Balanceakt hoch drei
Allein erziehend, mit behindertem Kind, Haushalt und Beruf
Bundesweit einzigartiges Pilotprojekt
Seit rund einem Jahr gibt es in München erstmals eine Anlaufstelle speziell für allein erziehende Frauen mit behindertem Kind. Das von der Aktion Mensch geförderte Pilotprojekt hilft Müttern ihre Kräfte aufzutanken – durch ein Kontaktnetz, Beratung, Austausch, gemeinsame, Unternehmungen, Wochenend-Seminare und einen monatlichen Treff
Foto: Infotisch zum Tag der offenen Tür. Sozialpädagogin Petra Nold von „allfa beta“, Ulrike Rothweiler und Lilo Illmer von allfa_m – Alleinerziehende Frauen in München (v.l.)
Eine typische Situation: Mütter und Kinder machen zum ersten Mal getrennt einen Ausflug. Was passiert? „Die Kinder sind bestens versorgt mit Brotzeit, Sonnenhut, Regenjacke, Lieblingsspielzeug… Aber die Mütter! Die einen haben die Sonnencreme vergessen, die anderen nicht genügend zu essen und zu trinken dabei. An sich selbst denken die Frauen zuallerletzt – oder manchmal gar nicht“, erzählt Petra Nold. Immer dann greift die Sozialpädagogin in ihren eigenen Rucksack und hilft mit ein paar vorsorglich gepackten Utensilien aus. Sich selbst nicht zu vernachlässigen, nicht nur Mutter, sondern auch Frau sein zu dürfen, das ist das große Thema bei „allfa beta“. Das neue Projekt der Alleinerziehenden-Einrichtung „allfa_m“ in München unterstützt speziell alleinerziehende Frauen mit behindertem Kind. Bisher gibt es für diese Mütter nur ganz wenig Angebote. Als „Randgruppe“ in der „Randgruppe“ fallen sie sozusagen aus allen Rastern: Unter „normalen“ Familien mit behindertem Kind fühlen sie sich oftmals als fünftes Rad am Wagen. Für andere Alleinerziehende wiederum scheint gar das Leben mit einem behinderten Kind kaum bewältigbar.
Permanente Erschöpfung
Alle Anforderungen an Alleinerziehende sind für Mütter mit einem behinderten Kind verschärft. Existenznot: Egal, ob eine Frau es schafft, arbeiten zu gehen oder nicht, meist ist sie auf zusätzliche Stütze oder Wohngeld angewiesen – noch dazu zahlen viele Väter keinen oder zu wenig Unterhalt. Viele Frauen sind psychisch und körperlich erschöpft. Durch permanenten Schlafmangel, „unverdaute“ Trauer um die zerbrochene Partnerschaft, um das „nicht gesunde Kind“, Frust wegen zermürbender Kämpfe mit Ämtern. „Alle Verantwortung, alle wichtigen Entscheidungen über Therapien und Arztbesuche lasten alleine auf den Schultern der Frau, täglich muss sie alles im Griff haben, auf das Kind eingehen, es pflegen. Wenn es krank ist, gar rund um die Uhr“, erklärt Petra Nold. Viele Frauen funktionieren nur noch mechanisch, verlieren jegliches Gefühl für ihre eigenen Bedürfnisse, haben keine Kraft mehr, Freundschaften und andere soziale Kontakte zu pflegen und ziehen sich immer mehr zurück. „Wenn sie zu uns kommen, dann ist es manchmal der erste Schritt raus aus der Isolation.“
Foto: „Endlich mal Zeit für mich“ – nach dem Museumsbesuch bei Kaffee und Kuchen. Alleinerziehende Frauen mit behindertem Kind während einer Veranstaltung in der barrierefreien Bildungs- und Erholungsstätte Langau. Zwei der Mütter haben ein mehrfach behindertes Kind mit Epilepsie.
Kompetenz für Alleinerziehende
Rund dreißig Frauen haben sich seit April letzten Jahres im Projekt „allfa beta“ vernetzt. Von der Bankangestellten, Sekretärin und Krankenschwester bis zur Rechtsanwältin, Landwirtin und Künstlerin sind die unterschiedlichsten Frauen vertreten. Die Kinder haben die verschiedensten Behinderungen: Entwicklungsverzögerungen mit unklarer Diagnose, Spina Bifida, Spastiken, Epilepsien, geistiger Behinderung wie Trisomie 21, chronischer Krankheit bis hin zu schweren Mehrfachbehinderungen. Einmal monatlich, jeweils am zweiten Freitag des Monats, gibt es ab 16 Uhr einen offenen Treff mit Kinderbetreuung – zum gemütlich Plaudern, in Ruhe Kaffe Trinken, Infos Austauschen und sich ein wenig Entspannen. Begleitend werden Einzelberatungen (auch telefonisch und per Mail) zu psychosozialen Problemen, zu Rechtsfragen und zum Umgang mit Behörden angeboten. „Der große Vorteil ist, dass wir hier vor Ort auf die Fachkompetenz der seit über 20 Jahren bestehenden Alleinerziehenden-Initiative zurückgreifen können“, so Nold.
Wurzeln in Langau
Das auf drei Jahre angelegte Projekt „allfa beta“ wird u.a. von der Aktion Mensch finanziert und durch das sozialwissenschaftliche Institut München wissenschaftlich begleitet. Die Begleitstudie soll den Bedarf an Unterstützung für alleinerziehende Frauen mit Kindern mit Behinderung aufzeigen helfen. Vorbild für „allfa beta“ war die Pionierarbeit der Gruppe „BaMbeKi“. Die „Bayerischen alleinerziehenden Mütter behinderter Kinder“ haben sich vor sieben Jahren bei einer Elternwoche der bayerischen Erholungs- und Bildungsstätte Langau zusammengefunden. Dort sammelte Petra Nold als Referentin jahrelang wertvolle Erfahrungen für ihre jetzige Arbeit. Mittlerweile treffen sich die „BaMbeKis“ im Cafe des Münchner Alleinerziehenden-Treffs, etwa sechsmal im Jahr ganztägig. Dort werden sie von allfa beta-Mitarbeiterinnen begleitet. Mehrmals im Jahr finden erholsame Wochenenden und mehrtägige Seminare für Frauen aus ganz Bayern statt. Auch zwischen den Treffen bricht der Kontakt nicht ab. Petra Nold berät per E-Mail und Telefon und verschickt monatlich einen Newsletter mit aktuellen Informationen, wie zum Beispiel dem neuen Unterhaltsrecht oder Möglichkeiten zur Kurzzeitpflege. Die Mütter scheuen die elektronischen Medien nicht, im Gegenteil: Seit Februar moderiert die allfa-beta-Leiterin jeden dritten Dienstag im Monat von 21 Uhr bis 22.30 Uhr einen Chat auf der Internetplatform „intakt“ (www.intakt.info). „Aber nichts geht über das persönliche Treffen!“, weiß Petra Nold. Sie möchte auch an anderen Orten Alleinerziehende dabei unterstützen eine Selbsthilfegruppe ins Leben zu rufen: „In Augsburg gibt es bereits vier Frauen, die Interesse hätten…“
Foto: Alleinerziehende Frauen der „BaMbeki“ Selbsthilfegruppe (Bayerische alleinerziehende Mütter behinderter Kinder) während des jährlichen Wochenend-Treffs. Dieses Jahr findet es von 1. – 3. August 2008 statt. Zweite von links: Petra Nold.
Loslassen dürfen
Und was bringt die Mütter dazu, die manchmal mühevolle Organisation und Anreise zu den Gruppentreffen und Wochenenden in Kauf zu nehmen? Petra Nold: „Viele Frauen, die zu uns kommen, tun seit langer Zeit endlich mal was für sich. Hier können Sie sich öffnen, tanken ihre Kräfte neu auf. Manche berichten, dass sie wieder zu sich kommen, einen ruhigen Pol in sich finden oder hier ein bisschen Nestwärme finden und sich nicht mehr so alleine fühlen. Eine Frau sagte, dass sie hinterher klarer sieht, eine Vorstellung hat, wie es überhaupt weitergehen kann. Manche Mütter merken auch, wie viel Trauer und Frust sie in sich hineinfressen, dann geht es ums Loslassen und einfach mal Weinen dürfen. Andere berichten, dass ihnen Frauen, die schon länger dabei sind, als Vorbild dienen und sie Ideen bekommen, was Neues auszuprobieren.“ Übrigens: Neue Frauen sind herzlich willkommen!
Kontakt:
allfa betaPetra Nold
Sedanstraße 37
81667 München
Tel. 089 / 62 28 62 87
Fax 089 / 45 80 25 13
E-Mail: nold.allfabeta(a)siaf.de
Internet: www.allfa-m.de (im Aufbau)
(Bilder-Quelle – alfa beta, München)