„Einen normalen Alltag gibt es nicht.“
Wie Eltern von chronisch kranken Kindern ihre Situation erleben
Ob Asthma, Epilepsie, Krebserkrankungen oder Rheuma im Kindesalter, alle diese Krankheiten haben gemein, dass sie den Alltag der betroffenen Kinder und ihrer Familien auf den Kopf stellen. Die Familien sehen sich konfrontiert mit existentiellen Fragen aber zugleich auch mit alltägliche Fragen wie: Wer betreut morgen das Geschwisterkind? Welche Schulform ist die richtige? Kann unsere Tochter in den Regelkindergarten? Wer hilft uns im Haushalt? Schafft mein Kind den Schulabschluss und bekommt es einen Ausbildungsplatz?
Im Rahmen meiner Dissertation wurden dazu 25 Familien mit chronisch kranken Kindern befragt. Das Krankheitsspektrum reichte von Asthma über Diabetes, Epilepsie und Rheuma, lebensbedrohlichen Krebs- oder Herzerkrankungen, körperlichen Behinderungen wie Spina Bifida bis zu Kindern mit der häufigsten angeborene Stoffwechselerkrankung, der zystischen Fibrose. Im Vordergrund für die Auswahl der Familien stand nicht die Frage der Pflegebedürftigkeit oder des Schweregrads der Erkrankung, sondern das Vorhandensein der Erkrankung selbst und die Auswirkungen auf die Familie. Das Alter der betroffenen Kinder lag zwischen 6 Monaten und 22 Jahren.
Der Zeitraum der Diagnosestellung
Insbesondere den Zeitraum der Diagnosestellung beschreiben viele Eltern als den einschneidendsten und existentiellen Moment. Gegenwarts - und Zukunftsängste wie Hilflosigkeit, innere Leere, Frustration, Angst vor Behinderung sowie Selbstmitleid und Isolation wechseln mit massiven Schuldgefühlen des „Vererbens“ bei genetisch bedingten Erkrankungen. Eine Mutter erzählt ihre Reaktion auf die Diagnose bei ihrem ungeborenen Kind:
„Ich weiß auch nicht, die hat uns dann da alleine stehen lassen (…) Ja, gut, da hatten wir dann die Hiobs-Botschaft und waren total fertig. Sind dann nach Hause und sind dann halt ganz tief gefallen und hatten ganz große Angst. Haben dann versucht, beide am nächsten Tag zu arbeiten. Haben es aber nicht geschafft“.
Die Diagnose kann aber ebenso als Erleichterung erlebt werden, da die Suche nach einer Antwort ein Ende hat und die Behandlung endlich beginnen kann.
Insbesondere Ängste vor dem Tod des Kindes gehören zu den herausragenden Stressfaktoren, die durch Schwankungen im Gesundheitszustand des Kindes verstärkt werden.
Organisation des Alltags
Aus Sicht der Eltern ist die Organisation des Alltags eine der größten Herausforderungen. Die Pflege und die Betreuung des Kindes nimmt neben den Arztbesuchen, den Therapien und Behördengängen viel Zeit in Anspruch. „Einen normalen Alltag gibt es nicht“ berichten viele Mütter und erzählen, dass das „normale Familienleben“ durch notwendige Krankenhausaufenthalte, akute und oft unvorhersehbare Ereignisse immer wieder unterbrochen wird. „Einfach mal die Beine hochlegen“ ist nicht möglich. Die subjektive Mehrbelastung zeigte sich in einer Untersuchung von Eltern mit an Diabetes mellitus erkrankten Kindern umso höher, je jünger das Kind zum Zeitpunkt der Diagnose war. Vor allem bei Kindern unter sechs Jahren wurde die durchschnittliche Belastung der Mütter höher als die der Väter eingestuft. Bei allein erziehenden Elternteilen sind die Grenzen der Belastbarkeit schon früher erreicht. Die Belastungen werden mit einem „Fulltimejob“ verglichen, an den Wochenenden noch dadurch verstärkt, dass die Kinder keine Betreuungseinrichtung besuchen. Zusätzlich sehen sich die Betroffenen mit finanziellen Problemen konfrontiert, wenn ein Elternteil aufgrund der Erkrankung des Kindes die Berufstätigkeit aufgeben muss. Als Begründung für den Rückzug aus dem Berufsleben wird u.a. die mangelnde Betreuungsmöglichkeit des Kindes bzw. die geforderte ständige Erreichbarkeit eines Elternteils durch Kindergärten und Schulen angegeben. Die Eltern erleiden nicht selten ein „Burn-out-Syndrom“ als Folge der anhaltenden Beanspruchung. Als Unterstützung wird in erster Linie die Hilfe durch den Lebensgefährten und das soziale Netz gesehen. Ohne Unterstützung durch die Verwandtschaft oder gute Freunde ist die Organisation des Alltags oft nicht möglich.
„Mein Mann musste weiterarbeiten, da wäre es ohne Omas nicht gegangen.“
Hinzu kommen Einschränkungen der eigenen Freizeit, Vernachlässigung der Partnerschaft und der nichterkrankten Geschwister. Eine befragte Mutter antwortete auf die Frage nach den Auswirkungen der Erkrankung ihrer Tochter auf ihre Partnerschaft:
„Ich kann verstehen, dass viele Ehen kaputt gehen, wir habe gerade noch einmal die Kurve gekriegt (…) einfach weil man als Paar gar nicht mehr da ist.“
Dennoch steht gerade der Wunsch nach Normalität bei den meisten Familien im Vordergrund. Diese Normalität drückt sich in sehr alltäglichen Dingen aus, wie die Hobbies weiterführen zu können.
„Man kann nur hoffen, die Dialyse hält ihn so fit, dass er mit seinen Kumpels weiter Hockey spielen kann…Hockey-Spielen heißt, er ist eben im normalen Leben.“
Normalität trotz chronischer Erkrankung bedeutet für Familien mit chronisch kranken Kindern, sich so zu verhalten, wie andere Kinder im gleichen Alter. Wichtig ist auch der Umgang mit gesunden Gleichaltrigen, der Besuch eines Regelkindergartens oder Regelschule und nicht die ständige Konfrontation mit den Auswirkungen der Erkrankungen.
Der ständige Kampf im Umgang mit Institutionen und Behörden
Diesem Wunsch nach Normalität nachzukommen werden leider nur allzu oft Steine in den Weg gelegt dadurch, dass die Eltern um ihre Rechte „kämpfen“ müssen. Fast alle Elternteile berichteten von negativen Erfahrungen mit Kindergärten, Schulen, Kranken- und Pflegekassen. Die Hoffnung auf einen Platz in einem Regelkindergarten oder Regelschule wir oft zerschlagen. Dazu erzählt mir eine Mutter:
„Ja und auch mit der Schule, da habe ich Sachen erlebt, da habe ich gedacht, das sollte man echt an die Zeitung verkaufen. Ich rufe im Schulamt an und sage: Ich habe ein behindertes Kind, wie gehe ich damit vor bei der Einschulung? „Da kann ich ihnen auch nicht weiterhelfen!“ Da habe ich mir gedacht, das ist das Schulamt, was machen die eigentlich, wenn solche Fragen nicht beantwortet werden können. „Wer kann mir das denn beantworten?“
Problematisch ist für die Eltern oft die Begutachtungspraxis im Rahmen der Einstufung für die Leistungen der Pflegeversicherung ihrer Kinder.
Häufige Widersprüche gegen das Begutachtungssystem werden auf die nicht vorhandene Unterscheidung im Gutachterbogen zwischen Kindern und Erwachsenen zurückgeführt. Eine Mutter fasst ihre Erfahrungen im Umgang mit der Pflegebegutachtung und dem damit verbundenen bürokratischen Aufwand so zusammen:
„Sie müssen seitenlange Belege ausfüllen. Das sind alles Belege, die man ausfüllt, die alle eigentlich für alte, inkontinente Menschen sind, mal hart gesagt. Keine einzige Frage hat was mit einem Kind zu tun. Man liest es sich aber alles durch, weil man ja nichts falsch machen möchte. Sie haben ja einen solchen Wust an Papier und eigentlich hätte es gereicht, oben den Namen und die Anschrift und den Namen der Eltern anzugeben, die schließlich unterschreiben. Alles andere betrifft alte Menschen, nicht kranke Kinder (…). Das sind so Dinge, die machen einen bei so einer Krankheit mürbe. Sie haben auch keine Lust mehr etwas zu beantragen.“
Die Datengrundlage, die für die Festlegung des Pflegebedarfs eines chronisch kranken oder behinderten Kindes im Vergleich zu einem gesunden Kind herangezogen wird, basiert nicht auf wissenschaftlichen Ergebnissen. Eine individuelle, bedürfnisorientierte Pflegebegutachtung von Kindern findet nicht statt. Die Entwicklung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und Begutachtungssystems, das der besonderen Situation von Kindern und Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, kognitiven und psychischen Beeinträchtigung gerechter wird als bislang, ist bereits in Auftrag gegeben worden und liegt der Bundesregierung zur Entscheidung vor.
Unterstützung der Familien
In den sechziger und siebziger Jahren konzentrierten sich die Arbeiten auf „negatives oder dysfunktionales elterliches Verhalten“ als Reaktion auf ein Kind mit einer chronischen Krankheit. Die Annahme, dass die zuvor beschriebenen Emotionen der Eltern zu verzerrten Betreuungspraktiken führen, wurde revidiert. Viele Familien entwickeln gerade in einer solch schweren Zeit ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl und nicht selten reifen Beziehungen an der zu bewältigenden Aufgabe.
„Ich denke mal, wir meistern das irgendwie. Ist manchmal nicht ganz einfach, aber 12 Jahre haben wir schon geschafft.“
Normalität im Alltag anzustreben ist das oberste Ziel der Familien. Normalisierung meint, das Familienleben und die gesellschaftlichen Folgen der Krankheit als alltäglich zu betrachten und Strategien zu entwickeln, die dem Kind ein möglichst normales und altersgerechtes Leben ermöglichen. Das Leben des Kindes und der Familie soll wie bei anderen Kindern verlaufen und die Beteiligten wünschen sich unabhängig von fremder Hilfe zu sein. Die Eltern sind darauf bedacht, Informationen zu bekommen, die die Familie entlasten und die Möglichkeiten für das kranke Kind optimieren. Alle professionellen Unterstützungssysteme sollten ihre Beratungsangebote daraufhin ausrichten. Bislang stoßen Eltern von chronisch kranken Kindern nur durch Zufall auf die richtigen Angebote. Manchmal ist es der behandelnde Arzt, die engagierte Pflegefachkraft, die Physiotherapeutin, oft andere betroffene Eltern, die den Familien in ihrer Not zur Seite stehen, konstruktive Hilfe organisieren oder wertvolle Tipps geben.
Selbsthilfeorganisationen wie der Epilepsie Bundes-Elternverband oder die regionalen Selbsthilfegruppen sind häufig erste und wichtige Anlaufstellen. Es gibt zahlreiche Informationsbroschüren und Internetseiten, die eine erste Orientierung geben können. Wichtig aus Sicht der Betroffenen ist jedoch „Hilfe aus einer Hand“, die schon vor oder in Verbindung mit der Diagnosestellung angeboten wird und alle Informationen zusammenführt. Diese Hilfe sollte die Eltern je nach Bedarf engmaschig begleiten und für alle Fragen ansprechbar sein.
Die Bedürfnisse, Ängste und Fragen der Eltern verändern sich im Laufe der Erkrankung. Die Eltern entwickeln, bedingt durch die Versorgung ihres Kindes, eine Expertise im Umgang mit ihrem Kind, den Besonderheiten der Erkrankung sowie mit anderen Experten und mit Behörden. Sie wünschen sich eine entsprechende individuelle und wertschätzende Begleitung und Beratung in gesundheitlicher, erzieherischer und sozialrechtlicher Richtung.
Begleitende und vor allem niederschwellige professionelle Hilfe kann die Familie bei den Auswirkungen einer lebenslangen Krankheit unterstützen. Im Vordergrund dieser professionellen Unterstützung stehen pragmatische Lösungen, die der Familie einen selbständigen Umgang mit der Situation ermöglichen. So drückt eine Mutter ihren Wunsch nach Wertschätzung und Begleitung im abschließenden Zitat aus:
„Einfach ein bisschen mehr auch an die Eltern denken. Denn nicht nur das Kind ist krank, sondern auch die Eltern.“
Sandra Bachmann
Kontakt:
Sandra Bachmann,
Kinderkrankenschwester, Dipl.- Pflegewissenschaftlerin
Doktorandin am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Witten/Herdecke
Jürgen-von-Manger-Str. 14
44627 Herne
E-Mail: sbherne1(at)gmx.de