Epilepsien besser verstehen Teil 5

Fortsetzung der  Artikelserie aus den epiKurier-Ausgaben 2/05 (Teil 1), 4/05 (Teil 2), 1/06 (Teil 3), 2/06 (Teil 4)"

Häufige Epilepsiesyndrome des Kindesalters
Der Begriff „Syndrom“ bezeichnet eine wiederkehrende Kombination unterschiedlicher Symptome mit gleichartigem Krankheitsverlauf, ohne Aussage über die Ursache der Erkrankung.
Die folgende Aufzählung orientiert sich am Zeitpunkt des Krankheitsbeginns und nicht an der Häufigkeit des Auftretens.

West-Syndrom
Das West-Syndrom ist ein Syndrom des Säuglingsalters. Es kann kurz nach der Geburt bis zum 1. Lebensjahr auftreten.


Symptomatik
Die Symptomatik wurde erstmals durch den Chirurgen Williams James West beschrieben, der bei seinem eigenen Sohn die typischen Anfälle beobachtete. Später wurden die Anfälle auch als BNS (Blitz-Nick-Salaam) Anfälle bezeichnet.
Es treten drei Arten von Anfällen auf, die meist in Serie beobachtet werden: Am Ende einer Anfallsserie weinen die Kinder oft. Dieses Weinen ist Teil des Anfalls und kein Zeichen, dass das Kind unter den Anfällen leidet!
Die Anfälle sehen wie folgt aus:

Blitzanfall
Wie vom Blitz getroffen halten die Kinder inne. Die Dauer des Anfalls ist kurz, die Anfälle werden oft mit Erschrecken verwechselt.


Nickanfall

Durch Verkrampfen der Hals- und Schultermuskulatur kommt es zu einer Kopfbewegung, die einem Nicken ähnelt.
Jenseits des Säuglingsalters sind diese Anfälle als myoklonische Anfälle ausgestaltet.


Salaamanfall oder „Jackknive (=Taschenmesser)anfall“
Der Salaamanfall ähnelt der Gebetsbewegung der Moslems. Die Amerikaner vergleichen die Bewegung mit der eines Taschenmessers. Die Arme werden nach vorne geworfen (Salaam), die Beine knicken in der Hüfte ein (Taschenmesser). Manche Eltern verwechseln die Bewegung mit dem Versuch sich hinzusetzen, eine Bewegung die Kinder jedoch erst deutlich später machen können . Säuglinge und Kleinkinder setzen sich über die Drehung und den seitlichen Handstand oder aus dem Vierfüßlerstand hin, da die Bauchmuskulatur noch nicht genügend ausgeprägt ist.
 Die Unreife des Gehirns und fehlende Isolation der Hirnströme bei geringer Isolierung haben ein Bewegungsmuster zur Folge, das dem Reflex ähnelt, der bei Erschrecken ausgelöst wird, dem Moro-Reflex. Dieser Reflex wird ausgelöst durch Schreck oder Nachhintenfallen des Kopfes und führt bei Affen dazu, dass sich die Babys bei der Mutter im Fell anklammern.


EEG-Befund
Der EEG-Befund beim West-Syndrom ist immer gleichartig und wird als „Hypsarrhythmie“ bezeichnet. Die Hirnströme befinden sich in einem ungeordneten Zustand, alle Hirnregionen sind betroffen. Hohe langsame Wellen wechseln mit sog. Spitzen. Das Muster ist durchgängig im EEG sichtbar, es gibt keine Pausen mit regelrechten Hirnströmen. Das Muster ist auch ohne Krampfanfall sichtbar.
Als Besonderheit wird eine „geordnete Hypsarrhythmie“ beschrieben, die eine günstigere Prognose hat, als die „Hypsarrhythmie“, die keine Ordnung aufweist.


Ursachen
Die Ursachen des West-Syndroms sind sehr unterschiedlich.
Der Sohn von West litt vermutlich unter der idiopathischen Form, d.h. einer Veranlagung zu Epilepsie, in diesem Fall mit Beginn im Säuglingsalter. Die idiopathische Form spricht in der Regel auf Medikamente an und die Kinder können anfallsfrei werden..
Eine weitere häufige Ursache ist eine tuberöse Hirnsklerose (M. Pringle), eine Erbkrankheit mit kleinen gutartigen Tumoren im Gehirn und der Haut.
Weitere Ursachen sind Fehlbildungen des Gehirns aber auch Stoffwechselerkrankungen.
Da auch ein Vitamin B12 Mangel Krampfanfälle auslöst, wird häufig eine Gabe von Vitamin B12 als erste Therapiemaßnahme eingeleitet, auch wenn dies eine seltene Ursache der Erkrankung ist.
Insgesamt kann man sagen, dass BNS-Anfälle die häufigste Epilepsieform des Säuglings sind.


Ohtahara Syndrom
1976 wurde das Ohtahara-Syndrom erstmals als Säuglingsepilepsie beschrieben. Es ist benannt nach dem japanischen Epileptologen Ohtahara. Dieses Syndrom ist sehr selten, nur etwa 200 Fälle sind in der Fachliteratur bisher beschrieben.
Das Ohtahara-Syndrom unterscheidet sich vom West-Syndrom durch das Auftreten tonischer Anfälle und einem EEG-Bild mit „supression burst“, d.h. das EEG zeigt abwechselnd Phasen mit ganz geringer Hirnstromaktivität (kleine Ausschläge) und Phasen mit sehr großen Ausschlägen, sog. Krampfaktivität. Dieses Muster besteht auch in den Pausen zwischen den Anfällen.
Ursache der Erkrankung ist eine Schädigung des Gehirns (Encephalopathie), die den Ausgang der Erkrankung bestimmen.. Als „Ausheilung“ kann das Ohtahara-Syndrom in ein West-Syndrom oder ein Lennox-Gastaut-Syndrom übergehen. In allen beschriebenen Fällen war die Entwicklung der Kinder deutlich beeinträchtigt.

Dravet Syndrom
Ähnlich selten wie das Ohtahara-Syndrom tritt das Dravet-Syndrom im Säuglingsalter auf, das Charlotte Dravet, die Marseiller Epileptologin und Schülerin von Gastaut, beschrieb. Bisher existieren 170 Beschreibungen weltweit.
Es sind überwiegend Jungen betroffen, wobei in vielen Fällen eine Gen-Mutation gefunden werden konnte. Das Dravet-Syndrom zeigt eine besondere Dramatik, da die Kinder zur Bildung von Staten, d.h. Anfällen von langer Dauer ohne spontanes Ende, neigen. Diese Staten können in einigen Fällen auch tödlich enden.
Auch hier wird ein Übergang in ein Lennox-Gastaut-Syndrom gefunden. Die beschriebenen Kinder hatten alle Verzögerungen ihrer Entwicklung.

Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS)
Lennox, ein amerikanischer Neurologe und Gastaut, ein Neurologe aus Frankreich, beschrieben das Syndrom in den 50er Jahren.
Das Lennox-Gastaut-Syndrom ist eine Epilepsieform, bei der es ein buntes Gemisch aller Anfallformen gibt. Die Kinder zeigen

  • tonische und atonische Anfälle, die zu Stürzen führen können (Sturzanfälle). Diese tonischen Anfälle grenzen das LGS von anderen Syndromen ab.
  • typische und atypische Absencen
  • tonisch-klonische Anfälle
  • fokale und komplex-fokale Anfälle
  • Es besteht eine Neigung zu Staten, meist als Dämmerstatus.
  • Die Anfallfrequenz ist hoch, die Therapie schwierig.
  • Die geistige Entwicklung ist gefährdet.

Das Syndrom manifestiert sich meist im Kleinkindesalter, d.h. mit 3-5 Jahren. Jungen sind bevorzugt betroffen. In 1/5 der Fälle ging dem Lennox-Syndrom ein BNS-Leiden voraus.
Ursache eines Lennox-Gastaut-Syndroms ist meist eine Hirnerkrankung, z.B. tuberöse Hirnsklerose. In einigen Fällen kann die Ursache nicht bestimmt werden (kryptogene Epilepsie). Die Existenz eines idiopathischen Lennox-Gastaut-Syndroms wird inzwischen bezweifelt.
Die Prognose der Erkrankung hängt von der zu Grunde liegenden Hirnerkrankung ab.

So genannte „gutartige“ (benigne) Syndrome des Kindesalters

Pseudo-Lennox-Syndrom
Das Pseudo-Lennox-Syndrom zeigt die gleiche Anfallsvielfalt wie das „echte“ LGS und tritt im gleichen Lebensabschnitt, d.h. mit 3-5 Jahren, auf.
Der Unterschied besteht im Auftreten tonischer Anfälle, die beim Pseudo-LGS nur im Rahmen von tonisch-klonischen Anfällen auftreten, d.h. nicht isoliert.
Das Pseudo-Lennox-Syndrom ist meist idiopathisch, d.h. es liegt keine erkennbare Hirnerkrankung zu Grunde. Deshalb kann es durch die Hirnreifung zu einer Ausheilung der Epilepsie kommen. Dies ist häufig zum Zeitpunkt der Pubertät der Fall.
Aus dieser Beobachtung rührt die landläufige Meinung, dass Epilepsien in der Pubertät verschwinden.
Die Prognose der Epilepsie ist somit als gutartig zu bezeichnen. Weniger gutartig ist allerdings die allgemeine Entwicklung der Kinder. Durch die anhaltend vorhandenen krankhaft veränderten Hirnströme kommt es zu einer Verzögerung der Entwicklung der Kinder bis hin zu geistiger Behinderung. Auch wenn sich die Therapie als schwierig erweist, sollten daher alle Bemühungen unternommen werden, die Anfälle, ggf. sogar das EEG, zu beherrschen.

Rolando-Epilepsie
Die Rolando-Epilepsie ist die häufigste idiopathische Epilepsieform des Schulkindes und manifestiert sich zumeist im Alter von 5-10 Jahren.
Es handelt sich um eine fokale Epilepsie, d.h. die Anfälle betreffen nur einen Teilbereich des Gehirns, nämlich die Regio rolandica. Diese Region wurde von dem Neurologen Rolando als motorisches Sprachzentrum identifiziert.
Die Anfallsform ist somit ein Spracharrest: Die Kinder sind zwar bei Bewusstsein, können jedoch nicht sprechen. Es läuft ggf. Speichel aus dem Mundwinkel, eine Gesichtshälfte fühlt sich taub an.
Es kann zu einer sekundären Generalisierung, d.h. zu einem Grand-Mal-Anfall, kommen.
Die Anfälle treten häufig aus dem Schlaf heraus auf, da die Aktivität sich hier vom Fokus über das gesamte Gehirn ausbreiten kann.
Diese Ausbreitung bestimmt letztlich auch die Prognose für die geistige Entwicklung der Kinder. Da wir überwiegend im Schlaf lernen, führt die pathologische Hirnaktivität zu einem verminderten Lernvermögen. Es kann somit zu Teilleistungsstörungen - insbesondere im sprachlichen Bereich - kommen, wenn die Epilepsie nicht behandelt wird.

Sonderformen der Rolando-Epilepsie

Die Hirnreifung beginnt im hinteren (occipitalen) Bereich des Gehirns und schreitet nach vorne (frontal) fort. Bei kleineren Kindern findet sich als Parallelform der Rolando-Epilepsie daher oft eine als „Alice-im-Wunderland“-Epilepsie bezeichnete Epilepsie. Die Anfälle finden im Sehzentrum (Occipitallappen) statt und führen zu optischen Halluzinationen:

  • alle Gegenstände werden riesig groß
  • alle Gegenstände werden winzig klein
  • alle Gegenstände bewegen sich in Zeitlupe
  • alles bewegt sich rasend schnell.....

Da diese Symptome im Kinderroman „Alice im Wunderland“ beschrieben wurden, erfolgte die Namensgebung nach dem Roman.
Ältere Kinder können fokale Epilepsien im Stirnlappen aufweisen, die sich als Gefühlsstörungen z.B. durch Weinen oder Lachen äußern.

ESES-Syndrom / CSWSS-Syndrom
Kinder mit ESES- oder CSWSS-Syndrom werden häufig nicht als Anfallskinder erkannt, da es nicht zwingend zu sichtbaren Anfällen kommen muß.
Die Diagnose stützt sich auf das EEG, nach dem die Erkrankung auch benannt ist:
„Electrical Status Epilepticus during slow Sleep“ oder “Continuous Spike Waves during Slow Sleep”.
Es findet sich im (Tief-)Schlaf eine kontinuierliche epilespsietypische Hirnaktivität.
Folge dieser Aktivität ist insbesondere ein Verlust an Sprache oder bei Kleinkindern ein mangelnder Zuwachs an Sprache. Weitere Teilleistungsstörungen können ebenfalls beobachtet werden, sind jedoch nicht wegweisend.
Um bleibende Schäden zu vermeiden, ist eine Therapie in jedem Fall erforderlich. Je länger die Behandlung verzögert wird bzw. je schlechter auf die Behandlung angesprochen wird, desto schlechter sind die Aussichten für die Entwicklung der Kinder.
Die Hirnstromaktivität normalisiert sich mit der Hirnreifung, die Entwicklungsdefizite werden jedoch in der Regel nicht wieder aufgeholt. Dies liegt u.a. daran, dass das Sprachzentrum im Kindesalter besonders lernfähig ist und diese Lernfähigkeit mit zunehmendem Alter verliert. Dies zeigt z.B. der Sprachzuwachs eines Einjährigen im Vergleich zu einem Vorschulkind oder einem Erwachsenen, der z.B. eine Fremdsprache lernen soll. Bei Sprachentwicklungsstörungen empfiehlt sich daher die Durchführung eines Schlaf-EEGs um ein ESES-Syndrom auszuschließen.


Juvenile Myoklonusepilepsie
Im Jugendalter, d.h. beginnend mit der Pubertät und Häufung im 2. Lebensjahrzehnt, tritt die juvenile Myoklonusepilepsie auf.
Die Anfälle äußern sich als Zuckungen, bevorzugt des Schulter-Gürtels, die zum Wegschleudern der Arme führen können. Da die Anfälle bevorzugt in Serien in den ersten Stunden nach dem Erwachen auftreten kommt es häufig zum Wegschleudern von Zahnbürste oder Kaffeetasse.
Die Anfälle treten besonders häufig nach Schlafentzug auf. Gleichzeitig sind die Betroffenen leider häufig „Nachtmenschen“, so dass die Therapie schwierig ist. Das Einhalten der Therapierichtlinien ist besonders in der Pubertät nicht immer zu erreichen.

 


Die Serie wird fortgesetzt

Dr. Barbara Schuler, Köln