Was Liebe ist
Ein Roman von Ulrich Woelk
Roland Ziegler, 36 Jahre, erfolgreicher Jurist und Mitinhaber eines Familienunternehmens, das seit den Dreißigerjahren existiert, kommt 1999 nach Berlin, um an einer Besprechung zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter im Kanzleramt teilzunehmen. In Berlin lernt er die Jazzsängerin Zoe kennen, die so ganz anders als der kontrollierte, beherrschte, rationale Roland ist - eine Künstlerin, impulsiv und extrovertiert. Eine Gemeinsamkeit ist die Liebe zur Jazzmusik, Roland ist ein guter Musiker, auch wenn er damit nicht seinen Lebensunterhalt bestreitet. Spontan begleitet Zoe Roland nach Amsterdam, wo er unter anderem seine Tante besuchen will. Es wird die Geschichte einer Amour fou, einer leidenschaftlichen, verrückten Liebe, die zum Schluss eine gänzlich überraschende Wendung nimmt.
Die Interaktion der beiden Hauptfiguren ist verwoben mit der Vergangenheit von Zieglers Unternehmen, das im Dritten Reich Zwangsarbeiter beschäftigt hat, eine Vergangenheit, die im Rahmen der Diskussion über die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter im Hier und Jetzt wieder Bedeutung erlangt. In diesem Zusammenhang gibt es längst vergangene Ereignisse in der Familiengeschichte, die bis in die heutige Zeit nachwirken, die aber - in stillschweigender Übereinstimmung - von der Familie totgeschwiegen werden. Auch wenn sich diese Begebenheiten weit vor Zieglers Geburt ereigneten, so hatten und haben sie entscheidenden Einfluss auf sein Leben und seine Beziehung zu Zoe.
Soweit gibt es keinen Grund, diesen Roman in einer Zeitschrift der Epilepsie-Selbsthilfe vorzustellen. Aber - der Protagonist, dieser angesehene Geschäftsmann, hat ein Handicap: Epilepsie. Seit seinem 16. Lebensjahr begleitet ihn die Erkrankung, die letzten zehn Jahre ist er unter Medikamenten anfallsfrei. Woelk schildert in seinem Roman detailliert die Alltagsprobleme seines Helden, so, wie sie auch andere Epilepsie-Patienten haben könnten. Z. B. hat Ziegler bei seiner Reise nach Amsterdam nicht ausreichend Tabletten dabei. Hin und wieder beschleicht ihn das Gefühl, gleich kommt ein Anfall und dann passiert doch nichts. Oder er sorgt sich, dass Zoe merken könnte, dass er Epilepsie hat und was sie dann von ihm denken würde.
Aufgrund der minutiösen Schilderungen epilepsietypischer Situationen haben wir uns mit dem Autor unterhalten, um herauszufinden, was ihn dazu bewegt hat, seine Hauptfigur ausgerechnet mit Epilepsie auszustatten.
Woelks erste Begegnung mit dieser Krankheit fand in der Schule statt, in der zweiten oder dritten Klasse, als ein Klassenkamerad einen Grand mal-Anfall im Unterricht bekam. Dieser Vorfall hat ihn sehr beeindruckt und auch später noch beschäftigt. Ein anderer Berührungspunkt ergab sich über seine Patentante, die im Epilepsiezentrum in Zürich als Ärztin arbeitete. Mit ihr hat er sich als Jugendlicher ausführlich über die Funktion des Gehirns und angrenzende Themen unterhalten. Bei der Recherche zu diesem Buch stieß er auf die Gesetze zur so genannten Rassenhygiene, nach denen Epilepsiekranke, genau wie z. B. Schizophrene, manisch Depressive, Chorea Huntington-Betroffene oder andere Menschen mit vermeintlich vererbbaren Behinderungen, zwangssterilisiert werden konnten.
Nachdem die Idee einer Hauptfigur mit Epilepsie Gestalt angenommen hatte, begann Woelk, der als Astrophysiker natürlich an eine wissenschaftliche Herangehensweise gewöhnt ist, sich über Epilepsie zu informieren. Dazu benutzte er die einschlägige Fachliteratur und vor allem Internetforen. Mit Betroffenen persönlich hat er sich nicht unterhalten, da er sich durch diese Recherchen gut informiert fühlte.
Im Austausch mit Schriftsteller-Kollegen wurde ihm bewusst, dass Epilepsie für viele noch ein ausgesprochen exotisches Thema, eine Art Randerscheinung, ist. Vielen war auch nicht klar, dass es sie jederzeit selbst treffen könnte, ohne dass eine Hirnverletzung oder eine familiäre Belastung vorliegt. Das Thema Epilepsie erlebte Woelk in diesen Gesprächen nicht als so präsent, wie es seiner Häufigkeit entsprechen würde.
Bewusst hat er seinen Protagonisten als erfolgreichen Geschäftsmann dargestellt, der nicht am Rande der Gesellschaft steht. Der aber, wie viele Betroffene, genau überlegt, wen er über seine Krankheit informiert. Auch wenn für Woelk beim Schreiben vor allem der Spannungsbogen und die Geschichte im Vordergrund steht, versucht er gleichzeitig Informationen über Epilepsie zu vermitteln. Er gibt zu, dass das keine einfach Gratwanderung für ihn und den Lektor war.
Epilepsieerfahrene Leser werden sicher den einen oder anderen Fehler entdecken, z. B. bei der Medikation der Hauptfigur. Der junge Ziegler bekommt in diesem Roman Präparate, die zu dieser Zeit noch gar nicht zugelassen waren. Aber ehrlich gesagt, es gibt Schlimmeres, oder?
Susanne Fey
Wuppertal