Der (etwas?) andere Alltag von Müttern besonderer Kinder

Letzter Teil: Chancen der persönlichen Entwicklung

Jede Veränderung im Leben ist mit neuen Erfahrungen und einem Lernprozeß verbunden. Gleichzeitig natürlich auch oft mit Gefühlen wie Angst, Unsicherheit, Hilflosigkeit aber auch Hoffnung, Mut und Zuversicht.

Schmerzliche Erfahrungen
Da die Erlebnisse und Emotionen im Zusammenleben mit dem besonderen Kind meist einen recht intensiven Charakter aufweisen, werden die Veränderungen und Entwicklungen der Mütter meist auch in Verbindung mit schmerzlichen Erfahrungen durchlebt. Sowohl die Emotionen als auch die Veränderungen sind keine oberflächlichen. Vielmehr gehen sie oft "tief hinein" und können grundlegend neue Persönlichkeitsmerkmale entwickeln helfen und/oder offenlegen.

Veränderung durch Erfahrung
Etwas Grundlegendes, das mir alle Mütter mitteilten, ist die "Verlagerung der Wertvorstellungen in andere Bereiche" (Miller 1997, 55). "Sie bemerken eine positive Verschiebung in den Werten und den Beziehungen zu anderen Menschen, nachdem Sie Ihre Prioritäten neu setzen mußten." (Miller, 124).

Viele Mütter haben gelernt, geduldiger, ruhiger, ausdauernder und gelassener zu sein.

Manche lernen nach Außen hin stärker für die Rechte und das Wohlbefinden ihres Kindes aufzutreten und sich auch kämpferisch für das Wohlergehen ihres Kindes einzusetzen. Dabei entwickeln sie durchaus auch eine gewisse Hartnäckigkeit.

Im Laufe der Jahre haben sie gelernt, von einer Autoritätshörigkeit gegenüber Fachleuten abzukommen und kritisch und kompetent deren Aussagen zu reflektieren.

Trotz vieler Krisen kommen die meisten immer wieder in Situationen, in denen sie sich mit ihren Lebensbedingungen aussöhnen.

Viele Mütter besonderer Kinder haben gelernt, ihre schweren Gefühle zu durchleben und zu erleben und dabei eine gewisse Gelassenheit zu entwickeln. Die eigenen emotionalen Erfahrungen wie z.B. Neid müssen verarbeitet werden, damit sie sich nicht intensivieren und die Mütter sich ganz aus dem Sozialgefüge ausschließen.

Offenheit und Flexibilität
Durch ihre besondere Situation sind sie offener für neue Ideen geworden.

Trotz vieler Krisen (oder gerade deshalb) wenden einige positives Denken an. Manche wenden sich theologischen, anthroposophischen oder esotherischen Denkansätzen zu und hinterfragen ihr So-Sein, (teilweise ohne es zu beklagen).

"Die Bemühung und der Versuch, den guten, wesentlichen Kern eines jeden Menschen zu suchen und lieben zu lernen", und daß "erst die Vielfalt und Andersartigkeit von Natur und Mensch das Leben so reich und lebenswert" (Schulz 1999, 20) macht, wird als Bereicherung empfunden.

Genügsamkeit und Bescheidenheit sind neue Erfahrungen. Es geht nicht mehr um die Erfüllung großer Wünsche, sondern um das Erreichen, Erleben und Durchleben kleiner beglückender Ziele. Nichts wird mehr als selbstverständlich hingenommen.

Die Mutter eines besonderen Kindes lernt zu dienen. Dies ist eine besondere Fähigkeit, die trotz der Liebe zum Kind viel Selbstlosigkeit und Stärke erfordert. Die Erkenntnis, daß "Energie und Kraft nicht ewig reichen" (Schulz, 20) muß ausgehalten werden und erfordert oft Umdenken und neue Organisation.

Der Erwerb neuer Kompetenzen und Fähigkeiten, neuer Einsichten und Erfahrungen, neuer Stärken und Talente kann als Bereicherung für das eigene Leben erfahren werden.

Soziale Kompetenzen

Es entwickelt sich auch ein allgemeines Feingefühl für Ungerechtigkeiten (und zwar nicht nur auf die eigene Situation bezogen). "Wir sind sensibel geworden für die vielfältigen Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft und stark, uns für Verbesserungen ihrer Situation zu engagieren." (Seifert 1997, 248).

Trotz eigener Intensiv-Belastung können sie auch anderen Menschen durch ihre Erfahrung helfen. Solidarität wird bewußter wahrgenommen und gelebt. Manche Mutter ist "Meister im Zeitmanagement" (Miller 1997, 78.) Die Augenblicke der Freude und der Entspannung gewinnen eine besondere Bedeutung; da sie nicht selbstverständlich sind, werden sie so wertvoll.

Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst

Der wohl größte und schwierigste Prozeß - wie sich aus den Gesprächen ergab - ist, dass die Mütter besonderer Kinder lernen müssen für sich selber zu sorgen.

"Die stärkere Bezogenheit auf Beziehungen, auf das Zwischenmenschliche, kann ein Leitmotiv in die Frauenbiographie bringen, das Beschränkung oder Bescheidung heißt - allerdings auch Selbstverleugnung, und dann kommt etwas Ungesundes auf. ... Sie lebt oft mehr im anderen als in sich" (Wais 1993, 248). "Individualisierende Schritte" sind erforderlich.

Das Gebot "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" bedeutet für viele Mütter erst einmal sich selber lieben zu lernen und sich selber wichtig zu nehmen. Aus der Selbstverleugnung und Opferhaltung gilt es herauszukommen und zu sich selber zu stehen. Dies beinhaltet auch ehrliche Selbsterkenntnis, Grenzen zu setzen, zu lernen für sich selber zu sorgen und die Schuldgefühle auszuhalten.

Abschlußbetrachtung

Bild: Mütter; schulungWenn ich in Gedanken die Gespräche und den Schriftverkehr mit den betroffenen Müttern durchgehe, bleibt eine Hochachtung vor der Stärke dieser Frauen. Fast jede versuchte auf ihre Art die tatsächlichen und emotionalen Belastungen "in den Griff" zu bekommen.

Kobi (1999, 23) stellt die Frage: "Was machen, wenn nichts mehr zu machen ist?"

Vor dieser Frage stehen Mütter besonderer Kinder immer wieder. Liebe und Vertrauen, Hoffnung und Mut sind Stärken und Eigenschaften, die diese Mütter benötigen und vielfältig leben. Auch wenn diese Stärken nicht konstant bestehen bleiben und gerade in Krisenzeiten in "Vergessenheit geraten", so tauchen sie doch auch immer wieder auf.

Zur Literatur:

Kobi, E. E. (1999): Geistigbehindertenpädagogik: Vom pädagogischen Umgang mit Unveränderbarkeit; In: Geistige Behinderung 1/99; 21-29
Miller, N. B. (1997): Mein Kind ist fast ganz normal; Stuttgart 1997
Schulz, D. (1999): Besondere Wege / Welche Bedeutung haben Kinder mit Behinderung für die Biographie ihrer Eltern?; Stuttgart 1. Auflage 1999
Seifert, Monika (1997): Was bedeutet ein geistig behindertes Kind für die Familie? In: Geistige Behinderung 3/97, 237-250
Wais, M. (1993): Biographie-Arbeit, Lebensberatung, Stuttgart, 2. Auflage 1993

Dorothea Wolf-Stiegemeyer, Melle