Leben mit FOXG1

© privat

Mit ca. fünf Monaten bekam unsere Tochter Leonie immer wieder seltsame, serienmäßige Zuckungen. Wir konnten dies zu diesem Zeitpunkt nicht deuten und schickten unserer Hebamme ein Video davon. Sie meinte, wir sollten das auf jeden Fall abklären lassen. Es könnte vielleicht etwas Neurologisches sein.

 

Wir begaben uns notfallmäßig in eine Kinderklinik nach Nürnberg. Dort konnte nach einem EEG schnell festgestellt werden, dass es sich um sogenannte BNS-Anfälle (Blitz-Nick-Salaam, auch bekannt als West-Syndrom) handelte. Die Ursache der Anfälle bedeutet meist nichts Gutes, diese konnte allerdings im folgenden Diagnostikmarathon nicht gleich gefunden werden. Die von der Kinderklinik in Auftrag gegebene genetische Untersuchung führte letztendlich zu einem „Volltreffer“.

 

Ende Juni begaben wir uns in die Kinderklinik und Ende August hatten wir die Diagnose FOXG1. Wir hatten viel „Glück“, so schnell zu wissen, was Leonie hat. Von vielen anderen Betroffenen wissen wir, dass diese zum Teil Jahre nach einer Diagnose suchen mussten. Dass es bei uns so rasch ging, war sicher etwas Glück, aber auch dem rasanten medizinischen Fortschritt der letzten Jahre geschuldet.

 

Epilepsie ist nur eine Baustelle

Zu Beginn hatte Leonie ca. zehn Serien (mal mehr, mal weniger) mit jeweils rund 50-100 Zuckungen. Dies war eine sehr anstrengende Zeit für unsere Tochter – und uns. Sie schlief und weinte viel. Wir zählten und dokumentierten in der Anfangszeit jede einzelne Zuckung, damit wir den Ärzten Bericht erstatten konnten.

 

Nachdem die Kinderklinik in Nürnberg nach einigen Versuchen mit verschiedenen Antiepileptika nicht wirklich weiterkam und sich die Anfallssituation nicht verbesserte, schlug der zuständige Oberarzt vor, in die auf Epilepsie spezialisierte Kinderklinik des Universitätsklinikums Erlangen zu wechseln. Er meldete uns auch gleich dort an, sodass wir von Nürnberg direkt nach Erlangen weiterziehen konnten. Das rechnen wir ihm heute noch sehr hoch an. Leider haben wir es bis jetzt nicht geschafft (u. a. wegen Corona), uns bei ihm persönlich zu bedanken. Das holen wir aber sicher nach!

 

Nun sind wir im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) in Erlangen „sehr zufriedene Kunden“. Hier ging das Testen mit verschiedenen Antiepileptika weiter. Einige verbesserten die Anfallssituation etwas, riefen dafür andere Nebenwirkungen hervor, sodass das nächste Medikament ausprobiert wurde. Zeitweise gaben wir Leonie 3-4 Antiepileptika gleichzeitig. Zur Anfallsfreiheit führten diese allerdings alle nicht.

© pixabay.com

Im März/April 2020 änderte sich bezüglich der BNS-Anfälle dann alles. Leonie musste wegen einer Lungenentzündung intubiert werden und wurde zwei Wochen ins künstliche Koma versetzt. Zusätzlich hatte sie keine Blutgerinnung mehr und wäre innerlich fast verblutet. Zweiteres war wohl eine Nebenwirkung des Antiepileptikums Valproat, hervorgerufen durch den Infekt. So wurde ihre Medikation – während sie schlief – umgestellt. Als sie wieder aufwachte, war sie ein „anderes“ Kind und hatte keine BNS-Anfälle mehr. Auch das im EEG-typische Muster (Hypsarrhythmie) war verschwunden. Das ist glücklicherweise bis heute so geblieben. Ob der Grund dafür die Medikamentenumstellung oder das künstliche Koma war, lässt sich nicht zweifelsfrei klären. Leonies Ärzte tendieren eher dazu, dass dies ihre jetzige Medikation ist.

 

Aktuell hat unsere Tochter ein gutes EEG, wenn auch mit Krampfpotential. Wir selbst können „nur“ kurze Absencen feststellen oder dass sie des Öfteren die Augen kurz verdreht. Man merkt also schon, dass immer wieder mal etwas „im Kopf abgeht“.

 

Seit dem Ausbleiben der BNS-Anfälle geht ihre Entwicklung auch deutlich besser voran (natürlich immer unter den gegebenen Umständen betrachtet). Anfallstechnisch kommen wir inzwischen gut zurecht. FOXG1 hat jedoch eine schwere Mehrfachbehinderung mit vielen verschiedenen „Baustellen“ zur Folge. Es ist also eher die Behinderung in ihrer Gesamtheit, die uns oft an unsere physischen und psychischen Grenzen bringt.

 

Eltern von „Foxis“ sind in vielem auf sich allein gestellt

Verbindung zu anderen betroffenen Familien haben wir zunächst über die    Facebook-Seite der Elterninitiative aufgenommen und wurden über diesen Weg mit in die „FOXG1-Syndrom“-WhatsApp-Gruppe aufgenommen, über die der Austausch hauptsächlich läuft. Selbstverständlich gibt es mittlerweile Familien, die man besser kennengelernt hat und so auch privat bzw. außerhalb der Gruppe Kontakt hat.

 

Hilfe und Unterstützung zu finden ist nicht ganz einfach in so einer Situation. Das SPZ war immer unser erster Ansprechpartner und steht nach wie vor für Fragen zur Verfügung. Vieles fanden wir durch Internetrecherche heraus, anderes wiederum von bereits erfahreneren Betroffenen. Es ist ein Mix aus verschiedenen Informationsquellen. Ei-ne tatsächlich unabhängige Stelle, die kompetent alle Bereiche abdeckt, haben wir bis heute nicht gefunden. Die Eltern sind in vielerlei Hinsicht auf sich allein gestellt.

 

Eltern finanzieren die Forschung

Es gibt Forschung zum FOXG1-Syndrom – sowohl in Europa als auch in Amerika. Dies ist ein Verdienst der dort bestehenden Elternvereinigungen. Das FOXG1-Gen ist allerdings ein Gen, das schwer zu verstehen ist, da es viele andere Gene mit steuert. Dies macht die Angelegenheit sehr komplex. So gibt es neben der Grundlagenforschung verschiedene andere wissenschaftliche Ideen/Therapieansätze, die verfolgt werden. Die Forschung muss auch überwiegend von den Eltern bzw. Verbänden selbst finanziert werden.

 

So entstand die Idee, auch in Deutschland einen Verein für Kinder mit FOXG1 zu gründen. Zu dem Zeitpunkt als wir als „Neulinge“ in die Gruppe aufgenommen wurden, war diese gerade am Entstehen. Wir fanden das super und haben direkt mitgemacht. Der Verein hat nicht viele Mitglieder. Wir sind mit sieben gestartet und mittlerweile zählen wir ca. 15 Mitglieder. Viele haben durch ihre private Situation keine Zeit und Nerven, sich mit dem Vorhaben zu beschäftigen. Zugegeben ist es manchmal auch sehr herausfordernd.

 

Da es zwischen den Vereinen aus den verschiedenen Ländern eine gute Zusammenarbeit gibt, konnten mittlerweile einige Forschungsprojekte finanziert werden. Als Beispiel kann ich das „Zebrafischprojekt“ nennen. Hier werden bereits bestehende Medikamente an Zebrafischen untersucht, ob sie beim FOXG1-Syndrom Verbesserungen bringen könnten. Genauere Informationen dazu findet man auf der Internetseite des Vereins.

Kathrin und Michael Schneider mit ihrer Tochter Leonie
© privat

Unsere Wunschliste ist lang

Ganz oben auf unserer Wunschliste steht, eine Therapie zu finden, die es unseren Kindern ermöglicht, in gewisser Art und Weise einmal ein eigenständiges Leben zu führen. Zudem sollten unsere „Foxis“ nicht mehr so stark an ihren Problemen (z. B. Epilepsie, Schlafstörungen usw.) leiden müssen. Diese Dinge sollten ihnen genommen oder zumindest deutlich verbessert werden. Es gibt so viele Bereiche, wo es Verbesserungen zu erzielen gilt. Auch Mobilität oder einfach nur Sitzen ist so ein Thema. Die To-do-Liste ist so groß, da gehören ganz viele Dinge nach oben. :-)

Ein Rat zum Schluss

An dieser Stelle würde ich gerne allen neu betroffenen Eltern von Kindern mit Behinderung den Rat geben, nicht allzu lange zu warten, sich einer Elterninitiative anzuschließen. Mir ist bewusst, dass dieser Schritt nicht ganz leicht ist, vor allem weil man eine solche Nachricht bzw. Diagnose erst einmal selbst verdauen muss.

 

Man bekommt hier aber einen wirklich guten Einblick, was es überhaupt bedeutet, mit der jeweiligen Behinderung des Kindes zu leben und man weiß auf einmal, dass man nicht allein ist. Außerdem vermitteln diese Gruppen – unbewusst – ein gewisses Gefühl der Normalität. Das hilft sehr!

 

Die Tipps und Hilfestellungen von erfahrenen Eltern sind zudem durch nichts zu ersetzen. So haben wir schon das ein oder andere Mal Hilfe aus der Gruppe erfahren, wo uns unser bestehendes Netzwerk nicht wirklich weiterhelfen konnte.

 

Zukunftswünsche

Für unseren Verein wünsche ich mir, dass es gelingt, eine Therapie auf den Weg bringen zu können. Hierfür brauchen wir noch mehr Forscher sowie natürlich das nötige „Kleingeld“, um die Forschungsvorhaben finanzieren zu können. Spenden sind ein Dauerthema. Öffentliche Unterstützung wäre natürlich auch wünschenswert – wie grundsätzlich für alle seltenen Erkrankungen.

 

Für Leonie wünsche ich mir, dass sie trotz ihrer zahlreichen Einschränkungen glücklich und zufrieden sein kann und nur Leute um sich hat, die ihr Bestes wollen – und natürlich, dass sie einige ihrer Probleme loswird.

 

Und uns als Familie wünsche ich für  die nächsten Jahre gute Nerven und noch ganz viele schöne Momente zusammen. :-)

 

Michael Schneider

Leonie wurde im Februar 2022 vier Jahre alt.

 

Sie lebt mit ihren Eltern Kathrin und Michael Schneider im fränkischen Gunzenhausen. Ihr Vater ist 1. Vorsitzender des Vereins FOXG1 Deutschland e.V. (siehe Bericht Seite 9).

 

Auch der Bayerische Rundfunk hat bereits über die Familie berichtet:

https://www.youtube.com/watch?v=M0_ECvJb234