Epilepsie und Autismus

Autismus und geistige Behinderung gehören zu den häufigsten Begleiterkrankungen bei schwer behandelbaren Epilepsien. Kinder und Jugendliche, bei denen Autismus, Epilepsie und geistige Behinderung zusammentreffen, benötigen wegen ihrer umfassenden psychosozialen Beeinträchtigung eine interdisziplinäre Behandlung und Betreuung unter anderem durch Neuropädiater und Kinder- und Jugendpsychiater. Wenn alle drei Störungsbilder gemeinsam auftreten, hat die Beeinträchtigung des Intelligenzniveaus eine besondere Bedeutung. Thema dieses Beitrags ist es, die Charakteristika der Ursachen, Anfallsformen und -herde, der psychiatrischen Begleiterkrankungen und die Besonderheiten der interdisziplinären Behandlung zu verdeutlichen.

Ebenso wie die Epilepsie fachgerecht klassifiziert werden soll, muss auch das Vorliegen eines Autismus zunächst diagnostisch gesichert werden. Mit Verfahren wie dem ADI-R (Autism Diagnostic Interview), ADOS-G (Autism Diagnostic Observation Schedule) und ergänzend dem MBAS (Marburger Skala Asperger Syndrom) und SEAS-M (Skala für Autismus-Störungen bei geistig Behinderten) ist es möglich, die autistischen Kernsymptome der qualitativen Störung der Interaktion, des eingeschränkten Verhaltensrepertoires und der qualitativen Störung der Sprache und Kommunikation mit einem Beginn vor dem dritten Lebensjahr zu sichern. Aus dem Blickwinkel des Autismus ist die überdurchschnittlich große Häufigkeit begleitender Störungen bereits bekannt. Die häufigsten Begleiterkrankungen sind Epilepsien in bis zu 15-20 % der Fälle und geistige Behinderung in mindestens 60 % der Fälle. Eine wichtige Beeinträchtigung im Alltag stellt das gehäufte Auftreten von Autoaggressivität, massiver Unruhe, Affektlabilität und Schlafstörungen in gut 10 % der Fälle dar.

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Mit Begleiterkrankung ist hier im weiteren Sinne nicht nur die Assoziation des Autismus mit den übrigen diagnostisch abgegrenzten Störungsbildern gemeint. Gemeint ist vielmehr auch, dass sich die Störungsbilder in ihrer Symptomatik teils deutlich überschneiden können. Dadurch ist beispielsweise die Abgrenzung zwischen schwerster Sprachstörung, schwerer geistiger Behinderung und Autismus erschwert. Für die denkbare Hypothese, dass die enge Assoziation und symptomatische Gemeinsamkeit Ausdruck einer gemeinsamen Ursache ist, gibt es bisher keine Beweise. Alle drei Störungsbilder Epilepsie, Autismus und geistige Behinderung finden sich aber gehäuft bei Schädigungen fronto-temporaler Hirnregionen.

Anhand von Daten aus der Heckscher-Klinik München und dem Behandlungszentrum Vogtareuth von 2008 können die Besonderheiten der Epilepsie, Begleiterkrankungen und Behandlung von Kindern mit Autismus, Epilepsie und geistiger Behinderung dargestellt werden. Das Kollektiv umfasst alle Kinder mit diesen drei Erkrankungen aus einer Gruppe von 477 Kindern, die über 11 Jahre von der Heckscher-Klinik ambulant, stationär oder konsiliarisch in Vogtareuth wegen eines Autismus behandelt wurden. Diese 477 Kinder mit Autismus teilen sich auf in 305 Kinder mit geistiger Behinderung (= 64 %) und 74 Kinder mit Autismus und Epilepsie (= 15,5 %). Von den 74 Kindern mit Autismus und Epilepsie sind 60 Kinder (= 81 % von 74) auch geistig behindert. Diese 60 Kinder sind im Vergleich zu den Kindern ohne geistige Behinderung Gegenstand der vorgestellten Untersuchung.

Bei Vorliegen eines Autismus allein sind die drei Begabungsniveaus der Normalbegabung und Lernbehinderung mit einem IQ > 70 sowie der leichten geistigen Behinderung mit einem IQ von 50-70 und der schweren geistigen Behinderung mit einem IQ < 50 etwa zu gleichen Teilen zu finden. Die Komorbidität einer Epilepsie bedeutet, dass nur noch 1/5 der Kinder nicht geistig behindert und fast die Hälfte der Kinder schwer geistig behindert ist. Der zunehmenden Schwere der geistigen Behinderung kommt also offensichtlich eine besondere Bedeutung zu. Dies zeigt sich auch für das Alter bei Epilepsiebeginn. Besonders deutlich ist, dass ein Beginn einer Epilepsie mit Autismus im ersten Lebensjahr fast immer mit einer schweren geistigen Behinderung vergesellschaftet ist. Die 27 so betroffenen Kinder der Untersuchung sind zusätzlich dadurch häufig erheblich beeinträchtigt, dass etwa 1/3 von ihnen nicht sprechend ist und etwa ein Viertel der zugrundeliegenden Epilepsien therapieresistent sind.

Ursächlich liegen dieser schwer betroffenen Patientengruppe gehäuft kortikale Schädigungen infolge Sauerstoffmangel, Hirnblutungen, Traumata oder Tumoren sowie fokale kortikale Dysplasien und definierte Syndrome zugrunde. In ähnlicher Tendenz wie bei einem Kollektiv geistig behinderter Kinder ohne Autismus und Epilepsie sind substantielle Schädigungen umso häufiger, je niedriger das Intelligenzniveau ist.

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Die Anfallsformen wurden getrennt nach fokalen und generalisierten, die Epilepsien auch nach symptomatischen und idiopathischen fokalen und generalisierten Formen eingeordnet. Je ausgeprägter geistig behindert die von Autismus betroffenen Kinder sind, desto häufiger sind primär fokale oder multifokale Anfallsformen (wie BNS) zu beobachten. Ursache sind überwiegend symptomatisch fokale Epilepsien, da sich der Anteil idiopathisch fokaler Epilepsien gegenüber einem Kollektiv ohne Autismus wenig ändert.

Wenn zu einem erheblichen Anteil symptomatisch fokale Epilepsien bei gemeinsamem Auftreten von Epilepsie, Autismus und geistiger Behinderung zu finden sind, stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Lokalisation der epileptischen Herde. Der Anteil nur rechts lokalisierbarer Foci bleibt trotz geistiger Behinderung weitgehend gleich. Mit abnehmender Intelligenz wird aber eine Lokalisation links seltener und bihemisphärische fronto-temporaler Foci häufiger.

Das gemeinsame Auftreten von Epilepsie, Autismus und geistiger Behinderung findet sich häufiger, wenn die oben beschriebenen Charakteristika vorliegen. Die große Bedeutung aus psychiatrischer Sicht besteht darin, dass die Gruppe dieser Kinder ganz besonders schwer in ihrer psychosozialen Anpassung beeinträchtigt ist. Weitere begleitende psychiatrische Störungen (wie ADHS bei über 70 % oder Depression) und Symptome (wie Selbst- oder Fremdaggression oder Schlafstörungen bei über 50 %) findet man bei diesen Kindern besonders häufig.

Da keine Behandlungsverfahren zur Linderung des Autismus und der geistigen Behinderung zur Verfügung stehen, hat die erfolgreiche Behandlung der Epilepsie und der begleitenden Symptomatik einen besonderen Stellenwert. Die untersuchte Gruppe von Kindern beinhaltete auch sechs chirurgisch behandelte Kinder. Deren Ergebnisse unterstützen die Hypothese, die von anderen Arbeitsgruppen (z. B. aus London) bereits aufgestellt wurde, dass zwar keine Heilung aber eine Besserung der besonders beeinträchtigenden psychiatrischen Symptome eventuell möglich ist. Das Outcome bezüglich der Epilepsie war aber mit nur 52 % Anfallsfreiheit schlechter als bei Kollektiven ohne Autismus und geistige Behinderung.

Auch für die Wahl des Antiepileptikums können wir Aussagen nur zu Einzelfällen machen. Insgesamt 14 mal ist eine Veränderung psychiatrischer Symptome infolge von Medikationsänderungen beschrieben. Auffällig ist die mit insgesamt 5 Fällen relativ häufige Nennung von Levetiracetam in Zusammenhang mit einer Verbesserung von Sprache, Kontakt und Aggressivität und die relativ häufige Nennung von Topiramat in Zusammenhang mit einer Verschlechterung der Komorbidität – dies ist aber nicht repräsentativ, da auch gegenteilige Effekte gut bekannt sind. Mit 9 von 14 Fällen überwiegen Angaben zu einer Besserung der psychiatrischen Symptomatik nach Optimierung der antiepileptischen Therapie. Die praktische Bedeutung in der Versorgung im Alltag hat sich für uns darin gezeigt, dass bei etwa 10-15 % der gemeinsam behandelten Fälle die Konsultation des Psychiaters eine Änderung der Medikation und damit teils auch Besserung der psychiatrischen Symptome nach sich zog.

Neben den Antiepileptika werden bei den schwer beeinträchtigten, in ihrem Verhalten häufig sehr auffälligen Kindern darüber hinaus nicht selten zusätzlich Methylphenidat und Neuroleptika eingesetzt. Ebenso wichtig ist aber auch die Optimierung der Versorgung durch adäquate Kommunikationsförderung, Vermeidung von Überforderung bei der Wahl des Förderortes und die Reduktion von Stressoren in den versorgenden heilpädagogischen Gruppen.

Die Ergebnisse der eigenen Untersuchungen lassen sich wie folgt zusammenfassen. Epilepsie, Autismus und geistige Behinderung zeigen eine enge Assoziation. Das zusätzliche Auftreten eines Autismus bei Epilepsien bedeutet, dass auch eine schwere geistige Behinderung deutlich häufiger zu erwarten ist.

Die geistige Behinderung ist besonders häufig bei einem Epilepsiebeginn in einem Alter unter einem Jahr zu finden. In diesen Fällen handelt es sich deutlich häufiger als sonst im Kindesalter um fokale und multifokale Epilepsien und Syndrome. Bei ihnen ist häufig eine substantielle kortikale Schädigung oder kortikale Dysplasie nachweisbar. Die epileptischen Foci sind gehäuft bihemisphärisch und rechts hemisphärisch, sowie frontal und temporal zu finden.

Die Klinik Hochried im oberbayerischen Murnau bietet seit 2012 auch ein stationäres Angebot mit einer kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung an.

In welchem Umfang die Lokalisation epileptischer Foci rechts temporal bei Kindern mit Epilepsie und Autismus immer häufiger zu finden ist als andere Lokalisationen im Vergleich zu anderen Kollektiven epilepsiekranker Kinder, wird andernorts kontrovers diskutiert. Die Hypothese, dass früh beginnende temporale Epilepsien und der Autismus eine gemeinsame Ätiologie haben, ist ebenfalls noch umstritten. Die Assoziation der beiden Störungsbilder bei dieser Gruppe von Kindern, die darüber hinaus überwiegend geistig behindert sind, ist unbestritten. Sie könnte aber auch dadurch erklärt werden, dass Autismus und geistige Behinderung die Folge der nicht suffizient behandelbaren epileptischen Enzephalopathie sind.

Nicht nur die Entwicklung der autistischen Störung beeinträchtigt die psychosoziale Entwicklung. Gerade die ausgeprägte psychiatrische Begleitsymptomatik mit Fremdaggressivität, Autoaggressivität, extremer Unruhe, Schlafstörungen und emotionalen Störungen macht die alltägliche Versorgung der Kinder so schwierig.

Deshalb benötigen diese Kinder eine interdisziplinäre Behandlung. Der Einsatz von Antiepileptika, Psychopharmaka, epilepsietherapeutischer Optionen wie Chirurgie und Vagus-Nerv-Stimulation, sowie pädagogisch-therapeutischer Hilfen muss gut koordiniert und miteinander abgesprochen werden.

Man kann somit die Ergebnisse und die Diskussion zusammenfassen:

  • Autismus und geistige Behinderung verändern das Erkrankungsspektrum und die Behandlungsziele früh beginnender (schwer behandelbarer) Epilepsien.
  • Das Risiko der Entwicklung und die Häufigkeit psychiatrischer Symptome sind ein wichtiger Aspekt der Epilepsiebehandlung.
  • Differenzierte interdisziplinäre Diagnostik von Epilepsie, psychiatrischem Syndrom und Intelligenzniveau ist notwendig und möglich durch Kooperation von Kompetenzzentren.
  • Die Ergebnisse sind valide. Denn das untersuchte Kollektiv ist groß und repräsentativ; die Ergebnisse entsprechen den Daten großer Populationsstudien.



Dr. med. Stephan Springer, Chefarzt der Klinik Hochried


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Zentrum für Kinder, Jugendliche und Familien
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