35 Jahre Epileptologie – was habe ich gelernt?

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

es liegt wohl nahe, in den Tagen und Wochen, in denen man von einer Institution Abschied nimmt, in der man über zwanzig Jahre gearbeitet hat, den Blick auf diese zwei Jahrzehnte zurückzuwerfen und (ebenso nahe-liegend!) zu diesen rund zwanzig Jahren noch die fünfzehn hinzuzurechnen, die man andernorts mit derselben Thematik verbracht hat – in meinem Fall also mit der Epileptologie und den Epilepsien.
Dieser Rückblick erhebt keineswegs den Anspruch auf eine wissenschaftliche Abhandlung – fassen Sie meine Ausführungen lieber als eine Art abendliche Plauderei am Ende eines Tagwerks auf!
Ich hoffe es – und ich denke, es trifft auch realiter zu: Ich war in diesen 35 Jahren immer ein Lernender. Mit „Lernen“, das im Titel meiner Ausführungen auftaucht, sind also keineswegs nur die ersten Jahre gemeint, als ich an verschiedenen Orten EEG- und Epileptologie-Schüler war – z. B. in Stuttgart bei Prof. Helmut Heintel, der mir die ersten EEG-Schritte in einer didaktisch sehr klugen konzentrierten Art und Weise beibrachte, oder in Kork bei Prof. Ansgar Matthes und Prof. Rolf Kruse, die vor allem meine klinischen Lehrmeister waren.
Aber das Lernen hat ja glücklicherweise während der Beschäftigung mit der Epileptologie nie aufgehört. Ich habe gelernt durch Lesen, durch alltägliche Arbeit, durch Erfolge und Misserfolge, ich habe gelernt von Kollegen, von nicht-ärztlichen Mitarbeitern, von Patienten und von Eltern, insbesondere von Müttern.
Ich will im Folgenden versuchen, die einzelnen Lerninhalte etwas systematisch aufzulisten.
Meine mehr als drei Jahrzehnte dauernde epileptologische Tätigkeit fiel in eine Phase stürmischer medizinischer Entwicklung, gerade auch auf dem Gebiet der Epileptologie.
Unsere vorwiegend im Labor tätigen Kolleginnen und Kollegen machten uns mit Hilfe ihrer experimentellen Forschungen die physiologischen Vorgänge am Neuron klar, erklärten uns die geheimnisvollen Ionenströme durch Kanäle vom Zellinnern nach außen und in umgekehrter Richtung, vorbei an spannungsabhängigen oder chemisch gesteuerten Kanal- oder Schleusenwärtern – wir staunenden Kliniker haben dabei gelernt, dass Transmittersubstanzen, über deren Existenz oder gar deren Funktion wir aus dem Studium allenfalls eine nebulöse Vorstellung mitgebracht hatten, tatsächlich existierten und funktionierten, und dass das Kürzel PDS weit vor der politischen Wende in Mitteleuropa keine Partei bezeichnete sondern einen entscheidenden Vorgang bei der Auslösung epileptischer Aktivität – nämlich die „paroxysmal depolarization shift“!.
Die stürmische Entwicklung jener Zeit in der Medizin allgemein und speziell in der Epileptologie zeigte sich vor allem auch in den diagnostischen Möglichkeiten – z. B. in der EEG-Diagnostik. Vor einigen Jahren habe ich den letzten EEG-Papier-Schreiber vom EEG-Labor des Epilepsiezentrums ins benachbarte Epilepsiemuseum geschoben – ganz konkretes Zeichen dafür, dass das digitalisierte EEG das konventionelle mit seiner Papierschreibung abgelöst hatte.
Revolutionär war die Entwicklung im Bereich der Bildgebung. Während in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, also zu Beginn meiner epileptologischen Existenz, die Röntgenaufnahme „Schädel ap und seitlich“ zur ritualisierten, in aller Regel ergebnislosen Diagnostik gehörte, sind seit Jahren Computer- und Kernspintomographie selbstverständlich auch aus der Epilepsie-Diagnostik nicht mehr wegzudenken und erleben ihrerseits in immer kürzer werdenden Zeitabständen weitere staunenswerte Entwicklungsfortschritte.
Aber nicht nur die Verbesserung der diagnostischen Möglichkeiten durch die modernen bildgebenden Verfahren ist entscheidend sondern auch die durch diese neuen Verfahren herbeigeführte Befreiung des Patienten von schmerzhaften, z. T. auch gefährlichen Untersuchungsmethoden. Ich erinnere mich noch sehr detailliert an die Luftfüllungen, die wir noch vor dreißig Jahren hier im Keller unseres Zentrums unter abenteuerlichen Bedingungen vornahmen, die in technischer, hygienischer und ärztlich-menschlicher Hinsicht nur mit Mühe verantwortbar waren; und noch heute weiß ich nicht, ob bei diesen heroischen Untersuchungen die Angst des Patienten größer war oder die des Arztes.
Der diagnostische Fortschritt erstreckte sich in den letzten drei Jahrzehnten selbstverständlich auch auf das Gebiet der Neuropsychologie. Schon der Begriffswechsel deutet dies an – in unserem Spezialgebiet der Epileptologie (insbesondere in einem Epilepsiezentrum) wurde der Psychologe zum Neuropsychologen. Früher war es oft ein Nebeneinander zwischen Psychologie und medizinischer Epileptologie mit einem deutlichen hierarischen Vorteil für den Mediziner; heute ist es ein Miteinander; der Psychologe ist ins diagnostische Boot genommen, er ist – ich sage es einmal sehr pointiert – aus einem Dienstleister, der uns die IQ-Nümmerchen lieferte, zu einem wichtigen Partner geworden; und es ist für uns Epileptologen erstaunlich, mit welcher Präzision heute die Neuropsychologen z. B. in der prä-chirurgischen Phase entscheidende lokalisatorische Hinweise geben können.
Auch auf therapeutischem Gebiet kann man bzgl. der letzten drei Jahrzehnte von einer entscheidenden Veränderung, ja von einer Zeitenwende sprechen. Dies bezieht sich nicht zuletzt auf die medikamentöse Therapie. Die jüngste Substanz der sog. Standard-Antiepileptika, das Valproat, wurde in Deutschland erstmals hier in Kork eingesetzt und geprüft. Ich war damals, 1970, hier Gastarzt, und ich erinnere mich gut an den ersten Patienten, bei dem damals die „Dipropylessigsäure“ eingesetzt wurde. Es war der 22-jährige Sohn eines Juristen und Privatpatient von Prof. Matthes. Nach drei bis vier Wochen der neuen Behandlung hatten zwar die im Abstand weniger Tage auftretenden großen Anfälle des Patienten hinsichtlich ihrer Häufigkeit leicht abgenommen, aber gleichzeitig nahm auch seine Vigilanz immer mehr ab – über eine zunehmende Schläfrigkeit fiel er schließlich in einen Koma-ähnlichen Zustand. Erst das abrupte Absetzen der Valproat-Medikation führte zu einer restitutio ad integrum und verhinderte eine drohende berufliche Intervention des ungehaltenen Vaters. Heute wissen wir – wir haben es eben auf dem Wege der zunehmenden Erfahrung mit Valproat gelernt –, dass die Vigilanzverminderung in diesem Fall keine direkte Nebenwirkung des Valproat sondern das Ergebnis einer Inhibition war: Das Valproat, das bei diesem Patienten zu einer schon bestehenden Luminal-Behandlung dazugegeben worden war, hatte zu einer Inhibition des Phenobarbital-Abbaus und damit zu einer Phenobarbital-Intoxikation geführt. Ein Beispiel dafür, dass wir Ärzte häufig auf dem Rücken des Patienten dazulernen!
Ein noch eklatanteres Beispiel des Lernens auf Kosten des Patienten zeigt uns ebenfalls das Valproat: Wie viele Jahre hat es gedauert, bis wir Ärzte gelernt und akzeptiert haben, dass es unter Valproat zu einer fatalen Hepatopathie kommen kann. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir erschreckt und entsetzt die ersten Todesfälle unter Valproat konstatieren mussten, hat uns und unsere Patienten niemand gewarnt. Doch – ich erinnere mich an eine warnende Stimme, die auch für meinen eigenen Lernprozess wichtig war: Als wir hier in Kork merkten, dass Valproat, das damals vom Hersteller als überaus gut verträglich und völlig gefahrlos angepriesen worden war, zu Haarausfall führen konnte, sagte mein damaliger Lehrmeister Ansgar Matthes: „Eine Substanz, die störend in das differenzierte, empfindliche Gefüge einer Haarwurzel einzugreifen vermag, kann nicht harmlos sein!“ Wie recht er hatte!
Nach der Einführung des Valproat, das sich ja in den letzten drei Jahrzehnten mit Recht zu einem Medikament der ersten Wahl in der Epilepsietherapie entwickelt hat (zumal wir den Umgang mit den Nebenwirkungen dieser Substanz und ihre Vermeidung bzw. ihre Früherkennung inzwischen sehr gut gelernt haben), hatte die praktische Epileptologie für knapp zwanzig Jahre keinen Zuwachs an neuen anfallhemmenden Substanzen. Erst mit Beginn der 90er Jahre kam es in rascher Folge zur Entwicklung neuer Antiepileptika.
Die meisten Standardpräparate zuvor waren durch Zufall als Antiepileptika entdeckt worden – denken Sie beispielsweise an das Brom, das Phenobarbital oder das Valproat, die vor der Entdeckung ihrer anfallhemmenden Wirkung mit ganz anderen Indikationen im Einsatz waren. Nur das Phenytoin hatte unter den herkömmlichen Antiepileptika seine Entwicklung und Einführung als anfallhemmende Substanz einer theoretischen Überlegung und der anschließenden Realisierung dieser Idee verdankt.
Bei den Antiepileptika der neuen Generation handelt es sich überwiegend um Substanzen, die ihre Entdeckung und Einführung dem zunehmenden Wissen über die Grundzüge der patho-physiologischen Vorgänge bei der Entstehung epileptischer Aktivität verdanken. Eine, wie es scheint, logische und wissenschaftlich befriedigende Entwicklung – und dennoch: Wurde durch die sog. neuen Antiepileptika tatsächlich eine neue Ära in der medikamentösen Epilepsie-Therapie eingeleitet? Konnte der Prozentsatz unbefriedigend oder praktisch nicht zu behandelnder Patienten von bisher 20 – 25 % tatsächlich durch die neuen Antiepileptika entscheidend gesenkt werden? Und wenn wir diese Frage mit einem „Nein“ beantworten müssten – sind die Nebenwirkungen der neuen Substanzen tatsächlich nur selten und so gering ausgeprägt, wie uns Pharmaindustrie und manche kurzfristig angelegten Studien glauben machen wollen? Wer einmal die Exacerbation einer Psychose oder eine irreversible Gesichtsfeldeinschränkung unter Vigabatrin, eine ausgeprägte Sprachstörung unter Topiramat, das erstmalige Auftreten großer Anfälle unter Levetiracetam, eine Provokation eines Status kleiner Anfälle unter Tiagabin, eine ausgeprägte Hyponatriämie mit klinischer Symptomatik unter Oxcarbazepin oder die Ausbildung einer psychotischen, depressiv gefärbten Episode unter Lamotrigin erlebt hat, kommt ins Grübeln.
Ich möchte aber an dieser Stelle keineswegs falsch verstanden werden: Wir Epileptologen und unsere Patienten sind glücklich darüber, dass in den letzten fünfzehn Jahren neue Antiepileptika gefunden, weiter entwickelt und auf den Markt gebracht wurden – aber ich habe gelernt, mich gegenüber Versprechungen hinsichtlich der Wirkungen und der Nicht-Existenz von Nebenwirkungen neuer Medikamente zunächst sehr distanziert zu verhalten. Es trifft möglicherweise und in einigen Fällen sogar mit ziemlicher Sicherheit zu, dass das Risiko bzgl. Häufigkeit und Ausprägung medikamentöser Nebenwirkungen bei vielen der neuen Wirksubstanzen geringer ist als bei den Standardpräparaten – aber wir sollten uns davor hüten, die Möglichkeit von Nebenwirkungen der neuen Antiepileptika zu tief anzusetzen, gerade zu einem Zeitpunkt, an dem die Dauer, die zu einem eingehenden Kennenlernen erforderlich ist, noch vergleichsweise kurz ist.
Der Fortschritt in der Epilepsie-Behandlung ist selbstverständlich vor allem erkennbar in der epilepsie-chirurgischen Therapie. Diese stürmische Entwicklung ist für Patienten, Angehörige und Ärzte gleichermaßen frappierend.
Heute ist die Epilepsiechirugie für viele therapieresistenten Anfallkranken unter bestimmten Voraussetzungen zu einer eindeutigen Alternative geworden.
Auch ich persönlich habe in Bezug auf die epilepsiechirurgische Intervention einen entscheidenden Lernprozess durchgemacht – ganz anders als die heutigen jungen Ärzte und Epileptologen, die ihr Spezialgebiet schon im Wissen um diese Therapiemöglichkeit in Angriff nehmen. Ich erinnere mich gut an meinen ersten Patienten, den ich nach langer Überlegungszeit, nach unzähligen Informationen, Vorgesprächen mit Patient, Eltern und anderen Epileptologen und wiederholten Untersuchungen (damals noch ohne die differenzierten Möglichkeiten der heutigen prä-chirurgischen Diagnostik) der Operation zuführte – damals noch in Bonn, weil die Kooperation Kork-Freiburg noch in weiter Ferne lag. Der Patient war etwa siebzehn Jahre alt, hatte eine Temporallappenepilepsie und erlitt prä-operativ jeden Monat mehrere Anfälle. Er wurde operiert und war von Stund an anfallsfrei. Für mich war dies eine nachhaltige Erfahrung, die sich für mich nicht zuletzt an folgendem Detail festmachte: Ein Jahr nach erfolgter Operation erfüllte sich der junge Mann einen Lebenstraum, kaufte sich ein Motorrad und eroberte die Welt. Noch heute bekomme ich gelegentlich eine Karte aus Afrika oder Alaska, die anzeigt, dass Anfallsfreiheit und Lebensfreude weiterhin anhalten.
Inzwischen haben sich zu diesem erfolgreich operierten Patienten viele, viele weitere gesellt, die post-operativ gewissermaßen ein neues Leben beginnen konnten. Die Operationen der Korker Patienten erfolgen, wie Sie natürlich wissen, seit einigen Jahren in Freiburg, und ich bin froh und befriedigt darüber, dass ich bei der Schaffung des ‚Epilepsiezentrums Grad IV Kork-Freiburg’ bzw. – wie die Freiburger es vorziehen zu sagen – ‚Freiburg-Kork’ meinen Beitrag als ärztlicher Direktor und Geschäftsführer des Epilepsiezentrums beisteuern durfte.
Einen steten Lernzuwachs – von der allerersten epileptologischen Beratung eines Patienten bis zu meinem vorgestrigen letzten Arbeitstag – habe ich auf dem Gebiet der psycho-sozialen Thematik erfahren. Hier waren weniger die arrivierten Epileptologen oder andere Kollegen meine Lehrer sondern Patienten, Eltern, Lehrer oder Ausbilder. Diagnostik und Grundzüge der Therapie kann man recht gut aus Lehrbüchern lernen, nicht aber den jeweiligen psycho-sozialen Aspekt, der sich meist sehr individuell darstellt und sich in seinen Details oft erst nach längerer gemeinsamer Wegstrecke von Arzt und Patient bzw. Angehörigen erschließt.
Ich habe gelernt, dass die medizinische Problematik einer Epilepsie, selbst wenn es noch nicht gelang, völlige Anfallsfreiheit zu erzielen, hinter den psycho-sozialen Problemen zurücktreten kann. Und dann, wenn es z. B. um das Problem der Isolierung im Klassenverband, um Schwierigkeiten in der beruflichen Ausbildung, um Einschränkungen im Freizeitbereich oder um zwischenmenschliche Beziehungsprobleme geht, dann ist im Epileptologen weniger der Mediziner als der Arzt gefragt.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass der direkte persönliche Kontakt zwischen dem Arzt und Personen aus dem Umfeld des Patienten – seien es Erzieherinnen, Lehrer, Ausbilder oder Arbeitgeber – außerordentlich hilfreich und für die Position des Anfallkranken in diesem Umfeld sehr wichtig sein kann. (Solche Gespräche können natürlich immer nur im Einverständnis mit dem Betroffenen und seiner Familie geführt werden.)
In diesem Zusammenhang noch eine Bemerkung zu den Epilepsie-Selbsthilfegruppen. Die Selbsthilfebewegung verzeichnete in den letzten 35 Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung – nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit dem Krankheitsbild der Epilepsien. Ich habe gelernt, in dieser Bewegung, der ich anfangs zugegebenermaßen etwas skeptisch-abwartend gegenüberstand, eine sehr sinnvolle Anlaufstelle und oft eine große Hilfe für Anfallkranke und ihre Angehörigen zu sehen. Und ich habe gleichfalls gelernt, dass Mitglieder solcher Gruppierungen und vor allem ihre Leitungspersonen wertvolle und zuverlässige Partner z. B. im Kampf für das soziale Image der Betroffenen und im Kampf gegen Benachteiligungen und Vorurteile sein können. Aus dieser gewonnen Überzeugung heraus habe ich in den letzten 20 Jahren immer wieder SHG’s besucht, dort Vorträge gehalten und auch bei der Gründung neuer Gruppen geholfen.

Lassen Sie mich zum Abschluss meiner Ausführungen einige Thesen in lockerer Folge auflisten – Thesen, die Resultat meiner ganz eigenen Erfahrungen sind, und die manches von dem, was ich in 35 Jahren gelernt und heute vor Ihnen auszugsweise vorgetragen habe, in einigen – nicht in allen – Punkten synoptisch zusammenfassen. Sie sind sehr persönlich gefärbt und erheben weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Allgemeingültigkeit.


 Dr. Hansjörg Schneble


Anm. der Red.: Diese Thesen sind in der epiKurier-Ausgabe 1/2006 nachzulesen