Kranksein und Krankenhaus

Erfahrungen mit Sebastian

Seit Herbst vergangenen Jahres beobachteten wir alle, dass sich das Gangbild unseres Sohnes zunehmend verschlechterte. Trotz physiologischer Therapie war keine Veränderung sichtbar. Die Wohnheimleitung zeigte sich zunehmend besorgter – dann ein Anruf aus dem Wohnheim: „Wir können die Verantwortung nicht mehr übernehmen! In welche Klinik soll Sebastian?“

Wir suchten in der Neuropädiatrie Vogtareuth Rat. Dort kennt man Sebastian seit 11 Jahren und der epilepsiekompetente Kinderarzt sah einen Zusammenhang zwischen seiner Epilepsie und dem zunehmend auffälligen Gangbild. Sebastian wurde stationär aufgenommen und auf ein neues Medikament eingestellt. Sein Allgemeinzustand verbesserte sich, nach vier Wochen wurde er entlassen, allerdings mit der ganz klaren Aussage, ihn nicht wieder aufnehmen zu können. Zukünftig könne nicht berücksichtigt werden, dass Sebastian hier bekannt sei mit seiner schweren therapieresistenten Epilepsie, er sei 20 Jahre alt und in der Pädiatrie habe man keine Möglichkeit mehr, seinen stationären Aufenthalt zukünftig abzurechnen. Das nahmen wir zur Kenntnis, noch unwissend welche Auswirkungen diese Aussage für uns haben sollte.

Sebastian ging zurück ins Wohnheim, es sah zunächst so aus, als habe sich mit der neuen Medikation alles zum Positiven gewendet.

Im Sommer schließt die Einrichtung, in der er zuhause ist, für vier Wochen. Sebastian wollte die ersten beiden Wochen bei uns verbringen, die zweite Hälfte mit seiner Freundin in der Toskana. Schon in den ersten Tagen merkte ich, dass es ihm nicht gut ging, wieder zeigte sich eine große Gangunsicherheit, er schwankte, hatte erneut Gleichgewichtsstörungen, seine Beine trugen sein Körpergewicht nicht mehr. Wir waren ratlos.

Der niedergelassene Neurologe empfahl dringend einen erneuten stationären Aufenthalt. Im Rahmen einer umfangreichen Diagnostik sollte nun festgestellt werden, was die Ursache für die Gangproblematik war. Er setzte sich dafür ein, dass unser Kind in einer neurologischen Klinik in München aufgenommen wurde. Die umfangreiche Diagnostik ergab, dass es sich um eine Medikamentenunverträglichkeit handeln müsse, alle anderen vermuteten Krankheitsbilder konnten mit Sicherheit ausgeschlossen werden.

Foto: SebastianSebastian saß inzwischen im Rollstuhl, er konnte gar nicht mehr gehen. Er nahm seine Situation mit großer Gelassenheit hin, benahm sich vorbildlich, alle Untersuchungen machte er mit und waren sie auch noch so aufwendig, anstrengend oder gar schmerzhaft. Ich habe ihn sehr bewundert.

Nun galt es eine Fachklinik für Epileptologie zu finden, in die Sebastian verlegt werden konnte. Nochmals ein Anlauf in Vogtareuth - vergebens. Sebastian Zustand verschlechterte sich weiterhin gravierend. Im nahe gelegenen Universitätsklinikum nahm man ihn nicht auf. Man erklärte mir, dass bei Sebastian ein längerer Klinikaufenthaltaufenthalt erforderlich sei, auch aufgrund der geistigen Behinderung. Eine Verweildauer von mehr als sechs max. acht Tagen könne aber nicht abgerechnet werden. Die großen Epilepsiezentren sprachen auch bei Akutfällen von einer Mindestwartezeit von drei Monaten. Uns war klar, dass Sebastian keine 3 Monate mehr warten konnte. Er würde dann den Rollstuhl mit Sicherheit so schnell nicht mehr verlassen.

Wir Eltern waren verzweifelt. Unser Haus war nicht barrierefrei, seine Einrichtung keine Pflegeeinrichtung! Was würde nun werden? Sorgen und eine große Hilflosigkeit beanspruchten jeden Winkel unseres Alltags.

Zu der großen Sorge um die Gesundheit unseres Kindes kam jetzt noch, dass es keine epilepsiekompetente Klinik gab, die ihn aufnehmen wollte. Nicht im Entferntesten haben wir uns vorstellen können, jemals in eine solche Situation zu kommen und bei akuter Erkrankung kein Krankenhaus für Sebastian zu finden.

Beim Schreiben dieser Zeilen liegen diese Ereignisse schon Monate zurück und trotzdem überfallen mich Wut und tiefe Verletztheit, die ich kaum in Worte fassen kann. Es war – es ist – einfach unvorstellbar: Eine akut notwendige, ja dringend erforderliche medizinische Versorgung ließ man unserem Sohn aufgrund wirtschaftlicher Überlegungen nicht zuteil werden.

Wir hatten Glück:
Über den Landesverband Epilepsie Bayern ergab sich der Kontakt zu der Neurologischen Klinik in Rummelsberg. Am Telefon schilderte ich unsere Situation und wir konnten Sebastian am nächsten Tag dort hinbringen lassen.

Gleich bei der Aufnahme fragte ich nach der „Verweildauer-Regelung“. Man beruhigte mich, denn hier hatte man für solche Patienten Sonderkonditionen mit der kassenärztlichen Vereinigung ausgehandelt. In Rummelsberg wurde Sebastian nicht nur von ärztlicher Seite kompetent behandelt, sondern auch die pflegerische Betreuung ihm gegenüber war sehr zuvorkommend und aufgeschlossen.

Sebastian teilte dort mit drei weitern Patienten das Zimmer. Erstaunt und zweifelnd nahm ich bei seiner Aufnahme zur Kenntnis, dass man diese Situation extra für ihn so gewählt hatte. Im Nachhinein betrachtet war es richtig. Er hatte mit den Bettnachbarn soviel Abwechslung, wurde mitbetreut, wenn ich am Abend ging, man schaute nach ihm und bot ihm bei Bedarf Hilfe an, holte die Schwester bei Anfällen etc. Von den gemeinsamen Fernseh- Fußballabenden erzählt er heute noch.

Die Ärzte waren auch hier sicher, dass die Symptome, die Sebastian zeigte, mit der Unverträglichkeit eines Präparates im Zusammenhang standen. Diese Tabletten nahm er schon seit 15 Jahren. Sebastian wurde auf ein weiteres Medikament eingestellt, ein anderes wurde “ausgeschlichen“. Mit der neuen Medikation und sehr viel an physiotherapeutischer Behandlung konnte Sebastian bald wieder für kurze Wegstrecken den Rollstuhl verlassen. Nach 5 Wochen wurde er entlassen, mit dem Angebot einer ambulanten Betreuung und der Zusage, dass er im Notfall immer wieder stationär aufgenommen werden könnte. Wir waren glücklich.

Inzwischen bewegt sich unser Sebastian wieder selbstständig, er hat wieder Freude an Bewegungsaktivitäten gefunden, sein Gangbild ist immer noch nicht so wie früher, aber wir sind zuversichtlich. Er lebt wieder in seiner Einrichtung.

Einige Monate sind seitdem vergangen. Sebastian hat vermehrt Anfälle, die bisher durch die „alte“ Medikation verhindert wurden. Leider ist die Einstellung seiner Epilepsie immer noch nicht optimal. Er trägt einen Sturzhelm, der schlimme Kopfverletzungen verhindert. Zu beobachten, dass die Anfallfrequenz sich verringert stimmt uns optimistisch. Wir haben das Angebot der Klinik angenommen und Sebastian wird nun in der Anfallsambulanz Rummelsberg in enger Anbindung mit dem niedergelassenen Neurologen in München betreut. Wir fühlen uns hier gut mit unserem Sohn aufgehoben.

Es war eine sehr schwere Zeit für uns. Immer steht für uns die Frage im Raum, warum es in einer Stadt wie München keine medizinisch epilepsiekompetente stationäre Möglichkeit für einen Menschen wie Sebastian gibt, der aufgrund seiner schweren Epilepsie und geistigen Behinderung eine Fachklinik braucht, die ihn auch für eine längere Zeit stationär aufnimmt.

Und zugleich treten Fragen in den Vordergrund wie: Wer kann das leisten, wenn wir Eltern es nicht mehr können? Wer wird ihn dann betreuen? Wie wäre der akute Notfall denn ausgegangen ohne das Engagement von uns Eltern?

M. Meyer-Brauns, München
Mutter eines geistig behinderten Sohnes mit Epilepsie