Mutationen im Gen SCN2A
– eine Übersicht
Erkrankungen mit vielen verschiedenen Gesichtern
Genetische Veränderungen (Mutationen) des Gens SCN2A sind seltene, aber sehr relevante Ursachen für verschiedene neurologische Erkrankungen des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters. Das Spektrum der verursachten Krankheitsbilder und Symptome ist sehr breit und umfasst Epilepsien unterschiedlicher Ausprägung mit variablem Krankheitsbeginn und Verlauf, Bewegungsstörungen, Autismus-Spektrum-Störungen, autonome Dysfunktionen, gastro-intestinale Beschwerden, Schlafstörungen und einiges mehr. Häufig gehen diese Krankheitsbilder mit einer psychomotorischen Entwicklungsstörung einher. Die Versorgung und Behandlung von betroffenen Patienten sind anspruchsvoll und komplex. Patienten und ihre Angehörige sollten daher von einem interdisziplinären Team betreut werden bestehend u. a. aus Ärzten, Psychologen, Sozialpädagogen und (Physio-)Therapeuten. Fortschritte in der Forschung der letzten Jahre haben zu einem besseren Verständnis der zugrundeliegenden Mechanismen dieser Erkrankungen geführt. Im Folgenden soll erläutert werden, wie diese Erkenntnisse auch zu einer verbesserten Therapie und Versorgung der erkrankten Menschen beitragen können.
Das Gen SCN2A kodiert für einen Natriumkanal, der sich Nav1.2 nennt. Dieser Kanal sorgt für den Einstrom von Natriumionen in die Nervenzellen und ist im Gehirn an der Entstehung und Weiterleitung von elektrischen Signalen (sog. Aktionspotentialen) beteiligt. Ist die Funktion dieser Kanäle durch genetische Veränderungen gestört, wird die Funktion des Gehirns beeinträchtigt, was u. a. zu epileptischen Anfällen führen kann. Die Mutationen sind bei den schwerer betroffenen Patienten meist neu entstanden (sogenannte de novo Mutationen/Varianten), d. h., dass zumindest im Blut der Eltern des Patienten die genetische Veränderung nicht nachgewiesen werden kann.
Bei der sogenannten selbst-limitierenden familiären neonatal-infantilen Epilepsie, bei der die epileptischen Anfälle in der Regel in den ersten Lebenswochen und -monaten beginnen und meist innerhalb der ersten zwei Lebensjahre spontan enden, können die Genveränderungen aber auch vererbt sein. Typischerweise geht diese ehemals als benigne (= gutartige) Form bezeichnete Epilepsie mit einer normalen geistigen Entwicklung einher, eine dauerhafte Behandlung von epileptischen Anfällen (= anfallssuppressive Therapie) über das Kleinkindalter hinaus ist hier in aller Regel nicht erforderlich.
Liegt eine schwer zu therapierende Epilepsie mit Entwicklungsstörung vor, spricht man von einer entwicklungsbedingten und epileptischen Enzephalopathie (Developmental and Epileptic Encephalopathy, DEE). Je nach Krankheitsbeginn unterscheidet man dabei im Zusammenhang mit SCN2A die Verläufe, bei der die Anfälle innerhalb der ersten drei Lebensmonate (meist in den ersten Lebenstagen und -wochen) beginnen (= neonatale und frühe infantile DEE) von solchen mit einem späteren Anfallsbeginn nach dem dritten Lebensmonat.
Die beobachteten epileptischen Anfälle können in ihrem Erscheinungsbild und Ablauf sehr stark variieren. Zum Teil gelingt basierend auf der Anfallsform, den EEG-Befunden und dem klinischen Verlauf die Zuordnung zu einem bestimmten Epilepsie-Syndrom. In den letzten Jahren wurden Mutationen im Gen SCN2A zunehmend auch mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) in Verbindung gebracht, SCN2A gilt als eine der häufigsten monogenetischen Ursachen der ASS. Auch bei dieser Patientengruppe können epileptische Anfälle vorkommen, die dann in der Regel erst in einem Alter von mehreren Monaten bis Jahren auftreten.
Mutationen im SCN2A-Gen beeinflussen die Funktion des Natriumkanals Nav1.2. Je nachdem, wo sich die Mutation befindet, kann es zu einem verstärkten (Gain-of-Function, GoF) oder verminderten (Loss-of-Function, LoF) Einstrom von Natriumionen kommen. Diese Unterscheidung ist sehr wichtig, da von der korrekten Zuordnung die Wahl der anfallssuppressiven Medikamente und therapeutischen Strategie abhängt. Überfunktionen (GoF) gehen dabei mit einem früheren Krankheitsbeginn einher, während Unterfunktionen (LoF) mit einem späteren Krankheitsbeginn assoziiert sind. Inzwischen ist aber auch bekannt, dass diese Darstellung leider zu sehr vereinfacht ist und es auch Mischformen gibt, bei denen die genetische Variante in SCN2A unterschiedliche Effekte (GoF + LoF) auf den Natriumkanal Nav1.2 hat. Zur Komplexität trägt auch bei, dass die exakt gleiche Variante in SCN2A zu sehr unterschiedlichen klinischen Ausprägungen bei verschiedenen Patienten führen kann. Die Hintergründe hierfür sind bisher nicht ausreichend verstanden.
Die Betreuung von SCN2A-Patienten erfordert die Zusammenarbeit in einem interdisziplinären Team aus verschiedenen Fachrichtungen, um eine bestmögliche Behandlung zu gewährleisten. Dabei muss von Patient zu Patient individuell gemeinsam mit den Betroffenen und den Angehörigen besprochen werden, was die Ziele der Behandlung sind – dies kann die Behandlung der Epilepsie sein, betrifft aber mindestens genauso häufig die Verbesserung einer ggf. bestehenden Entwicklungsstörung mit entsprechender Verbesserung der Lebensqualität und Teilhabe. Häufige Komorbiditäten wie Entwicklungs- und Bewegungsstörungen erfordern entsprechende individuelle Fördermaßnahmen, z. B. Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie. Hier sollte die Förderung möglichst frühzeitig ansetzen.
Bei einer Überfunktion des Natriumkanals durch eine GoF-Mutation können sogenannte Natriumkanal-Blocker zur Behandlung der Epilepsie eingesetzt werden, die die Überfunktion des Kanals abmildern und den Einstrom von Natriumionen begrenzen sollen. Liegt eine Unterfunktion des Natriumkanals vor, dürfen Natriumkanalblocker i. d. R. nicht zum Einsatz kommen, da deren Einsatz sogar zu einer Zunahme der Anfälle führen kann. Auch dies ist jedoch eine individuelle Entscheidung aufgrund der oben beschriebenen Komplexität zwischen GoF- und LoF-Varianten.
Um die Betreuung und Behandlung von Menschen mit SCN2A-assoziierten Erkrankungen weiter zu verbessern, sind zwingend weitere systematische Untersuchungen erforderlich mit dem Ziel, die verschiedenen Krankheitsbilder (Phänotypen) besser zu verstehen und dann auch besser behandeln zu können. Idealerweise erlauben Erkenntnisse solcher Studien zukünftig zuverlässige und frühzeitige Vorhersagen (= Prognosen) über den weiteren Krankheitsverlauf eines individuellen Patienten. Das Verständnis des natürlichen Krankheitsverlaufs der Erkrankungen ist auch essenziell für die Planung von klinischen Therapie-Studien, die voller Hoffnung erwartet werden und von denen eine erste kürzlich initiiert wurde (Prax-562). Aufgrund der Seltenheit der Erkrankungen und der kleinen Fallzahlen ist eine Zusammenarbeit zwischen Betroffenen und deren Vertretern sowie Ärzten und Wissenschaftlern unverzichtbar.
Wir leiten am Universitätsklinikum Bonn gemeinsam mit Kollegen in Melbourne/Australien eine internationale Studie zum natürlichen Krankheitsverlauf bei SCN2A-assoziierten Erkrankungen (Natural History Study). Unsere Arbeitsgruppe befasst sich mit zahlreichen, für Betroffene und deren Familien relevanten Fragen und hofft, die Behandlung der Patienten auch im Rahmen von zukünftigen klinischen Studien erheblich verbessern zu können. Hierbei arbeiten wir sehr eng und vertrauensvoll mit dem Familienverein SCN2A Germany e. V. (www.scn2a.de) zusammen. Neben jährlichen Familientagungen bei uns in Bonn veranstalten wir alle 2 Jahre internationale Tagungen (im Wechsel in Dänemark und in Bonn).
Für Rückfragen stehen wir ebenso wie der Familienverein jederzeit sehr gerne zur Verfügung.
Dr. Daniel Fritzen &
Priv.-Doz. Dr. Walid Fazeli
Kontakt:
Universitätsklinikum Bonn
Klinik für Neuropädiatrie und SPZ
SCN2A-Kinderneurologie(at)ukbonn.de