Nicht alles, was zuckt ist, epileptisch!

Prof. Dr. Gerhard Kurlemann
Prof. Dr. Gerhard Kurlemann

Differentialdiagnose „anfallsartiger“ Bewegungsstörungen im Kindesalter - Teil 2

In der Öffnet internen Link im aktuellen Fensterletzten Ausgabe des epikurier wurden folgende Bewegungsstörungen vorgestellt:
Jactatio capitis et corporis nocturna
Synkope
Affektkrämpfe – breath holding spell attacks
Gutartige Schlafmyoklonien des Säuglings
Gutartiger frükindlicher Myoklonus
Pavor nocturnus (Nachtschreck)
Tic Störungen
Schauderattacken- Shuddering attacks
Benigner paroxysmaler Schwindel –gutartiger plötzlicher Schwindel
Benigner paroxysmaler Torticollis – gutartiger plötzlicher Schiefhals

Kataplexie / Narkolepsie

Die Narkolepsie (Schlafkrankheit) ist im Kindesalter selten, in Einzelfällen aber bereits vor dem 4. Lebensjahr berichtet. Das Vollbild besteht aus den Symptomen vermehrter Tagesschläfrigkeit, Kataplexie (kurzzeitiger Verlust der Muskelspannung), hypnagogen Halluzinationen (Halluzinationen im Halbschlaf) und Schlaflähmung. Zur Diagnose führt der multiple Schlaflatenztest (Test im Schlaflabor, bei dem der Patient immer wieder zur Entspannung und zum Einschlafen aufgefordert wird) sowie Nachweis des HLA-Antigens DR2 und Dqw1 mit einer Verminderung von Hypokretin im Nervenwasser. 

Sandifer Syndrom

Das Sandifer – Syndrom ist gekennzeichnet durch schraubende Bewegungen des Halses und Rumpfes , begleitet von Wippbewegungen des Körpers und Stimmungsveränderungen des Kindes. Die Symptomatik tritt häufig zeitlich gebunden an die Nahrungsaufnahme auf. Die abklärende Untersuchung besteht in der Suche nach einem gastroösophagealen Reflux (Sodbrennen),  eines Zwerchfellbruches oder ösophagealen Dysmotilität (falsche Bewegungen der Speiseröhrenmuskulatur), da diese überdurchschnittlich häufig begleitend auftritt. Nach operativer Korrektur des Reflux oder der Hernie sistiert die Symptomatik. Eine häufige Verwechslung der Sandifer-Symptomatik sind tonische epileptische Anfälle, insbesondere bei entwiclungsverzögert Kindern mit Epilepsie.

Benigner tonischer Aufblick

Seltene plötzliche  Augenaufwärtsbewegung im Kleinkindesalter, die durch eine unterschiedlich lange anhaltende starre Augenaufwärtsbewegung charakterisiert ist. Beim Versuch des Abwärtsblickes in der Attacke tritt ein Down-Beat-Nystagmus (abwärts gerichtetes Augenzittern) auf; die seitlichen Augenbewegungen sind nicht gestört.  Der Verlauf ist selbstlimitierend, positive Effekte sind unter einer Therapie mit L-DOPA berichtet.     

Selbststimulation

Die Selbststimulation oder Masturbation des Säuglings – und Kleinkindesalters ist gekennzeichnet durch stereotype Bewegungsmuster mit rhythmischem Zusammenpressen der Oberschenkel begleitet von wippenden kopulationsähnlichen Bewegungen des Körpers, bei  Mädchen häufiger als bei Jungen. Zusätzlich können Symptome wie Schwitzen, Gesichtsrötung oder unregelmäßige Atmung auftreten; das Bewusstsein der Kinder ist erhalten. Die Kinder stimulieren ihr Genital nie mit den Fingern. Häufig tritt die Selbststimulation in Situationen fehlender Beachtung der Kinder auf. Das EEG ist immer normal, der Verlauf spontan endend. Das Wichtigste ist die Beruhigung der Eltern.

Spasmus nutans - Kopfwackeln

Der Spasmus nutans besteht aus Kopfnicken, Schiefhals und asymmetrischem Nystagmus. Durch das Kopfwackeln vermeiden die Kinder visuelle Verzerrungen. Nur ausnahmsweise bleiben die Symptome bis ins höhere Alter bestehen. Zum Ausschluss krankhafter Veränderungen des Gehirnes sollte einmal eine Kernspintomographie des Gehirnes durchgeführt werden.

Plötzliche, durch schnelle Bewegungen ausgelöste (kinesiogene) Bewegungsunruhe - Choreoathetose

Kennzeichnend sind kurz dauernde, bizarre, schraubende Bewegungen einzelner oder ganzer Muskelgruppen ausgelöst durch plötzliche Bewegungsänderungen. Das Bewusstsein während der Attacke ist erhalten, gelegentlich verspüren die Patienten eine kurze Aura, anschließend besteht keine postiktuale Beeinträchtigung. Die Attacken dauern kurz, können bis zu 100mal am Tag auftreten. Das Manifestationsalter schwankt zwischen 5 und 15 Jahren. Das EEG ist immer normal. Antiepileptika wie Phenytoin oder Carbamazepin/Oxcarbazepin oder auch Valproat in niedriger Dosis unterdrücken die Symptome; in der dritten bis vierten Lebensdekade endet die Bewegungsstörung spontan. Das Krankheitsbild wird autosomal dominant vererbt, bei Beschwerdefreiheit der Eltern muss nach den Symptomen in der Kindheit der Eltern gefragt werden.

Psychogene nicht epileptische Anfälle (pseudoepileptische, dissoziative Anfälle)

Bis zu 20 % der Kinder mit einer Epilepsie leiden unter psychogenen nicht epileptischen Anfällen, junges Alter ist kein Schutz vor psychogenen Anfällen, so dass auch bei Kindern unter 6 Jahren an diese Diagnose gedacht werden muss. Immer dann, wenn die geschilderten Symptome Zweifel an einem epileptischen Anfall aufkommen lassen, der EEG  -Befund unauffällig ist, sollte auch im Kindesalter an die Möglichkeit nicht epileptischer psychogener Anfälle gedacht werden. Im Zweifel sollte immer versucht werden, den epileptischen Anfall in einer Doppelbild – Videoaufzeichnung zu erfassen und dann zu analysieren. Nur eindeutige EEG – Befunde unter Kenntnis physiologischer Varianten dürfen in die Diagnostik einfließen.  
Die Annahme eines nichtepileptischen psychogenen Anfalls kann je nach Länge des Anfalls durch den fehlenden Anstieg des Hormones Prolaktin unterstützt werden. Ein Prolaktinanstieg 20 Minuten nach Anfallsbeginn auf das 2 – 3fache des Ausgangswertes spricht für einen epileptischen Anfall. Der Ausgangswert sollte, falls er nicht vorliegt, 24 Stunden nach dem Anfall bestimmt werden. Die Diagnose eines nicht epileptischen psychogenen Anfalls ändert das gesamte therapeutische Vorgehen und muss genauso konsequent wie eine Epilepsie behandelt werden !

Hyperekplexie - Schreckhaftigkeit

Die Symptome der Hyperekplexie bestehen in einer überschießenden Antwortreaktion auf äußere Reize, häufig akustisch – mit begleitender Muskelsteifheit und Verlust der Haltefunktion mit erhaltenem Bewusstsein. Häufigste Fehldiagnose sind tonische oder myoklonisch – astatische epileptische Anfälle. Die Reizantwort habituiert nicht (wird durch Gewöhnung nicht verändert). Beim Neugeborenen präsentiert sich die Schreckhaftigkeit mit den drei Symptomen aus (i) erhöhter Muskeltonus (Stiff – baby –Syndrom), der sich im Verlaufe des ersten Lebensjahres spontan bessert, (ii) nicht habituierende Startle – Reaktion (ein einfacher klinischer Test besteht in der Auslösung des Glabella – Reflexes) und (iii) schlafgebundenen Myoklonieattacken (Muskelzuckungen) , die lebensbedrohlich sein können, aber auch nach dem 1. Lebensjahr spontan sistieren. Bei einer Pathologie im Glyzinrezeptor (Chromosom 5q) besteht eine wirksame Behandlungsmöglichkeit mit gabaergen Substanzen.

Münchhausen-by proxi-Syndrom – Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom

Die Mütter tragen unterschiedliche, nicht kongruente Symptome ihres Kindes vor, für die klinisch kein Korrelat besteht. Sie simulieren eine schwere Erkrankung bei ihrem Kind, häufig spielen dabei Symptome paroxysmaler Bewegungsstörungen eine große Rolle. Passen alle Befunde überhaupt nicht zusammen, die Eltern (am häufigsten die Mutter, nicht selten aus medizinischen Berufen) auf invasive Diagnostik drängeln und das Kind schon in mehreren Kliniken / Ärzten (Doktorhopping) vorgestellt wurde, muss unbedingt an ein Münchhausen -  by - proxi - Syndrom gedacht werden.


Gerhard Kurlemann, Barbara Fiedler
Klinik für Kinder – und Jugendmedizin – Allgemeine Kinderheilkunde
Bereich Neuropädiatrie
Universitäts - Kinderklink Münster
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