58 Jahre Erfahrung

Dieter Schmidt vor der Erkrankung 1948

Mein Name ist Dieter Schmidt, ich bin 71 Jahre alt und habe seit meinem 14. Lebensjahr Epilepsie.

Es war 1955, als ich zuhause meinen 1. Großen Anfall bekam. Niemand wusste, was Epilepsie ist und meine Mutter war damit ziemlich überfordert. Ich hatte damals das große Glück, an zwei junge, mutige Kinderärzte zu geraten(Dr. Ansgar Matthes und Dr. Rolf Kruse), die später das Epilepsiezentrum Kehl/Kork aufbauten. Spezialisten wie die heutigen Epileptologen gab es damals nicht! Die Behandlung bestand grundsätzlich aus äußerlicher Beobachtung und - das war neu - dem EEG. Medikamente waren Brom und Valproinsäure. Mein Medikament hieß Antisacer compositum1) und bestand aus Uraltwirkstoffen, die teilweise heute noch Anwendung finden. Die Epileptologie steckte noch in den Kinderschuhen. Natürlich versuchte ich damals auch in der Alternativmedizin mein Heil, ich griff ja nach allen Möglichkeiten. Aber mir wurde sehr bald bewusst, dass Homöopathie bei Epilepsie nur unterstützend wirkt (was mir später auch zwei Homöopathen bestätigten).

Nach und nach wurden neue Untersuchungsmethoden, Medikamente und Operationen erforscht. Ich habe also die neuere Entwicklung in der Epileptologie miterlebt und finde es enorm, was sich da getan hat.

Aber nun zu meiner Krankheitsgeschichte: Ich habe morgendliche große Anfälle (so genannte Grand mal), was mir zum damaligen Zeitpunkt gar nichts sagte. Diese Anfälle bekam ich alle 2-3 Jahre. Das hieß, 2-3 Jahre Anfallsfreiheit und wenn dann ein Anfall kam, war eine Pause von 1-2 Tagen nötig, bis ich wieder arbeiten konnte, denn meist hatte ich danach starke Kopf- und Gliederschmerzen.

Da meine Anfälle frühmorgens auftraten, konnte ich mit meinen Freunden ein normales Leben führen. Ich trank ab und zu ein, zweiBierchen und mit regelmäßigemSchlaf hatte ich so meine Probleme. Ich suchte mir meinen Lebensweg auf meine Weise, stur war ich schon immer und ich probierte auch vieles aus.Mein liebster Sport war Schwimmen und gleich danach Sportschießen. Heute weiß ich, warum ich so gut zielen konnte, ich war durch meine Medikamente unbewusst gedopt…. Kein Mensch wusste damals, dass solche Sportarten bei Epilepsie riskant sein können. Ich bekam bei diesen Aktivitäten nie einen Anfall. Trotzdem sollte es nicht nachgemacht werden.

Ich machte ohne Probleme eine Lehre als technischer Zeichner und danach ein Abendstudium zum Maschinenbautechniker. Nur eines fiel mir auf, ich war langsamer im Handeln und Denken als die anderen. Erst viel später erfuhr ich, dass es Nebenwirkungen derMedikamente waren.

1965 hieß es noch, dass Epilepsiekranke nicht heiraten sollten und das wollte ich auch nicht. Denn Epilepsie galt noch als Erb- und Geisteskrankheit, und die Verantwortung war mir viel zu groß. Aber meine zukünftige Frauwollte heiraten, wir liebten uns ja. Obwohl sie über meine Krankheit Bescheid wusste, war es für sie nicht einfach, damit umzugehen. Mein Epileptologe beruhigte mich und ermunterte uns zur Heirat. Nach der Heirat zogen wir nach Reutlingen und 1973 kam unser Sohn zur Welt –und wieder war es mein Epileptologe der uns bestärkte und aufmunterte: Er sagte, wenn unser Sohn tatsächlich die Epilepsie erben sollte, käme das erst um das 14. Lebensjahr zum Ausbruch. (Weil auch ich mit 14 die ersten Anfälle bekam, so der damalige Kenntnisstand). Es waren 14 lange Jahre zwischen Hoffen und Bangen. Glücklicherweise ist unser Sohn kerngesund. Heutzutage sind solche Sorgen unnötig, da Epilepsie nicht mehr als Erb-und Geisteskrankheit gilt.

Auch eine Familie ist möglich 1980

Als mein Arbeitgeber Konkurs anmeldete, wurde ich zum ersten Mal arbeitslos. Trotz etlicher Bewerbungen und Anfragen bekam ich keine Arbeit. Ich gab bei den Einstellungsgesprächen meine Krankheit an und das war für alle ein Grund zur Absage. Aber ich gab nicht auf. Deshalb arbeitete ich die nächsten Jahre als Zahntechniker, eine Arbeit, die uns zwar ernährte, mich aber nicht zufriedenstellte.

Vitamin B (wie Beziehung) änderte alles. Ein Freund fragte mich eines Tages, ob ich nicht Lust hätte, bei ihm zu arbeiten, er war Betriebsleiter einer Stahlformenbaufirma. Hier konnte ich wieder in meinem erlernten Beruf Fuß fassen. Das war ein Glücksfall für mich. 20 Jahre arbeitete ich bei dieser Firma, die ersten 15 richtig problemlos. Ich verrichtete meine Arbeit genauso gut wie meine Kollegen.

Nach und nach stellten sichkörperliche Probleme ein. Ob es ausschließlich Nebenwirkungen der Medikamente waren, kann keiner mehr sagen. Ich war schließlich nicht mehr der Jüngste. Durch die häufigen Arbeitsausfälle bekam ich immer mehr Schwierigkeiten mit meinem Arbeitgeber. Ich war in der Zeit auch psychisch am Nullpunkt angelangt und hatte nicht die Kraft, gegen die fristlose Kündigung anzukämpfen.Vorruhestand und das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, trugen auch nicht dazu bei, mein Selbstwertgefühl zu stärken.

Im Jahr 2002 schickte mich meine Epileptologin deshalb stationär in ein Epilepsiezentrum zum Medikamentenwechsel. Die alten Medikamente sollten gegen neue ausgetauscht werden. Es wurde vorsichtig aus- und eingeschlichen, aber insgesamt dauerte es 23 Wochen, bis eine zufriedenstellende Medikamenteneinstellung erreicht wurde. In dieser Zeit hatte ich mehrere Grand mal-Anfälle. Für mich persönlich war das nicht schön.Durch die neue Medikation veränderte sich auch das Anfallsbild. Die Anfälle wurden zwar schwächer, kamen dafür aber öfter. Aber es veränderte sich auch meine Persönlichkeit. Ich wurde ausgeglichener, ruhiger und selbstsicherer. Ich lernte im Epilepsiezentrum verschiedene Möglichkeiten zur Krankheitsbewältigung und konnte immer besser damit umgehen. Meiner Meinung nach ist das auch auf die gute Verträglichkeit der neuen Medikamente zurückzuführen. In dieser Zeit begann ich endlich, meine Krankheit richtig zu akzeptieren und nahm sie als Herausforderung an. Ärzte und Therapeuten waren mir dabei eine große Hilfe.

Manchmal hätte ich am liebsten aufgegeben, wenn wieder Tiefpunkte kamen. Trotzdem habe immer weitergemacht. Hinzufallen ist keine Schande, wichtig ist, die Kraft zu finden, wiederaufzustehen. Ich sagte zu mir: „Gib nicht auf, bleib dran, halte durch. Es geht, mit einem starken Willen geht es.“

Am 1.Weihnachtstag 2004 bekam ich einen Grand mal. Ich fiel dabei unglücklicherweise mit der Hüfte auf unseren Wohnzimmertisch und erlitt einen Oberschenkelhalsbruch rechts. Nach der nötigen Operation machte ich regelmäßig Nordic-Walking, da freies Gehen nicht möglich war. Das wirkte sich positiv auf die Heilung der Hüfte aus und ich bekam durch das Laufen gleichzeitig den Kopf frei. Nach fast 3-jährigerBehandlungszeit konnte ich wieder leidlich gehen (allerdings mit verkürztem Bein).

Ich stellte mit der Zeit fest, dass ich ohne meine Frau eigentlich keine echte Lebensqualität hatte. Meistenswar sie es, die merkte, wann sich bei mir ein Anfall anbahnte. Bis 2009 war ungefähr einmal im Monat morgens etwas „anders“. Wenn ich beim Gespräch keine Antwort gab oder ich mich irgendwie anders verhielt, wusste sie sofort Bescheid, übernahm die Initiative und gab mir ein Notfallmedikament. Ich selbst war in solchen Momenten nicht mehr fähig, eigenständig zu handeln. In 95 % dieser Situationen konnte ein größerer Anfall verhindert werden.Natürlich war alles mit meiner Epileptologin abgestimmt, wir legen großen Wert auf gegenseitigen Austausch der aktuellen Situation. Ich selbst bin seit März 2011 bis auf eine (provozierte) Anfallsbereitschaft anfallsfrei.

40 Jahre gemeinsam: Ehepaar Schmidt 2012

Im Jahr 2006 machte ich im Epilepsiezentrum eine Medikamentenoptimierung. Hier bestärkte man mich, die Krankheit Epilepsie der Öffentlichkeit näher zu bringen.Auch mein Sohn unterstützte mich bei diesem Vorhaben, denn ich entwickelte mich langsam zum Familienekel. Eine böse Entwicklung…Mit 65 Jahren gründete ich deshalb eine Epilepsie-Selbsthilfegruppe in Reutlingen. Der Landesverband der Epilepsie-SelbsthilfegruppenBaden-Württemberg hat uns dabei sehr geholfen. Er kam und kommt mir wie eine große Familie vor. Durch diese neue Aufgabe verbesserte sich meine Lebensqualität. So kann ich jetzt nach und nach die Pläne verwirklichen, die mir sehr am Herzen liegen. Ich kann anderen betroffenen Menschen dabei helfen, die Krankheit so weit zu akzeptieren, dass sie vernünftig leben können. Wir machen uns gegenseitig Mut und sagen uns, dass ein Leben mit Epilepsie durchaus zu bewältigen ist und Hadern, Zweifeln und Jammern überhaupt keinen Sinn macht. Ich kann davon erzählen, wie ich selbst gelernt habe, dieses Handicap anzunehmen und mit der Epilepsie zu leben.Ich sageimmer wieder: Wir sind krank – das istrichtig. Aber andere sind auch krank, sie leben mit ihrer Krankheit - WIR KÖNNEN DAS AUCH!!! Es ist wunderbar, von anderen Mitbetroffenen Zuversicht, Kraft, Hoffnung und sogar Freundschaft zu bekommen. Diese tolle Erfahrung bringt nicht nur mir eine neue Lebensqualität, sondern es setzt auch bei anderen ungeahnte Energien frei, von denen man vorher nicht zu träumen gewagt hat. In Selbsthilfegruppen können eigene Erfahrungen weitergegeben werden, aber der Schritt in eine Gruppe ist für viele nicht einfach. Doch hier wird man verstanden und akzeptiert. Deshalb leiste ich aktive Aufklärungsarbeit - um Vorurteile und Ängste abzubauen. Mein Leben wäre ohne Epilepsie gewiss anders verlaufen, ob es aber besser geworden wäre, möchte ich bezweifeln!!!Vom französischen Dichter Molière stammt der Leitspruch unserer Gruppe:Wir sind nicht nur für unser Tun verantwortlich, sondern auch für das, was wir nicht tun.Und daran halten wir uns!Dieter SchmidtEpilepsie-Selbsthilfegruppe Reutlingen


Die Epilepsie-Selbsthilfegruppe Reutlingen trifft sich jeden 1. Donnerstag im Monat von 19:30 Uhr - 21:30 Uhr im Gemeindehaus der Mauitius-Kirche Betzingen, Steinachstrasse 4,
epilepsie.rt(at)googlemail.com
www.epilepsie-reutlingen.jimdo.com


1)Anmerkung der Redaktion:

1 Tablette Antisacercompositum enthielt:
400 mg Kaliumbromid
100 mg Phenytoin
25 mg Phenobarbital
12,5 mg Koffein
0,25 mg Atropinsulfat

Hersteller: FirmaWander (heute Novartis)