Der (etwas?) andere Alltag von Müttern besonderer Kinder

Teil 6: Höchstleistung, aber wo bleibt die Anerkennung?

Selbstwertgefühl und Wertschätzung
Gerade das Selbstwertgefühl ist eine wichtige interne Ressource im Leben der Mütter besonderer Kinder. Über den Weg der Selbstbestimmung und des guten Selbstwertgefühls wird die Basis für ein - trotz vieler Widerstände - positiv empfundenes Leben gelegt.

Achtung und Wertschätzung stellen sowohl individuelle aber auch äußere, soziale Aufgaben dar. Die äußere Wertschätzung kann jedoch das Selbstwertgefühl der Mutter nicht ersetzen, sondern es nur pflegen. Ein gutes Selbstwertgefühl kann aber durch destruktive Äußerungen und Isolation nachlassen. Persönliches Selbstwertgefühl und Wertschätzung von Außen bilden eine Dyade zur Steigerung der Lebensqualität.

Für ein gutes Selbstwertgefühl sind u.a. folgende Faktoren wichtig: Die Zugehörigkeit zum sozialen Gefüge, Achtung (Selbstachtung und soziale Achtung der Person und der Leistungen), das Gefühl, daß andere Menschen die Verantwortung für das besondere Kind mit tragen, die Selbstbestimmung und eine positive Zukunftsperspektive.

Neben den Gesprächen und dem Schriftverkehr füllten 43 von 62 Müttern noch einen Fragebogen zu erwünschten Hilfen zur Verbesserung ihrer Lebenssituation aus. Der Fragebogen war so konzipiert, daß nur offene Antworten möglich waren. Befragt zu der von ihnen erfahrenen Anerkennung gaben 8 Mütter der Befragung an, daß die Erwartung besteht, daß die Eltern alles mit links schaffen. Tatsächliche Anerkennung erhielten 7 Mütter von Freunden, jeweils 5 gaben an, diese von der Familie und von ihren Eltern zu bekommen. 4 erklärten diese vom Ehepartner zu erhalten, je 3 Mütter von Ärzten, von Nachbarn, von Menschen mit ähnlichem Schicksal und von Bekannten. (Mehrfachnennungen waren möglich.)

Innerhalb der Gespräche und in einigen Briefen erklärten Mütter, daß sie durch die Pflegeversicherung und die damit verbundene Einzahlung in die Rentenkasse eine Anerkennung empfinden.

Viele Mütter berichteten auch von einer Art "indirekter Anerkennung": "Bekannte sagen mir, daß sie froh sind, daß sie diese Belastungen nicht haben." "Die Anerkennung beschränkt sich meistes auf eine Art Bewunderung." "Manchmal erfahre ich eine diffuse Hochachtung." "Es gibt auch eine Art Bewunderung, die einer Distanzierung ähnelt." "Anerkennung hole ich mir, indem ich Bekannte meine Tochter halten lasse und diese dann sagen, wie schwer es doch ist "R." zu betreuen."

Eine Mutter sagte ganz selbstbewußt: "Ich weiß ganz gut, was ich leiste." Solch eine Art innerer Einstellung gepaart mit einer Wertschätzung von Außen wäre das, was den Müttern besonderer Kinder das Leben sehr erleichtern würde.

Positive und negative Betrachtungsweise
Verschiedene Sichtweisen sind für die subjektive Dimension der Qualität des Lebens mitverantwortlich. Gleichzeitig ist es umgekehrt, daß die Qualität des Lebens auf die verschiedenen Empfindungen und Sichtweisen Auswirkungen hat.

Als Beispiel folgende in vielen Familien mit besonderen Kindern vorkommenden Faktoren:

Fehlende Flexibilität und Eingebundensein im Haus; dies sind durchaus nachvollziehbare belastende Erlebnisse und Empfindungen.

Eine lebensfroh wirkende Mutter berichtete durchaus überzeugt: "Das ist ja auch ein Vorteil. Ich habe immer Zeit, da ich ja kaum aus dem Haus komme. Durch die fehlende Möglichkeit, mit meinem Sohn spontan etwas zu unternehmen, sind Termine durchorganisiert und planbar, so kommen wir nie in Streß."

Dies ist ein deutliches Beispiel für zwei Sichtweisen:

a) negative Bewertung dieser Situation:

  • das "halbleere Glas".
  • immer erforderliche Zeitplanung,
  • fehlende Flexibilität,
  • fehlende Spontanität,
  • Gefangensein im Haus.
  • Frust,
  • gering empfundene Lebensqualität.


b) positive Bewertung dieser Situation:

  • das "halbvolle Glas".
  • Durchorganisieren als Vorteil,
  • Zeitplanung als sicherer und verläßlicher Rahmen und als Tatsache, die zum Vorteil des Zeithabens führt,
  • es sich im Haus gemütlich machen.
  • Gelassenheit,
  • Lebensfreude,
  • höher bewertete Lebensqualität.


Wenn, oder gerade weil die Realität der Situation besteht und sich meistens nicht grundlegend ändern läßt, kann es doch für die Mutter selber hilfreich sein, ihren Blickwinkel von dem "halbleeren" auf das "halbvolle" Glas zu lenken.

Hilfreich hierfür könnten Menschen sein, die die Gefühle der Mütter ernst nehmen, sie aber - soweit die Mutter dies aufzunehmen bereit ist - ehrlich und verständnisvoll auf die positiven Aspekte aufmerksam machen. Selbst wenn die Mutter diese positive Sichtweise des "halbvollen" Glases nur einige Minuten am Tag erleben kann, so sind dies wichtige Momente persönlicher Freude und Wohlbefindens. Aus der positiven Sichtweise wird positives Empfinden!


Dorothea Wolf-Stiegemeyer, Melle