Gestuftes Versorgungssystem

für erwachsene Epilepsiepatienten
vom Hausarzt bis zum Epilepsiezentrum

Schon 1989 ist in den "Standards zur Epilepsiebehandlung" von der Deutschen Sektion der In- ternationalen Liga gegen Epilepsie gefordert worden, "dass jeder Patient, der weiter Anfälle behält, als Problemfall zu gelten hat, für den der behandelnde Arzt den Rat eines Kollegen mit speziellerer Erfahrung in der Anfallsbehandlung suchen sollte".

Wie sieht dazu die Praxis heute aus? Im ambulanten Bereich können Patienten vom Hausarzt zum Nervenarzt oder Neurologen überwiesen werden, bei letzteren haben manche das Zertifikat "Epileptologie" der Liga gegen Epilepsie erworben, das eine besondere Ausbildung in epilepsiespezifischen Fragen voraussetzt und alle 2 Jahre neu erworben werden muss. Bei schwierigeren Problemen können auch eine epileptologische Schwerpunktpraxis oder eine Epilepsieambulanz eingeschaltet werden. Diese müssen spezielle Voraussetzungen in Ausbildung, Organisation und Einrichtung vorweisen, die ebenfalls über die Liga gegen Epilepsie zertifiziert und alle drei Jahre neu beantragt werden müssen. (Die Zertifizierung von Epilepsieambulanzen ist schon seit vielen Jahren, die von Schwerpunktpraxen erst seit September 2002 möglich. Sie sind auf der Webpage der Liga unter www.ligaepilepsie.de aufgelistet).

Im stationären Bereich übernehmen die Allgemeinkrankenhäuser oft die Erstversorgung bei generalisierten tonisch-klonischen Anfällen, neben den neurologischen Kliniken gibt es - auch in Baden-Württemberg - Kliniken mit dem Schwerpunkt Epilepsie (z. T. auch als Tages- oder Rehaklinik) und schließlich Epilepsiezentren.

Grafik: Gestuftes VersorgungssystemIn den Epilepsieberichten 1996 für Baden-Württemberg (1) und 1998 für Deutschland (2) wurde bemängelt, dass

  • das gestufte Versorgungssystem bei Patienten und Ärzten zu wenig bekannt ist,
  • dadurch eine optimale Therapie für die Patienten nicht erreicht wird,
  • eine Unterversorgung mit Epilepsieambulanzen vor allem im Bereich der Erwachsenen besteht,
  • Schwerpunktpraxen damals überhaupt noch nicht existierten und
  • eine adäquate Diagnostik und Therapie im ambulanten Bereich nicht finanzierbar ist.


In der 1996 abgeschlossenen EPIDEG-Studie (3) (Epidemiology of Epilepsies in Germany) wurde festgestellt, dass Hausärzte im Durchschnitt fünf, Neurologen und Nervenärzte 50 Epilepsiepatienten im Quartal behandeln. Die Hausärzte überweisen ca. 60% der Patienten auch zum Neurologen, die Neurologen und Nervenärzte aber nur 4% in Epilepsieambulanzen (damals existierten noch keine Schwerpunktpraxen). Insgesamt waren aber nur 44% der Epilepsiekranken seit mehr als 1 Jahr anfallsfrei - es müssten eigentlich deutlich mehr sein.

Ich möchte an drei Beispielen aufzeigen, wie das gestufte Versorgungssystem optimal genutzt werden könnte.

Bei einem ersten generalisierten tonisch-klonischen Anfall wird ein Patient ja in aller Regel mit dem Notarztwagen in das nächstliegende Krankenhaus gebracht, sei es nun eine Allgemein- oder eine neurologische Klinik. Dort wird die erste notwendige Diagnostik durchgeführt, aber wird der Patient und seine Angehörigen auch ausreichend und kompetent über die vielfältigen durch den Anfall entstandenen Fragen und Probleme beraten? Z. B.:

  • Was sind die Auslöser oder Ursachen des Anfalls?
  • Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem weiteren Anfall kommt?
  • Was kann ich zur Vorbeugung alles tun?
  • Welche Verbote (z. B. Schlafmangel) sind bei meiner Epilepsieform nicht sinnvoll?
  • Ist eine medikamentöse Therapie zu erwägen?
  • Wie wirkt sich der Anfall auf Schule und Beruf aus?
  • Wie lange darf ich nicht Auto fahren?
  • Spielt ein Erbfaktor eine Rolle?
  • Welche Sportarten darf ich betreiben?
  • Mit welchen Gefahren muss ich bei einem weiteren Anfall rechnen?
  • Mit welchen privaten Versicherungen bekomme ich Schwierigkeiten beim Abschluss?
  • Wie gehe ich mit meiner Angst und Scham um, wenn ein neuer Anfall droht?
  • Welche Stellen und Broschüren/Bücher gibt es, mit denen ich mich weiter informieren kann?
  • Wer bietet in meiner Nähe ein Epilepsieschulungsseminar (z. B. MOSES (4) ) an?


Dies sind zwar viele Fragen, die nach einem ersten Anfall beantwortet werden müssen, aber die Liste ist keineswegs vollständig, und es ist kaum möglich, alle im Rahmen eines kurzen Akutaufenthaltes in einer Klinik nach Notaufnahme anzusprechen. Oft ist der Patient in dieser Situation auch gar nicht in der Lage, alles klar aufzunehmen und zu verstehen.

Grafik: Erster Grand mal-AnfallSo wird sie oder er oft nach einem oder wenigen Tagen entlassen, wenn sich keine schwerwiegende Gehirnerkrankung gefunden hat, mit dem gutgemeinten Ratschlag, den Hausarzt oder einen Neurologen für die weitere Beratung aufzusuchen.

Meine Erfahrung ist, dass gerade zu diesem Zeitpunkt ganz wesentliche Weichen für den richtigen Umgang und eine optimale Behandlung gestellt werden. Wäre es da nicht doch sinnvoll, einen Spezialisten, z. B. eine epileptologische Schwerpunktpraxis oder Epilepsieambulanz einzuschalten?

Grafik AnfallsfreiEine Zusammenarbeit zwischen Hausarzt, Neurologen und Schwerpunktpraxis/Epilepsie-Ambulanz ist ja doch jederzeit möglich und wünschenswert. Wenn dann der weitere Verlauf unkompliziert verläuft, der Patient anfallsfrei bleibt und keine spezielleren Fragen mehr auftauchen, ist natürlich die Behandlung beim Hausarzt und/oder Neurologen/Nervenarzt völlig ausreichend.

Vielleicht ergibt sich noch einmal später eine besondere Situation (z. B. die Planung einer Schwangerschaft), die eine einmalige Vorstellung in Schwerpunktpraxis oder Epilepsieambulanz erforderlich macht. Bei dieser könnte dann ggf. auch auf das Europäische Schwangerschaftsregister EURAP (5) aufmerksam gemacht werden, das versucht, möglichst viele Schwangerschaften prospektiv (vorausschauend) zu untersuchen, bei denen die Mutter ein antiepileptisches Medikament einnimmt.

Viel schwieriger wird die Situation natürlich, wenn weitere Anfälle auftreten, das erste oder zweite eingesetzte Medikament nicht wirken und sich eine Therapieresistenz entwickelt, wie das leider bei etwa jedem dritten Patienten mit Epilepsie langfristig der Fall ist. Dann stellen sich ganz andere Fragen:

  • Stimmt die Diagnose Epilepsie überhaupt?
  • Ist das richtige Medikament für die Art der Epilepsie gewählt worden?
  • Ist eine Kombinationsbehandlung mit zwei Medikamenten notwendig?
  • Welche Beeinflussungsmöglichkeiten ergeben sich mit Selbstkontrolle?
  • Kommt eine Operation am Gehirn in Frage?
  • Kann die Vagusnervstimulation sinnvoll eingesetzt werden?
  • Soll ein Schwerbehindertenausweis beantragt werden?
  • Welche Risiken bergen die Anfälle, sind bestimmte Dinge zu gefährlich?
  • Müssen am Arbeitsplatz besondere Vorsichtsmaßnahmen überlegt werden?
  • Wodurch könnte die Lebensqualität verbessert werden, auch wenn Anfallsfreiheit nicht zu erreichen ist?
  • Ist ein Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe erwünscht?
  • Könnte ein Epilepsieschulungsseminar (z. B. MOSES (4) ) eine Hilfe sein?

Grafik TherapieresistenzSelbstverständlich müssen jetzt die Topspezialisten für Epilepsieerkrankungen eingeschaltet werden und der Hausarzt wäre hier völlig überfordert.

Was macht es denn so schwierig, einen kompetenteren Arzt oder ein Zentrum einzuschalten, wenn die Behandlung nicht erfolgreich ist oder eine spezielle Beratung erfolgen müsste? Dafür gibt es sicher viele ärztliche Gründe, z. B. die Angst vor der Konkurrenz, den Patienten zu verlieren, die falsche Einschätzung der eigenen Kompetenz oder auch das fehlende "Daran-denken".

Erstaunlicher Weise machen aber auch die Epilepsiepatienten selbst oft wenig Druck, trauen sich nicht, ihren Arzt daraufhin anzusprechen, haben Angst, den vertrauten Arzt zu verlieren oder scheuen die neue und fremde Situation bei einem Spezialisten oder in einem Zentrum. Oft habe ich den Eindruck, dass sich Arzt und Patient mit der Situation arrangiert haben, sie resignieren, weil schon einiges versucht wurde; die Krankheit ist "halt chronisch" geworden, wie mir vor kurzem ein hausärztlicher Kollege darstellte.

Dabei kann es doch auch so aussehen, dass der Spezialist oder das Zentrum den Betroffenen mit einem Therapievorschlag zurückschickt, der dann vom behandelnden Hausarzt oder Neurologen weitergeführt wird, und dieser erst wieder eingeschaltet wird, wenn sich kein Erfolg einstellt. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass es bei besonders schwierigen Therapiesituationen für Patient und Arzt sehr hilfreich sein kann, einen kompetenteren Epileptologen hinzu zu ziehen, selbst wenn er auch keine gute Idee mehr hat, was therapeutisch noch versucht werden könnte. Die Therapieresistenz der Anfälle ist dann meist für Betroffene und Therapeuten wieder besser auszuhalten.

Aber es scheint auch schwierig zu sein, dass der Patient zu seinem vorher behandelnden Arzt wieder zurückkommt. Dies lässt sich manchmal sicher nicht vermeiden, wenn die "Anbindung" und das Vertrauen zu dem neuen kompetenteren Arzt oder Zentrum sich vorteilhaft entwickelt hat und mehrere Beratungen oder längerfristige Behandlungen einfach notwendig sind.

Gelegentlich haben Patienten aber auch kein Vertrauen mehr in den vorbehandelnden Arzt. Einige haben sogar Angst vor Vorwürfen und Ärger des Arztes, wenn sie ohne sein Wissen einen Spezialisten aufgesucht hatten, und fürchten dann, bei neuen Problemen keine Überweisung zu bekommen.

Eine Patentlösung für die Handhabung der Stufenbehandlung gibt es nicht. Meine Erfahrung ist aber, dass sie um so besser funktioniert, je besser die persönliche Beziehung und der Kontakt zwischen den einzelnen Ärzten und Krankenhäusern sind (der auch nicht durch PC-Vernetzung ersetzt werden kann). Klappt auch die Informationsübermittlung in beide Richtungen, so fühlen sich die Patienten nicht von einem zum anderen verschoben, sondern - wenn es gut geht - von allen gut behandelt.

Grafik Planspiele im GesundheitswesenDann ist der behandelnde Arzt auch hoffentlich nicht gekränkt, wenn der Betroffene die Zuziehung eines Spezialisten anspricht, und der Patient hat es nicht nötig, hinter dem Rücken des Arztes einen anderen zu Rate zu ziehen. Wenn keine Anfallsfreiheit besteht, sollte nicht nur gefragt werden "was können wir noch tun, um die Anfälle zu reduzieren", sondern auch "wen könnten wir noch hinzuziehen, um die Situation zu verbessern". Selbst für den Mut, bei Therapieresistenz zwei von drei Medikamenten auszuschleichen und dadurch weniger Nebenwirkungen zu haben, braucht es oft einen Spezialisten! Leider sind die Wartezeiten auf einen Termin in epileptologischen Schwerpunktpraxen, Epilepsieambulanzen, aber auch in Kliniken mit Schwerpunkt Epilepsie und in den Epilepsiezentren oft unerträglich lang, weil die Nachfrage viel höher ist als das Angebot. Eine Änderung wäre nur durch eine Verbesserung der Vergütung zu erreichen - zu befürchten ist allerdings das Gegenteil: Nach den derzeitigen Plänen unserer Regierung sollen - zur Kosteneinsparung - gerade Fachärzte und Zentren, die chronische Krankheiten besonders intensiv behandeln, eingespart oder ausgedünnt werden.

Da es hier nur um eine kleine Zahl von Einrichtungen geht, die sich kaum lautstark genug gegen ihre Schließung wehren können und keine ausreichende "Lobby" haben, werden notwendigerweise die Patienten mit für sie kämpfen müssen. Das wird derzeit mit der Kampagne "Gewitterleben" versucht. Hier wollen die Liga gegen Epilepsie (6) , das Informationszentrum Epilepsie (7) , die Bundesarbeitsgemeinschaft Epilepsie (8) und die Deutsche Epilepsievereinigung (9) gemeinsam mit den pharmazeutischen Industrieunternehmen (10) die Öffentlichkeit und die Verantwortlichen in der Regierung auf die drohende Verschlechterung der Versorgung von Epilepsiepatienten aufmerksam machen. Hoffen wir, dass sie Erfolg dabei haben!

Dr. Dieter Dennig
    
      

  1. D. Rating, W. Fröscher: Epilepsie-Bericht Baden-Württemberg mit Unterstützung der Landesärztekammer Baden-Württemberg 1996.
  2. Epilepsie-Kuratorium: Epilepsie-Bericht ´98. Verlag einfälle, 1998, Berlin.
  3. M. Pfäfflin, T. May, H. Stefan, U. Adelmeier: Epilepsiebedingte Beeinträchtigungen im täglichen Leben und in der Erwerbstätigkeit - Querschnittstudie an Patienten niedergelassener Ärzte. Neurol. Rehabil. 2000; 6 (3): 140-148
  4. Zur Information Öffnet einen externen Link in einem neuen Fensterwww.moses.epilepsy-academy.org oder MOSES-Geschäftsstelle Frau Bettina Hahn, Telefon: 0521 2700127, Fax: 0521 2704800
  5. Zuständig für EURAP in Deutschland ist Frau PD Dr. B. Schmitz Neurologische Poliklinik Charité - Campus Virchow-Klinikum, Augustenberger Platz 1, 13353 Berlin. Telefon: 030 450560022
  6. Deutsche Sektion der Internationalen Liga gegen Epilepsie, 33602 Bielefeld, Telefon: 0521 124192, Öffnet einen externen Link in einem neuen Fensterwww.ligaepilepsie.de
  7. Informationszentrum Epilepsie (IZE), Herforder Straße 5-7, 33602 Bielefeld, Telefon: 0521 124172, Öffnet einen externen Link in einem neuen Fensterwww.izepilepsie.de
  8. Bundesarbeitsgemeinschaft Epilepsie: Mittelstraße 10, 90596 Schwanstetten, Telefon: 0521 91701890, Öffnet einen externen Link in einem neuen Fensterwww.bag-epilepsie.de
  9. Deutsche Epilepsievereinigung e.V. (DE), 10585 Berlin, Telefon: 030 3424414, Öffnet einen externen Link in einem neuen Fensterwww.epilepsie.sh
  10. Cyberonics, Desitin Arzneimittel GbmH, GlaxoSmithKline, Janssen-Cilag, Novartis, Pfizer, Sanofi- Synthelabo und UCB Pharma