Der (etwas?) andere Alltag von Müttern besonderer Kinder

Teil 3: Der Zeitfaktor


Verantwortung

Die Hilfsbedürftigkeit und fehlende Selbständigkeitsentwicklung der mit (Schwerst-) Behinderung lebenden Kinder stellt die Mütter vor eine grosse Verantwortung. Eine Eigenverantwortung wird das Kind für sein Leben nie übernehmen können. Die Mutter steht vor und innerhalb einer "permanenten Mutterschaft", die selbst bei späterer Unterbringung des erwachsenen Menschen mit (Schwerst-)Behinderung noch die Verantwortung für sein Wohlergehen einschließt. Hierzu die Aussagen einiger Mütter: „Gesunde Kinder gehen irgendwann eigene Wege. Unser Sohn braucht ständige Hilfe.“ „Bei einem gesunden Kind gibt es Entwicklung, Fortschritt, Veränderung, Verbesserung, Selbständigkeit, bei einem schwerst-behinderten Kind bleibt dies aus.“ „Es wird sich nie von den Eltern abnabeln können. Es besteht eine „eiserne“ Verbin-dung zwischen Vater, vor allem Mutter und schwerstbehindertem Kind.“


Zeit
Diese Aufgaben im Rahmen der Verantwortung stellen einen "Eingriff in das tägliche Zeitbudget der pflegenden Person" (Wacker 1995, 25) dar, sowohl im täglichen Rahmen als auch bezogen auf die Lebenszeit der Mutter. Es bleibt wenig Freizeit, um eigene Interessen aufzubauen und zu leben.


In Teil 1 hatte ich bereits ausgeführt, dass das Zusammenleben mit einem besonderen Kind oft ein 24-Stunden-Fulltime-Job ist. Um die Situation bildhaft zu beschreiben, könnte man es auch mit mehreren Berufstätigkeiten vergleichen, die jedoch nicht im 8-Std.-Rhythmus nacheinander zu erfüllen sind, sondern die alle nebeneinander bestehen. Die Wahrnehmung und Handlung muss oft und je nach Bedarf von einer Tätigkeit auf die nächste verlagert, manchmal auch parallel organisiert werden. Diese Anforderung besteht besonders in einem Haushalt mit mehreren Geschwisterkindern. Dabei wird die Zeit zu einem ganz besonderen Gut. Es ist, als ob durch diese oft jahre- und jahrzehntelang dauernde Situation die eigene Lebenszeit der Mütter besonderer Kinder verkürzt oder von dieser Lebenszeit etwas weggenommen würde. Die Zeit wird zu einer Art Luxusgut. Diese hohe Wertigkeit lässt viele Mütter zögern, andere Menschen, z. B. ohne Bezahlung, um Hilfe zu bitten, denn ein derart hohes Gut (die Zeit) wagen sie von anderen kaum einzufordern oder zu erbitten.


Da verwundert es kaum, dass viele Mütter besonderer Kinder speziell in Krisenzeiten immer wieder einmal in Situationen geraten, die mit dem in sozialen Berufen bekannten Burn-Out-Syndrom vergleichbar sind. Fast alle von mir befragten Mütter kennen Zeiten völliger körperlicher, emotionaler und geistiger Erschöpfung. Für die Mütter kann es eine Erleichterung bedeuten, wenn sie erkennen bzw. ihnen vermittelt wird, dass sie nicht in ihrer Mutterrolle versagen, sondern Symptome aufweisen, die auch bei professionell Tätigen mit einem "nur" 8-Stunden-Tag durchaus auftreten können. Dadurch verringern sich zwar die Burn- Out-Syndrom-typischen Erscheinungen nicht, sie erhalten jedoch eine andere Gewichtung.


Tages- und Nachtrhythmus
Der normale Tages- und Nachtrhythmus ist - bei allen von mir befragten Müttern - unterbrochen. Die Tage sind mit konzentrationsfordernden, oft anstrengenden Tätigkeiten ausgefüllt. Die Nachtruhe wird - über Jahre und Jahrzehnte jede Nacht - durch Bedürfnisse des Kindes unterbrochen. Dabei sind Störungen zwischen 5 und 30mal je Nacht nicht ungewöhnlich. Hierzu einige Zitate betroffener Frauen: "In der Unregelmässigkeit liegt das Regelmässige bei uns." "Sollen wir uns von B. eine gleichmässige Aufwachzeit wünschen?" "Gleichen Rhythmus habe ich: Arbeit, Kinder, Haushalt, Schlafen, aus mit der Zeit." "Jeder Tag ist wieder ein Abenteuer."


Hinzu können noch die durch die psychische Überlastung entstandenen eigenen Schlafstörungen kommen. Die Auswirkungen auf das "Wohlbefinden" der Mütter dürften auch für Nicht-Betroffene nachvollziehbar sein.


Wochenrhythmus
Der normale Wochenrhythmus, mit 5 Arbeitstagen und dem Erholungswochenende, besteht nicht. Vielmehr ist die Woche bereits sehr arbeitsintensiv. Am Wochenende erhöht sich die Verantwortung noch, da das Kind nicht in Institutionen (Kindergarten, Schule, Werkstatt) untergebracht ist. Statt Erholung bedeutet das Wochenende Arbeitsintensivierung.


Jahresrhythmus
Der normale Jahresrhythmus ist ebenfalls unterbrochen bzw. verändert. Ferienzeiten des Kindes können zu "Höchstbelastungen" fast ohne jeden Freiraum werden. Feiertage bedeuten 24-Stunden-Versorgung des Kindes. Feiertage wie Weihnachten oder Ostern können aufgrund innerer Anspannung nicht mehr richtig erlebt werden. Der auch im Jahresrhythmus bestehende Wechsel von Arbeits- und Erholungszeiten wird kaum möglich.


Erleben im Ablauf des Lebenszyklus
Die normalen Erfahrungen im Ablauf ihres Lebenszyklus sind aufgrund der Dauerverantworung und des eingeschränkten Zeitbudgets verändert. Haben Frauen nach einigen Jahren Kindererziehung durch das Selbständigwerden ihrer Kinder normalerweise mehr Freiräume zur eigenen Lebensgestaltung und Zeiten zur Selbstverwirklichung, so können die Mütter besonderer Kinder dieses nur durch eine umfassende Organisation und ein gut funktionierendes Netzwerk in Ansätzen realisieren.


Trennung von Arbeit, Freizeit und Wohnen
"Die tägliche Erziehungsarbeit und Hausarbeit der Mütter findet in der Wohnung statt, die damit für die Mütter gleichzeitig Arbeitsplatz, Erholungsstätte, Schlafstätte, Ort für Genuss und Vergnügen ist. ... Abgrenzungen werden dadurch schwieriger bis unmöglich, da alles ineinanderfliesst." (Jonas 1994, 51)

Durch diese fehlende Trennung von Arbeit, Freizeit und Wohnen gerät die Mutter in ihrer häuslichen Umgebung in eine Art "Arbeitsstrudel". Einige Mütter der Befragung sprachen auch von einer Art Gefängnis oder Käfig, in dem sie leben müssten.

Hilfreich wäre ein eigenes Zimmer für die Mutter, in das sie sich zurückziehen kann, z.B. für Freizeitbeschäftigungen wie lesen etc., so dass zumindest eine räumliche Trennung zwischen Arbeitsbereich und Privatbereich besteht.


Literatur:
Jonas, M. (1994): Behinderte Kinder - behinderte Mütter? Fankfurt am Main, Sept.1994
Wacker, E. (1995): Familie als Ort der Pflege; Leben mit einem behinderten Kind in bundesdeutschen Haushalten; In: Geistige Behinderung 1, 19 -35

Dorothea Wolf-Stiegemeyer, Melle

 

Bild: Gruppentherapie