Auf dem Weg in die eigene Wohnung:

Ein Gespräch mit Herrn Tim Kröger - Bewohner des Wohnverbundes Junge Erwachsene im Epilepsie-Zentrum Bethel

Tim Kröger ist jetzt häufiger mal allein. Ganz bei sich. Bei sich zu Hause. „Das tut gut“, erklärt der 25-Jährige. „Hier komme ich zu mir selbst.“ Und das ist für ihn wichtig, denn er muss mit einer Krankheit leben. „Oft habe ich das Gefühl, dass es weniger die Epilepsie ist, die mir das Leben schwer macht. Meistens empfinde ich die Umstände als die eigentliche Behinderung. Hier, in meinem Appartement, finde ich die richtigen Umstände. Da kann ich lernen, gut für mich zu sorgen.“ Er hält kurz inne: „Es ist höchstens mal ein bisschen langweiliger als früher“. Früher, das ist die Zeit, in der er im Haus Fernsicht lebte. In Bethel bei Bielefeld. Als Bewohner in einer der Wohngruppen des Wohnverbund Junge Erwachsene (WJE) in den von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. „Da war immer was los. Da war ich nie alleine.“

Seit mehr als 20 Jahren hat sich der WJE zum Ziel gesetzt, jungen Menschen mit Epilepsie Brücken in die Welt zu bauen, und ihnen für eine begrenzte Zeit die Möglichkeit zu eröffnen sich auszuprobieren. Zusammen mit anderen jungen Menschen mit Epilepsie. Oft in Fällen, in denen andere Maßnahmen nicht mehr greifen konnten. In den Wohngruppen Fernsicht und Sichem in Bethel werden die jungen Bewohner rund um die Uhr betreut. Von Pädagogen, Medizinern und Psychologen, die sich in einem Höchstmaß auf die Epilepsie spezialisiert haben. In einer Wohngruppe dieser Ausprägung erleben junge Menschen oft zum ersten Mal Solidarität in Bezug auf ihre Krankheit. Sie lernen, dass es noch andere Menschen gibt, die mit der Diagnose Epilepsie leben müssen. Und damit leben können. Das stärkt. „Das Zusammenleben mit Anderen ist für viele bestimmt sehr wichtig“, räumt Tim Kröger ein. „Ich fühlte mich dort aber irgendwann mal eingeengt. Es war ja so, dass ich mit 13 Jahren krank wurde“, erklärt der 25-Jährige. „Das heißt die Hälfte meines Lebens habe ich gelebt wie jemand, der mit Epilepsie nichts zu tun hatte. Ich war Gesamtschüler mit guten bis sehr guten Noten. Dann erst wurde ich krank. Die ersten 12 Jahre kann ich nicht vergessen. Sie haben mich geprägt. Ich kann doch nicht so leben, als hätte ich diese Erfahrungen nie gemacht.“

So machte er seinen Weg im WJE, ganz individuell. Die Rundumversorgung, bei all ihren Vorteilen, kam ihm nach einiger Zeit vor wie Kontrolle. Die Perspektive, in dieser Situation bleiben zu müssen, konnte dann keine fruchtbare mehr für ihn sein. „Ich wollte mehr und ich kann mehr als manche, denen ich dort begegnet bin. Es fällt mir wirklich schwer, das so zu sagen. Aber so war es für mich.“ Für manch andere ist es anders. Jeder Bewohner nutzt im WJE diese 3 Jahre wie er es vermag. Einige wechseln später in andere Einrichtungen in Bethel oder wieder in die Heimatregion.

2007 kam Tim Kröger nach Bethel. Zuvor lebte er bei seiner Mutter. Als sich die Anfälle häuften und das Risiko unkalkulierbar wurde, schien eine stationäre Maßnahme unausweichlich. „Vorher war ich voll fit. Trotz der Krankheit habe ich eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich begonnen. Bis ich in den WJE, in Haus Fernsicht, einziehen konnte.“ Dort wurden eine aufwändige Diagnostik und eine langwierig angelegte medikamentöse Einstellung vorgenommen. Tatsächlich fand der junge Patient in der Wohngruppe von Haus Fernsicht seine Sicherheit zurück. Er fand in Bethel in eine Arbeit hinein, die ihm heute großen Spaß macht und die ihm Perspektiven eröffnet. Mittlerweile hat er sich auch entschlossen, seine Zukunft in Bielefeld zu gestalten. Möglichst in einer eigenen Wohnung, ambulant betreut. „Die eigene Wohnung war immer mein Wunsch. Klar, dass ich da höchst erfreut war, als man mir in Haus Fernsicht das Angebot machte: „Wir haben da ein Appartement. Willst Du mal versuchen, allein dort zu wohnen?“

Nun ist der Traum von einer eigenen Wohnung leicht geträumt. Die Wohnung besteht aber nicht in einem Traum, der sich auflösen würde, sobald es schwierig wird. Eine Wohnung verlangt Pflege und Organisation. Sie räumt sich nicht selbsttätig auf, und sie stellt auch nicht automatisch soziale Kontakte her. „Ich wusste, dass das alles nicht einfach würde. Schon im Vorfeld. Aber ich hatte den festen Willen, es zu schaffen. Und ich habe es geschafft!“

Den festen Willen hat er immer noch. Jetzt hat er auch noch den Schlüssel. Den Schlüssel für das Appartement, das der WJE ihm zur Verfügung stellt, in dem er immer noch mit der Einrichtung verbunden bleibt. Die Betreuerin sitzt zwar nicht mehr im Nebenraum, der Arzt ist mehr als ein paar Schritte weint entfernt. Doch der Bezug ist geblieben, trotz der größeren Entfernung.
Das Appartement liegt ein paar Autominuten weit von Bethel entfernt. In Bielefeld-Quelle. Der Ortsteil mit dem erquicklichen Namen ist verkehrstechnisch und infrastrukturell bestens angebunden. In dem weitläufigen Appartementhaus, in dem Tim Krögers Wohnung liegt, unterhält der WJE vier einzelne Wohnungen. Schon beklagt sich der junge Mann: „Wenn ich mal Betreuung brauche, dann steht sie gerade nicht zur Verfügung.“ Aber so gehört sich das wohl, wenn man flügge wird. Die Situation, in der sich Tim Kröger befindet, ist schließlich keine „Als ob“ - Situation. Autonomie und Selbstverantwortung werden hier nicht simuliert. Sie werden erprobt, erlebt in einer kalkulierten Ernstsituation, die durch ein genaues Risikomanagement abgesichert ist. Es ist eine „Was wäre, wenn?“ - Situation: Was wäre, wenn Tim Kröger allein, mit ambulanter Betreuung, hier leben würde: Jetzt steht die Betreuerin des WJE immer noch in engem Kontakt zu dem Patienten. Sie schätzt ein, wie es um die Fähigkeit des jungen Mannes bestellt ist, sich um sich selbst zu kümmern. Wie es ihm gelingt, den Alltag zu strukturieren. Klar wird schon, dass es keinen Zweifel geben kann an Tim Krögers Fähigkeit, ein selbstständiges Leben zu führen. Was zurzeit hauptsächlich noch fehlt, ist die medizinische Klarheit,  die Sicherheit, dass er mit größtmöglicher Anfallsfreiheit wird leben können.

Dann geht es hinaus in die Welt. Tim Kröger kennt das im Wesentlichen: Er arbeitet als Verkäufer an der Backtheke in einem kleinen Supermarkt. Er geht gerne dorthin. „Da sehe ich dann ja, was ich kann und wer ich bin.“ Er wird wieder ein wenig nachdenklich: „Da muss ich dann mit den konkreten Schwierigkeiten fertig werden, die meine Krankheit mit sich bringen.“ Er erinnert sich an einen Vorfall aus der letzten Zeit, den er noch verarbeiten muss. „Ich habe in dem Supermarkt eine Zeitlang an der Kasse gearbeitet. Dann sollte ich woanders hin. Mit der Begründung, dass ich Anfälle bekomme.“ Der junge Mann hatte an seinem Arbeitsplatz bislang nie Einschränkungen erfahren, die mit seiner Krankheit zusammenhingen. „Da merke ich dann, dass ich mit anderen verglichen werde und dabei oft nicht gut abschneide. Das ist schwer zu ertragen. Das ist fast das Schwierigste an der Krankheit.“

Die Wohnung schafft ihm dabei Trost und Hilfe. „Wenn ich hier angekommen bin, dann komme ich zur Ruhe. Dann hört das Messen und Vergleichen auf. Wenn ich alleine bin, setzte ich mir meine eigenen Maßstäbe. Dann kann ich ermessen, wie viel ich geschafft habe. Die Wohnung gibt mir Kraft und Selbstbewusstsein, weiter zu kämpfen.“ Die Wohnung wird ihm zur Brücke in die Welt. „Eine Brücke, auf der ich jetzt seit anderthalb Jahren lebe. Wobei es mir so vorkommt, als wären es schon zehn.“ Er hat nicht vor, sich auf dieser Brücke einzurichten.

„Das hier ist nicht meine eigene Wohnung“, betont er. „Da bin ich pingelig! Meine eigene Wohnung ist die, die ich selbst anmiete und die ich selbst finanzieren werde. In die ich meine eigenen Möbel stellen werde, ganz nach meinen eigenen Vorstellungen.“ Dieser Traum wird mit großer Wahrscheinlichkeit bald in Erfüllung gehen, wenn die Anfallsituation stabil bleibt. Den Schlüssel zu dieser Zukunft hält er vielleicht bald in Händen. Den Schlüssel zu seiner eigenen Wohnung, nach der er sich gemeinsam mit der Betreuerin auf die Suche begibt und damit einen Umstand schaffen will, der für ihn ideal erscheinen muss. Ein Zustand, so stationär wie nötig, so ambulant wie möglich.


Bernd Kegel,
Dipl. Sozialarbeiter und freier Journalist

 

Kontakt:

Von Bodelschwingsche Stiftungen Bethel
Stiftungsbereich Behindertenhilfe Bethel
Wohnverbund Junge Erwachsene
Regionalleitung
Manfred Knoop
Telefon 0521 144 3664
E-Mail knoop(at)bethel.de

Bilder: Quelle WJE, Bethel