Epilepsie im Mittelalter

Der Zerfall des Weströmischen Reiches 467 n.Chr. bedeutete den Niedergang der medizinischen Wissenschaft im Abendland.


Bis zum 15. Jahrhundert machte die Medizin des abendländischen Mittelalters mehr Rück- als Fortschritte, das überlieferte Wissen aus der Antike ging zum großen Teil verloren.


Beherrschende Kraft war in dieser Zeit die christliche Kirche und bemächtigte sich aller geistes- und naturwissenschaftlicher Bereiche, so auch der Medizin.


Die sogenannte „Mönchmedizin“ kehrte zurück. Krankheit wurde wieder als Strafe für sündiges Verhalten gesehen, galt als Folge von Hexerei und Besessenheit. Die Macht zu heilen konnte nur bei Gott und seinen Heiligen liegen. Die Therapie bestand im Opfer, dem Gebet, der Sühne und den Teufelsaustreibungen.


Besonders die Epilepsie galt durch ihr unerklärliches, dramatisches Geschehen im Mittelalter als „dämonische Krankheit und wurde als „schedelnde Gottesstraf“ bezeichnet.


Für eine Heilung konnten folglich nur die Heiligen zuständig sein. Aus diesem Grund finden sich auch Namen wie „St. Veltins- Weh“ oder „St. Johannes- Übel“ für die Epilepsie.


Hildegard von Bingen verfasst ihr Werk Scivias; ein Mönch blickt ihr dabei zu. Miniatur aus der verschollenen Handschrift Eibingen, Abtei St. Hildegard, fol. 1r (Pergamentfaksimile), um 1165/1180Aufgeschlossene Vertreter dieser Medizinrichtung versuchten auch naturalistische Gedanken in ihre Heilungspraktiken einzubeziehen. Heilende Kräuter oder bestimmte Diäten sollten den Körper gegen Dämonen kräftigen.
Hildegard von Bingen (um 1100-1200), Äbtissin des Benediktinerinnenklosters auf dem Rupertsberg schreibt in ihrem Werk „Naturkunde“ den Steinen eine heilende Wirkung zu. Nicht nur Spinnenweben und Schlangengift, sondern auch der im Mund angefeuchtete Smaragd vermag demnach die Epilepsie zu heilen.

Im Oströmischen Reich, welches bis 1453 als Byzantinisches Reich fortbestand, brachte die byzantinisch- arabische Medizin zahlreiche Arztpersönlichkeiten wie Avicenna, Rhazes, Haly Abbas, Averroes (1126- 1198) und viele mehr hervor, die ihr Handeln vor allem nach den Erkenntnissen der Antike ausrichteten.


Hippokrates hat mit seiner Schrift „Über die heilige Krankheit“ (ca. 430-410 v.Chr.) die erste bedeutende epileptologische Monografie geschaffen.

Diese Schrift ist bemerkenswert, weil Hippokrates als erster der Epilepsie eine natürliche Ursache zuschreibt und sie weder als göttlich noch als teuflisch beurteilt. Weiterhin geht er mit  Sühnepriestern und Scharlatanen hart ins Gericht, die sich in der Behandlung von Epilepsiekranken versuchten.

 

Hippokrates, Florenz, UffizienEr erkennt zudem richtig, dass das Gehirn schuld an diesem Leiden habe. Zur Erklärung der Erkrankung nutzt er seine berühmte Säftelehre, das heißt,  das Gehirn erkrankt dann, wenn es zu viel Feuchtigkeit (Phlegma) enthält.
Außerdem könne auch die „Galle“ epileptische Anfälle auslösen, weil sie zur Erwärmung des Gehirns führe.

 

Die Behandlung der „heiligen Krankheit“ stellte er auf eine natürliche Basis. Besonders die Ernährung, die geordnete, vernünftige Lebensweise sollte zur Heilung beitragen. Schlaf, Ernährung und geistige bzw. körperliche Leistung sollten im Einklang miteinander stehen. Bis heute wird, neben der medizinischen Behandlung, Menschen mit Epilepsie nahe gelegt, eine solche Lebensweise zu führen.

 

Anknüpfend an die hippokratische Auffassung zur Epilepsie sieht auch Constantinus Africanus, der im 11. Jahrhundert seine Theorie der seelischen Störungen anhand der „Melancholia“ vorgelegt hat, die Epilepsie als somatisches Leiden an.

 

Nach seiner Vorstellung beruht die Krankheit auf einer im Gehirn kreisenden Flüssigkeit, „die die Ventrikel füllt, zwar nicht ganz, aber doch so, dass sie die Seelentätigkeit hindert, so lange bis die Natur die verstopfende Materie verteilt“.

 

Ein Arzt verordnet Patienten ein Bad. Miniatur-Initiale aus dem Werk des C. Africanus. 14. Jh. Nationalbibliothek, Paris. Constantinus Africanus schöpfte vor allem aus arabischen Quellen, zum Beispiel derer der Ärzte Rhazes und Avicenna. Seine Schrift über die Melancholie beeinflusste schon bald die Schulen von Chartres, erstreckte sich über verschiedene europäische Länder und prägte über Paracelsus hinaus die Psychiatrie bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts.

Eine der ersten bedeutenden Arztpersönlichkeiten des abendländischen Mittelalters taucht erst im Spätmittelalter mit dem 1493 geborenen Paracelsus auf. Dieser tiefgläubige Mann fühlt sich Gott und Hippokrates sehr verbunden. Für ihn bedeutete Arztsein Nächstenliebe mit aller Hingabe zu praktizieren, ohne die naturalistischen Aspekte der Medizin zu leugnen.


Er sieht den Ursprung eines epileptischen Anfalls sowohl im Ungleichgewicht der vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde als auch in einer Disharmonie der Trinität von Schwefel, Quecksilber und Salz, wie es bei einem Gewitter der Fall wäre.

 

Er brachte außerdem den Mut und die Entschlossenheit auf, unverrückbare Meinungen zur Epilepsie und anderen Krankheiten zu hinterfragen, zu bekämpfen und ihnen eigene Auffassungen entgegen zu stellen und revolutionierte so die medizinische Wissenschaft im Abendland.


Heute leben etwa 800.000 Menschen mit Epilepsie in Deutschland. Sie haben zwar gelegentlich noch mit Vorurteilen aus „alter Zeit“ zu kämpfen, bekommen jedoch dank der stetigen Entwicklung der medizinischen Wissenschaft eine gute medizinische Versorgung und führen ein fast normales Leben.  
 
Kristin Nahrmann, Rheda-Wiedenbrück