Sozialarbeit bei Epilepsie

Aspekte aus der Geschichte der Sozialarbeit

 

Mit dem Aufbau der Säuglingsfürsorge Ende des 19. Jahrhunderts wurden Einrichtungen geschaffen, die sich bemühten, für alle Neugeborenen Beratungs- und Untersuchungsangebote anzubieten. Anfangs für sozial Schwächere gedacht, wurden sie später allen Bevölkerungsschichten geöffnet. Von Anfang an arbeiteten Ärzte und Sozialarbeiterinnen in diesen Stellen zusammen. Ein Schwerpunkt sozialarbeiterischer Tätigkeit waren Hausbesuche.
Anfänge einer „Sozialen Krankenhausfürsorge“ in deutschen Krankenhäusern gab es ab 1896. Aufgabe war: "Die Soziale Krankenhausfürsorge will für die Kranken das tun, was Arzt und Pflegerin nicht für sie tun können. Sie will ihnen bei den wirtschaftlichen Sorgen, die durch ihre Krankheit entstehen, Rat und Hilfe schaffen. Sie will den Kranken die Unruhe und Angst nehmen, die ihre Wiederherstellung verzögern, wenn sie ihre Familie unversorgt oder in Not wissen. Sie will den Kranken schon während ihres Aufenthaltes im Krankenhaus die Gewissheit geben, dass sie auch nach der Entlassung nicht in Sorgen und ohne Beistand bleiben." Grundgedanken, die auch heute noch Bedeutung haben. Am Anfang waren es Frauen, die diese Tätigkeiten auf ehrenamtlicher Basis ausübten. Schnell zeigte sich, dass für diese verantwortungsvollen Aufgaben Fachkräfte benötigt wurden, die ihre Tätigkeit hauptberuflich wahrnahmen. Ein Schritt der Frauenemanzipation. Mit einer bezahlten Tätigkeit wurde es den Frauen ermöglicht, ein wirtschaftlich unabhängiges Leben zu führen.

 

Abb. Alice Salomon. Archiv Peter Reinicke

Die professionelle Ausbildung von Sozialarbeiterinnen begann 1899 in Berlin, wo Jahreskurse der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit von Jeanette Schwerin und Alice Salomon eingerichtet wurden. Andere Orte in Deutschland folgten. Wesentliche Grundsätze waren: Keine Sozialarbeiterin sollte ohne Ausbildung eine Tätigkeit im sozialen Bereich ausüben und die Ausbildung sollte sowohl theoretische als auch praktische Teile umfassen. Grundsätze, die heute noch gelten. 1908 gründete Alice Salomon die erste Soziale Frauenschule in Deutschland, die Vorgängerin der heutigen Fachhochschulen für Soziale Arbeit.

 

Abb. Besuchszeiten Universitätsklinik Halle/Saale 1965. Archiv Peter Reinicke

In den genannten ersten Aufgabenfeldern, Säuglings- und Krankenhausfürsorge, wurde dem Personenkreis der Menschen mit Epilepsie frühzeitig Beachtung geschenkt. In der Säuglingsfürsorge (Berlin-)Charlottenburg beispielsweise wurde bereits 1911 im „Gesundheitsschein“, der für jedes Kind erstellt wurde, vermerkt, ob „Krämpfe“ vorliegen, weiter gefragt wurde nach der „seelische(n) und intellektuelle(n) Entwicklung (insbesondere ob Epilepsie, Nervenkrankheiten)“ bestehen. Der Gesundheitsschein wurde an die Schulgesundheitsfürsorge und an die „Schulpflegerin“ weitergeleitet. In Charlottenburg gab es seit 1907 an allen Schulen Schulpflegerinnen. Neben den Hilfen bei sozialen und wirtschaftlichen Problemen der Schüler gehörte auch die Beachtung gesundheitlicher Aspekte zu ihren Aufgaben z. B. Ernährung, Gesundheitszustand, die Würdigung vorhandener Krankheiten z. B. Epilepsie, um Gefährdungen der Kinder bei Verschickungen, Berufswahl u. a. zu vermeiden. In Krankenhäusern wurden „Epileptiker“ nach dem Verständnis der damaligen Zeit vorwiegend in psychiatrischen Kliniken behandelt. Die Stadt Berlin hatte für die „Unterbringung von Epileptikern und anderen Krampfkranken“ eine eigene „Städtische Anstalt für Epileptische“, die Erwachsene und Kinder aufnahm. Besuchszeit war mittwochs von 14-15 Uhr und sonntags von 10-11 Uhr. Eine Regelung, die typisch war für alle Krankenhäuser und erst Mitte der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts sich langsam änderte, in der ehemaligen DDR nach 1989.
Im Mittelpunkt der Beratung und Betreuung durch Sozialarbeiter stand seit der Weimarer Republik immer der Einzelfall. Es wurde versucht, Hilfe zu leisten nach dem von Alice Salomon aufgestellten Grundsatz: „Das Hauptziel der Gesundheitsfürsorge sei die „Hebung der Gesundheit“ und in der Gesundheitsfürsorge komme es nicht nur darauf an, dass der Sozialarbeiter „seine Kenntnisse anwendet, dass er etwas für den anderen tut; sondern dass er jenen für eigenes Tun gewinnt, Einsichten in ihm weckt, seine inneren Kräfte löst und ihnen Richtung gibt“. Unterstützung bot das "Preußische Gesetz betreffend die öffentliche Krüppelfürsorge" (6. 5. 1920). Die im Gesetz benannte Bezeichnung Krüppelfürsorge irritiert uns heute. Die körperlich behinderten Menschen verstanden „Krüppel“ als einen Kampfbegriff und empfanden ihn nicht als diskriminierend. Mit dem Gesetz wurde erstmalig u. a. eine Meldepflicht eingeführt. Alle Fachkräfte, die von einer Behinderung erfuhren, wurden verpflichtet, diese zu melden, um den Betroffenen entsprechende Hilfen und Förderungen zu ermöglichen.
Eine radikale Änderung erfuhr die deutsche Gesellschaft nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933. Gesetze wurden erlassen, Maßnahmen vorbereitet, deren Inhalte schon viele Jahre vorher diskutiert wurden. Im Mittelpunkt stand jetzt die „Volksgemeinschaft“, nicht mehr der Einzelfall. Hilfen durften nur „erbgesunden“ und „rassereinen“ Menschen gewährt werden. Viele Menschen wurden durch die gesetzlichen Grundlagen Kontrollen unterworfen und ausgegrenzt. Hinzu kamen Zwangsmaßnahmen, beispielsweise Sterilisation und Euthanasie. Die Gesundheitsämter waren u. a. für die Einleitung von Maßnahmen nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) vom 14. 7. 1933 verantwortlich. Neben Ärzten waren Gesundheitspflegerinnen tätig, so hießen Sozialarbeiterinnen nach dem Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens vom 3. Juli 1934. Ihnen wurde eine wichtige Rolle zugestanden: "Ohne einsichtige und gewissenhafte Mitarbeit der Fürsorgerinnen wird es z. B. nicht möglich sein, im Laufe des nächsten Jahrzehnts mit der biologischen Bestandsaufnahme der Bevölkerung vorwärts zu kommen. Die Angst vor Nachteilen (Ablehnung von Ehestandsdarlehen, Sterilisierung, Schwierigkeiten bei der Eheschließung) bringt die Leute in Versuchung, Tatsachen über Erbkrankheiten, die in der Familie vorgekommen sind, zu verschweigen oder falsch darzustellen. Die Fürsorgerin wird am ehesten ausreichende und richtige Antworten über Erbkrankheiten aus den Leuten herausbekommen, denn zu ihr hat man in ihrem Bezirk Vertrauen". Diese ihnen zugedachte Rolle griffen einige der Sozialarbeiterinnen auf. Das GzVeN sah Menschen mit „erblicher Fallsucht“ als erbkrank an. In Nürnberg unterstützten Sozialarbeiterinnen im Krankenhaus mit Angaben aus Krankengeschichten über Erbkranke und deren Angehörige ihre Kolleginnen in der Familienfürsorge. 1935 leistete in der Berliner Heil- und Pflegeanstalt Buch die Sozialarbeiterin für 275 Patienten „Vermittlung im Sterilisationsverfahren“. Das bedeutete Mitwirkung im Erbgesundheitsverfahren durch Aussagen gegenüber dem antragstellenden Krankenhausleiter und dem Erbgesundheitsgericht über die soziale Situation des Patienten, seiner Familie, sein soziales Verhalten im Krankenhaus, Zusammentragen der Daten der bisher erfolgten sozialen Betreuung durch andere Dienststellen außerhalb des Krankenhauses, Kontaktaufnahme und Gespräche mit Angehörigen zur Unterstützung einer eventuell durchzuführenden Sterilisation. Nachgehende Betreuung war 1935 aus der Sicht einer Stuttgarter Sozialarbeiterin erforderlich, wenn bei der Entlassung der Verdacht auf eine Erbkrankheit bestand und wo erst das Verhalten außerhalb des Krankenhauses für die Feststellung der Diagnose ausschlaggebend sein würde. Dazu gehörten u. a. Fälle von endogener Depression, Grenzfälle aus dem Gebiet der Psychopathie zur Epilepsie oder zu den großen endogenen Psychosen. Sie zeigte Konflikte für ihre Sozialarbeiterkollegen auf, die aus ihrer Sicht immer zwei Seiten würdigen mussten. „Der Wille und das Lebensgefühl des Einzelnen widersetzen sich häufig dem Gesetz, und die Fürsorgerin wird hineingerissen in den Konflikt. Man kann dem Kranken sagen, dass er seinem Volk auf seine Weise zu dienen hat, dass er seinem Kind Leid erspart.“ Ihren Kollegen schlug sie zur Konfliktlösung vor, ihre eigene Haltung zu prüfen, ob sie die beschriebenen Schritte selbst gehen würden. Sie ging von einer zustimmenden Entscheidung aus.
Der Artikel kann nur einen begrenzten Einblick in die Entwicklung des Berufes der Sozialarbeiter und ihre Aufgaben geben. Er zeigt, welche Hilfen der Sozialarbeiter geben konnte, aber auch mit welchen Problemen er konfrontiert wurde. Erkenntnis: Ein Beruf kann seine Identität und sein Selbstverständnis nur finden, wenn er sich auch mit historischen Gegebenheiten auseinandersetzt und daraus lernt.

 

Prof. Dr. Peter Reinicke