Generalisierte Anfälle
Epilepsien besser verstehen Teil 4
Ist das Bewusstsein erloschen und das gesamte Gehirn an dem Anfallsgeschehen beteiligt, sprechen wir von generalisierten Anfällen.
Der Grand mal Anfall ist der in der Bevölkerung wohl bekannteste cerebrale Krampfanfall. Nicht aus dem Grund weil der Grand mal der häufigste Anfall wäre - Absencen treten um ein vielfaches häufiger auf - sondern weil der Grand mal im Betrachter die größten Ängste schürt und daher weder übersehen, noch aus der Erinnerung verdrängt werden kann.
Die Dramatik der Grand mal Anfälle führten zu den Vorurteilen gegenüber Epilepsiepatienten, unter denen diese leider auch heute noch leiden müssen.
Grand mal
Der Grand mal Anfall kann in unterschiedlichen Formen auftreten:
Tonischer Anfall
Beim tonischen Anfall kommt es zu einer plötzlichen Versteifung aller Muskeln. Das Bewusstsein ist hierbei erloschen.
Dies hat unterschiedliche Auswirkungen:
Befindet sich zu diesem Zeitpunkt die Zunge gerade zwischen den Zähnen, kann es zum Zungenbiß kommen. Der Zungenbiß ist zwar ein deutliches Zeichen für einen cerebralen Krampfanfall, kommt aber insgesamt seltener vor, als gemeinhin angenommen. Insbesondere schwere Verletzungen der Zunge sind eher die Ausnahme. Auch kann der Zungenbiß nicht durch einen Beißkeil verhindert werden, da er gleich zu Beginn des Anfalls erfolgt, wenn weder Patient noch mögliche Helfer mit einem Anfall rechnen.
Häufiger kommt es jedoch zum Sturz, da durch die Muskelanspannung und fehlende Gleichgewichtsreaktionen die Balance verloren wird und auch Schutzreflexe nicht mehr wirksam werden können. Durch diese Stürze besteht eine große Verletzungsgefahr, so dass Patienten mit tonischen Sturzanfällen auf das Tragen eines Schutzhelms angewiesen sind.
Die plötzliche Anspannung von Zwerchfell und Rippenmuskulatur führt zu einem Ausstoß von Luft durch die verkrampfte Stimmritze. Dies führt zu einer Lautgebung, die als Initialschrei bezeichnet wird. Im Gegensatz zum normalen Schreien, das meist ein Zeichen von Angst ist, ist der Initialschrei kein Ausdruck eines Gefühls, sondern ein mechanisches Phänomen. Der Patient selbst ist bereits ohne Bewusstsein und erlebt diesen Schrei nicht mehr.
Die Anspannung der Darmmuskulatur und Blasenmuskulatur kann zu Einkoten und Einnässen führen.
Die fehlende Atmung lässt die Lippen blau werden.
(Tonisch-)Klonischer Anfall
Häufig geht ein tonischer Anfall in einen klonischen Anfall über. Wir sprechen dann von einem tonisch-klonischen Anfall. Die tonische Phase kann jedoch auch fehlen oder so verkürzt sein, dass wir sie nicht sehen, so dass dann nur von einem klonischen Anfall. gesprochen wird.
Im klonischen Anfall kommt es zu rhythmischen Zuckungen der Muskulatur.
Dies ist bedingt durch die Funktionsweise der Muskelfasern, die bei anhaltendem Impuls irgendwann nicht mehr mit einem Zusammenziehen reagieren und locker lassen um sich dann nach der Erholung wieder zusammenzuziehen. Dies erfolgt in gleichmäßiger Folge, so dass die Zuckungen einen Takt einhalten und erst gegen Ende des Anfalls, wenn die Impulse des Gehirns nachlassen, zu einem Auslaufen führen.
Folge der rhythmischen Muskelzuckungen sind die bekannten Zuckungen der Arme und Beine, die vom Betrachter deutlich wahrgenommen werden..
Weniger beachtet werden die Zuckungen der Zunge, die jedoch den Speichel zu einem feinen Schaum schlagen und dadurch das Bild von „Schaum vor dem Mund“ erzeugen. Da dies im Tierreich vorzugsweise bei Tollwut beobachtet wird, führte diese Beobachtung zu einer negativen Betrachtungsweise der Grand mal Anfälle.
Da die Zunge im Anfall angespannt ist, kommt es in dieser Phase weder zu einem Zungenbiss noch zu einem „Verschlucken“ der Zunge.
Auch in dieser Phase des Anfalls kann es zu Einkoten und Einnässen kommen, sofern dies nicht bereits in der Eingangsphase erfolgt ist.
Am Ende eines Anfalls, kommt es zu einer tiefen Erschlaffung der Muskulatur. Da das gesamte Gehirn am Anfall beteiligt war, kommt es auch zu einer generellen Erschöpfung. Im EEG (1) zeigen sich sehr langsame Wellen, wie sie im sehr tiefen Schlaf zu beobachten sind.
Die Dauer des Nachschlafs ist abhängig von der Intensität des Anfalls, die nicht allein durch die Dauer des Anfalls bestimmt ist.
Die Muskelarbeit kann auch zu Muskelkater nach dem Anfall führen.
Der Patient hat keine Erinnerung an den Anfall. Er kann ihn allenfalls an der Veränderung der Umwelt sowie an der Abgeschlagenheit und ggf. dem Muskelkater erkennen.
Erfolgt ein Anfall im Schlaf, kann dieser unbemerkt bleiben. Bei Kindern wird häufig von Bettnässen gesprochen. Auffällig ist, dass sie an solchen Tagen auch häufig abgeschlagen und müde sind und scheinbar unruhig geschlafen haben (zerwühlte Kissen).
Atonischer Anfall
In einigen Fällen kommt es statt einer Anspannung der Muskulatur zu einer plötzlichen Erschlaffung.
Die Betroffenen sinken in sich zusammen und liegen ohne Reaktion auf dem Boden.
Meist kommt es hierbei nicht zu so schweren Verletzungen wie bei einem tonischen Anfall. Auch sind Zungenbiss und Einkoten in der Regel nicht zu beobachten. Atonische Anfälle werden daher auch zu den Petit mal Formen gerechnet.
Sekundär generalisierter Grand mal
Wenn fokale Anfälle generalisieren, d. h. sich über das gesamte Gehirn ausbreiten, kommt es immer zu einem Grand mal Anfall, d.h. in der Regel zu einem tonisch-klonischen Anfall. Dieser unterscheidet sich von den primär generalisierten Grand mal Anfällen lediglich durch den vorangehenden Anfall, d.h. in der Regel durch das Auftreten einer sog. Aura.
Diagnostische Schwierigkeiten bereiten sehr kurze fokale Anfälle mit rascher Generalisierung, da hier der fokale Charakter übersehen werden kann und fälschlich von einem generalisierten Anfallsleiden ausgegangen wird. In Einzelfällen kommt es jedoch auch bei primär generalisierten Anfällen zu Symptomen wie Kopfwendung oder Blickwendung, die dann an einen fokalen Beginn denken lassen, obwohl dieser nicht existiert.
Petit mal
Petit mal bezeichnet eine Gruppe von Epilepsien, die aus generalisierten Anfällen besteht, denen die erschreckenden Symptome des Grand mal Anfalls fehlen. Diese Anfälle werden auch oft übersehen oder nicht ernst genommen. In der Regel handelt es sich um idiopathische Epilepsien.
Petit mal Anfälle zeigen eine tageszeitliche Bindung bzw. Bindung an den Schlaf auf.
Die meisten Anfälle treten innerhalb der ersten Stunden nach dem Aufwachen auf sowie am Abend bei nachlassender Aktivität und Müdigkeit.
Absencen
Die bekanntesten Anfälle des Petit mal Formenkreises sind die Absencen, insbesondere die Absencen des Schulkindes.
Absencen sind kurze Bewußtseinspausen, die beim Schulkind meist nur bemerkt werden, da sie in Serien auftreten, d.h. mehrere Anfälle in kurzem Abstand aufeinander folgen. Sie können weniger als eine Sekunde anhalten. Beim Jugendlichen können die Absencen länger dauern und werden diesem dann durch die Lücke im Zeitgeschehen bewusst.
Bei einer Absence hält der Betroffene plötzlich kurz inne, unterbricht den Redefluß.
Es kann zu rhythmischen (3/s) Zuckungen der Augenbrauen kommen, die Augen zeigen eine Aufwärtsbewegung, ggf. auch einen Aufwärtsnystagmus.(2) Oft wird der Kopf in den Nacken gelegt. Dies führte zu der Beschreibung des Hans-guck-in-die-Luft im Struwelpeter.
Absencen werden häufig nicht als cerebrale Krampfanfälle wahrgenommen. Die Kinder werden als verträumt beschrieben. Oft werden sie auch getadelt, weil sie unaufmerksam erscheinen. Beim Diktat fehlen Wörter oder Endungen, die im Verlauf der Aussetzer nicht bemerkt wurden.
Absencen des Schulkindes heilen in der Regel in der Pubertät aus.
Bestehen die Absencen jedoch über längere Zeit, so kann es zum Auftreten von Grand mal Anfällen kommen. Dies verschlechtert die Prognose, es besteht die Gefahr, dass die Epilepsie nicht ausheilt. Daher sollten auch die harmlos erscheinenden Absencen behandelt werden. So lange sich Veränderungen im EEG nachweisen lassen, muß davon ausgegangen werden, dass noch Anfälle auftreten, die auf Grund ihrer kurzen Dauer übersehen werden können.
Im EEG zeigen Absencen des Schulkindes ein typisches 3/s Spitze-Welle- Muster. D.h. eine spitze Zacke wird von einer Welle gefolgt. Das Muster ist sehr gleichmäßig über allen Ableitepunkten des EEG.
Absencen des Jugendlichen können ausgestalteter sein, d.h. es kann zu Bewegungsmustern kommen. Auch zeigt das EEG nicht immer das typische Muster der 3/s
Dr. Barbara Schuler Köln
(1) Ableitung der Hirnströme, vergleichbar mit dem EKG des Herzens. Die Hirnströme sind jedoch wesentlich schwächer als die Ströme des Herzens, so dass die Ableitung deutlich schwieriger und anfälliger ist.
(2) Bei einem Nystagmus handelt es sich um eine ruckartige Bewegung der Augen in eine Richtung, die mehrfach wiederholt wird. Physiologisch, d.h. normal ist ein Nystagmus z.B. beim Lesen oder beim Blick aus dem Fenster eines Zuges. Es werden einzelne Objekte mit den Augen verfolgt, bis sie aus dem Blickfeld verschwunden sind, danach kehrt das Auge in die Mittelstellung zurück. Beim Lesen wandert das Auge vom Zeilenanfang zum Zeilenende und zurück. Es ist davon auszugehen, dass der Leser soeben einen Nystagmus aufweist.;-)