 90902

klinik(at)drk-sutz.de

www.drk-epilepsiezentrum.de

 

 

Bild – Quelle: Norddeutsches Epilepsiezentrum