Mutter sein mit Epilepsie
– wie Elternassistenz eine Möglichkeit ist, das fast Unmögliche doch zu schaffen
Ein ungewöhnlicher Tag für die Mitarbeiterinnen der Epilepsieberatungsstelle Schwaben-Allgäu: Wir sind unterwegs zu Familie Grath, die im Westallgäu eine Landwirtschaft betreibt.
Traumlandschaft pur: Die schmale Straße windet sich einen sattgrünen Hügel empor, strahlend freie Blicke auf die Berge. Der Bauernhof der Familie Grath liegt oberhalb der meist verstreut liegenden Höfe und Häuser.
Idylle pur: Wir kommen am Hof an, ein traditioneller Allgäuer Bauernhof, in dem die Großeltern wohnen, und ein neues Einfamilienhaus für die junge Familie: Terrasse direkt in die Wiesen, Kühe, beruhigendes Glockengebimmel, Frieden.
Hier leben die jungen Eltern Grath mit ihren vier Söhnen: Den Zwillingen Louis und Felix, Fiete und Jasper. Kristina Grath empfängt uns strahlend und bittet uns ins Haus.
Sie will uns heute über ihre seltene chronische Erkrankung berichten. Sie hat fast täglich fokale Anfälle mit Bewusstseinsverlust, oft mehrere am Tag. Sie darf nicht Autofahren. Ihre Konzentrationsfähigkeit ist im Alltag in hektischen oder lauten Situationen eingeschränkt, Multitasking nicht möglich. Nach Anfällen ist sie oft müde und kraftlos.
Sie bittet uns an den Esstisch im großzügigen Familienlebensraum mit integrierter Küche. Modern und stilvoll, gemütlich, der Blick ins Grüne. Wir sind gekommen, um ein Interview für einen geplanten Podcast zum Thema »Mutter sein mit Epilepsie und Elternassistenz« zu machen.
Kristina Grath ist der Liebe wegen aus dem Speckgürtel Hamburgs ins Allgäu gekommen. Ihren Beruf als Rettungsassistentin hat sie deshalb aufgegeben. Der neue Traum: Gemeinsam mit ihrem Mann den Hof zu bewirtschaften.
Während der ersten Schwangerschaft mit den Zwillingen hat sie ihren ersten epileptischen Anfall. Der Weg zur endgültigen Diagnose ist lang und erfolgt erst Jahre später. Es dauert viele Etappen und Untersuchungen, bis endlich klar ist, dass die Anfälle auf eine angeborene Varianz in der Gehirnentwicklung zurückzuführen sind.
Vier Jungs im Alter zwischen 7 und 13 Jahren – schon ohne chronische Erkrankung eine echte Herausforderung. Besonders schwierig sind Situationen wie mittags, wenn alle heimkommen und gleichzeitig reden, Hunger haben, Infos loswerden wollen. Alles auf einmal aufnehmen und bewältigen geht nicht.
Fahrten kann sie als Mama nicht übernehmen, zum Kindergarten, zum Fußballtraining, zu Freunden, ins Freibad, zu Arztterminen. Wäschekörbe werden zum Problem, wenn die Kraft nicht reicht, sie aus dem Keller zu holen. Das Duschen von Jasper: schwierig in Situationen von Bewusstseinsverlust. Kochen: Meist gelingt es, einen Topf von der Herdplatte zu schieben, wenn sich ein Anfall ankündigt. Gut, dass die Automatik dann die Platte ausschaltet.
Die Sehnsucht bleibt, einfach mit den Kindern auch einmal allein einen Ausflug zu machen oder eine Freundin im Café zu treffen, das nur mit dem Auto erreichbar ist.
Es ist eine Gratwanderung zwischen den Extremen: Auf der einen Seite der Wunsch, eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen und die Kinder nicht zu überfordern mit der Notwendigkeit des Verständnisses für die Erkrankung der Mutter und erbetener Mithilfe, auf der anderen Seite die Notwendigkeit, als Familie die Herausforderung gemeinsam anzunehmen und zu gestalten.
Im Laufe des Interviews erleben wir, was es heißt, während eines Gesprächs einen Anfall zu haben: Plötzlich wird es still, mitten im Satz entsteht die Pause, die mehrere Minuten andauert. Wir hören nur manchmal ein tieferes Atemgeräusch als üblich, auch die Zeit scheint stillzustehen. Dann kommt Kristina Grath langsam zu Bewusstsein, nimmt den Faden mit einer kleinen Erinnerungshilfe wieder auf und berichtet lebendig weiter von ihrem Alltag.
Sie ist dankbar, dass ihr Mann und ihre Schwiegereltern sie so umfassend unterstützen. Heimvorteil, dass Papas Arbeit zuhause auf dem Hof stattfindet und die Großeltern in der Landwirtschaft immer noch vieles übernehmen, auch die Jungs regelmäßig zum Abendessen einladen. Oma erfüllt dann gerne auch einmal besondere Wünsche.
Kristina Grath hat immer wieder Träume aufgegeben und Pläne ändern müssen. Die Arbeit auf dem Traktor: irgendwann endgültig ausgeschlossen, Mithilfe auf dem Hof: dann auch insgesamt nicht mehr zu schultern, allen vier Kindern immer gleichzeitig gerecht werden: unmöglich.
Sie lässt sich dennoch nicht durch ihre Erkrankung definieren und hat ihre strahlende, optimistische, selbstbewusste Ausstrahlung bewahrt.
Sie hat gelernt, Unterstützung anzunehmen. Als sie über die Epilepsieberatung von der Möglichkeit der Elternassistenz erfuhr, war sie neugierig und offen für diese Idee. Die genaue Bedarfsprüfung durch den Bezirk (Kostenträger) schreckte sie zunächst, aber dann nahm sie die Herausforderung doch an. Tatsächlich waren die Mitarbeiterinnen, die sich vor Ort ein Bild machten, sehr wertschätzend und erkannten den Bedarf voll an.
Schwierig ist die Suche nach einer geeigneten Person. Es ist nicht leicht, Anbieter zu finden. So gab es bisher viel Wechsel und auch immer wieder Zeiten, in denen niemand verfügbar war. Vielleicht gelingt die private Suche, das ist aktuell der große Wunsch von Familie Grath. Wir hoffen von ganzem Herzen, dass er in Erfüllung geht!
Ulrike Titze
Die drei Podcasts mit Kristina Grath, in denen sie über ihre Epilepsie, ihr Muttersein und ihren Weg zur Elternassistenz berichtet, sind auf der Internetseite der Epilepsie Beratung Schwaben-Allgäu abrufbar:
kb-allgaeu.de/angebote/fachdienste/
Die vierfache Mutter hat außerdem eine eigene Seite auf Instagram: kristina.grath